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Wie viel Krippe ist gut für unsere Kinder?

Mutter und Tochter malen
© Yuganov Konstantin / Shutterstock
Alle fordern mehr Kita-Plätze, doch viele berufstätige Frauen hadern mit ihrem schlechten Gewissen. Sollten kleine Kinder lieber nur bei den Eltern aufwachsen als in der Krippe? Nein, meint der Kinderarzt Remo H. Largo.

Die Kita-Streiks haben ein Ende: Nach monatelangem Streit einigten sich Gewerkschaften und Arbeitgeber heute darauf, dass Erzieherinnen und Erzieher künftig Anspruch auf durchschnittlich 120 Euro mehr Gehalt und einen besseren Gesundheitsschutz bekommen. Damit ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer besseren Kinderbetreuung getan. Eigentlich ein Grund zur Freude für die berufstätigen Mütter in Deutschland. Und trotzdem haben viele Frauen, die ihre Kinder fremd betreuen lassen, immer noch ein schlechtes Gewissen. Warum das wirklich unbegründet ist, erklärt der renommierte Schweizer Kinderarzt Remo H. Largo.

BRIGITTE.de: Herr Professor Largo, warum sind Krippen so gut?

Remo H. Largo : Weil ein Kind für seine soziale Entwicklung nicht nur eine, sondern mehrere Bezugspersonen braucht. Und es braucht vor allem andere Kinder - jeden Tag für mehrere Stunden. Kleinkinder spielen gemeinsam das Leben durch, das ist ihre Hauptbeschäftigung. Das kann auch die beste Mutter nicht leisten. Wenn man sich die Situation zu Hause vergegenwärtigt, ich karikiere jetzt, dann hat man da eine Kleinfamilie mit ein bis zwei Kindern. Die Mutter ist die einzige Bezugsperson, der Vater kaum verfügbar. Kinder kommunizieren aber bereits im zweiten Lebensjahr sehr viel und richten sich aufeinander aus. Wir Eltern wünschen uns, dass sich unsere Kinder empathisch verhalten. Empathie aber können Kinder nur im Umgang mit anderen lernen. Wie wichtig eine kindgerechte Umgebung ist, zeigen neuere Studien deutlich: Die Kinder, die in eine gute Krippe gehen, sind mit fünf Jahren sprachlich und sozial weiter. Und eine aktuelle Untersuchung, die Schweizer Forscher im Auftrag der Bertelsmann Stiftung in Deutschland durchgeführt haben, kommt zu dem Ergebnis, dass der Anteil der Gymnasiasten bei Krippenkindern höher ist als bei den Kindern, die in der Familie aufwachsen. Es geht also nicht mehr nur um die Betreuung, sondern mindestens so sehr um die Entwicklungserfahrungen, die für ein Kind in den ersten Lebensjahren bereitgestellt werden. Und es geht um die Frage, ob mein Kind benachteiligt ist, wenn ich es zu Hause lasse - und nicht mehr um die Stellung der Mutter.

BRIGITTE.de: Und doch ist die Mutter die zentrale Figur: Krippengegner sagen, dass die Bindung des Kindes zur Mutter das Fundament seiner Persönlichkeitsentwicklung ist.

Remo H. Largo: Bindung ist eine Zeitfrage: Das Kind bindet sich an die Personen, die ihm vertraut sind und es versorgen, und nicht vorzugsweise an die Mutter - sonst wäre die Menschheit längst ausgestorben. Und Bindung hat wenig mit Qualität zu tun: Auch ein Kind, das vernachlässigt oder misshandelt wird, bindet sich an seine Bezugspersonen. Urvertrauen hingegen entsteht, wenn ein Kind Zuwendung bekommt und seine Bedürfnisse befriedigt werden, es also gestreichelt, gefüttert und gewickelt wird. Wenn sich seine Bezugspersonen feinfühlig verhalten, glaubt das Kind, dass diese Welt gut ist.

BRIGITTE.de: In Deutschland ist für dieses Gute-Welt-Gefühl in den meisten Fällen allein die Mutter zuständig...

Remo H. Largo : ... und damit häufig überfordert. Schon im ersten Lebensjahr können sich Kinder, wenn auch individuell unterschiedlich, auf verschiedene Bezugspersonen einstellen. Das hat die Natur so eingerichtet, weil nicht jede Mutter in der Lage ist, für ihr Kind zu sorgen - in der Vergangenheit starben viele Frauen im Kindsbett. Die Mutter als Alleinbetreuerin ist ein Artefakt, der nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist und behauptet: Die Mutter kann am besten für das Kind sorgen und alle Mütter schaffen das nicht nur, sondern machen es auch noch mit Begeisterung. Das trifft aber nur auf einen Teil der Mütter zu. Bei der ganzen Debatte wird ja sehr häufig vom Kindswohl gesprochen - oft ohne das Wohl des Kindes zu meinen. Und auch ohne zu fragen: Was ist gut für die Mutter?

BRIGITTE.de: Also: Was ist gut für die Mutter?

Remo H. Largo: Wenn wir den Muttermythos endlich aufgeben. Wenn man zurückschaut auf die letzten Jahrtausende, dann sieht man, dass die Mutter in der Kinderbetreuung immer unterstützt wurde und niemals ausschließlich auf die Fürsorge ihrer Kinder festgelegt war. Sie musste neben der Kinderbetreuung auf vielfältigste Weise zum Überleben der Familie beitragen. Und das ist für das psychische Wohlbefinden der Mütter immer noch wichtig, wie aktuelle Studien zeigen: Wir haben in Zürich Mütter von Vorschulkindern befragt, die ausschließlich für ihre Kleinkinder da sind, also nicht arbeiten gehen. Fast die Hälfte der Mütter war offensichtlich oder latent depressiv.

BRIGITTE.de: Warum sind diese Frauen überfordert?

Remo H. Largo: Weil wir in unserer Gesellschaft von einem undifferenzierten, absoluten Fürsorgebegriff ausgehen. Die Bereitschaft zur Fürsorge ist bei Frauen - und natürlich auch bei Männern - unterschiedlich ausgeprägt, ebenso wie auch die Körpergröße oder musisches Talent unterschiedlich verteilt sind. Es gibt Frauen, die gehen in der Fürsorge völlig auf. Für sie ist die größte Befriedigung, für ihre Kinder zu sorgen. Diese Bereitschaft verdient eine hohe Wertschätzung. Aber es stimmt einfach nicht, dass alle Frauen so fürsorglich sind. Die Fürsorge wird in unserer Gesellschaft immer noch hoch stilisiert zum Lebenssinn und zur Hauptaufgabe der Frau, sie wird zum Dogma, zu einer Ideologie, die den meisten Frauen nicht gerecht wird. Wenn diese Frauen mit ein bis zwei Kindern allein zu Hause sitzen, fühlen sie sich schlecht. Dabei ist ihre Reaktion verständlich, denn ihnen fehlt etwas: Befriedigung und soziale Kontakte, die sie bislang durch ihre Arbeit erfahren haben. Arbeit und Beziehungen stärken bei Frauen und Männern das Selbstwertgefühl. Der Verlust von Arbeit bedeutet daher fast immer einen Verlust an Selbstwertgefühl. Viele Frauen verkümmern, wenn sie sich ausschließlich um ihre Kinder kümmern, sozial isoliert sind und ihre anderen Interessen und Begabungen nicht mehr leben dürfen.

BRIGITTE.de: Wenn sie aber diese Begabungen leben, kämpfen sie gegen das eigene schlechte Gewissen und die Sorge, dem Kind nicht gerecht zu werden. Und manche haben Angst, ihr Kind zu verlieren - weil es sich an neue Bezugspersonen bindet.

Remo H. Largo: Diese Frauen sollten wissen, dass bei der Betreuung zwei Voraussetzungen erfüllt sein müssen - egal, ob die Mutter, der Vater, eine Kinderfrau oder die Erzieherinnen einer Krippe für das Kind da sind: Qualität und Kontinuität. Mit Qualität ist gemeint, dass die körperlichen und psychischen Bedürfnisse des Kindes ausreichend befriedigt werden, mit Kontinuität, dass es stets mindestens eine vertraute Person um sich hat. Wenn sich das Kind dann an andere Personen bindet, ist dies kein Verlust, sondern ein Teilen. Die Eltern müssen akzeptieren, dass andere Personen auch gute Bezugspersonen für ihr Kind sein können. Sie dürfen nicht mit ihnen konkurrieren, sondern müssen sie unterstützen.

BRIGITTE.de: Was meinen Sie mit konkurrieren?

Remo H. Largo: Ein Beispiel aus meiner Praxis: Eine Geschäftsfrau wollte nach der Geburt ihres Kindes weiterarbeiten. Sie hat deshalb eine Kinderfrau eingestellt, die das Kind ausgezeichnet betreute. Dem Kind war es wohl, und es entwickelte sich wunderbar. Als es zwei Jahre alt war, realisierte die Mutter, dass nicht sie für das Kind die Hauptbezugsperson war, sondern das Kindermädchen. Das hat sie nicht ertragen. Sie entließ das Kindermädchen und stellte im Jahreswechsel Au-Pair-Mädchen ein. So wurde das Kind - relativ gesehen - emotional abhängiger von der Mutter. Für das Kind aber hatte sich die Situation entscheidend verschlechtert: Die Mutter war nach wie vor kaum verfügbar. Und mit den Au-pair- Mädchen konnte das Kind keine tiefe und kontinuierliche Bindungen aufbauen. Was die Mutter getan hat, ist eine Form von psychischer Kindsmisshandlung. Sicherlich passiert eine solche emotionale Benachteiligung nur selten in dieser ausgeprägten Form, aber sie kommt häufig abgeschwächt vor. Eine Mutter aber hat kein Monopol auf ihr Kind. Das heißt: Sie soll sich freuen, wenn ihr Kind nach dem Vater verlangt oder in der Krippe begeistert zur Erzieherin rennt. Das Wichtigste ist doch, dass es dem Kind gut geht.

BRIGITTE.de: In deutschen Krippen kommen auf eine Erzieherin im Schnitt 6,1 Kinder - ideal wären drei bis vier. Und auch das Ausbildungsniveau der Erzieherinnen ist erschreckend niedrig. Das notwendige Geld für den geplanten Krippenausbau aber ist anhand der gegenwärtigen Betreuungssituation berechnet worden. Es wird also mehr Krippen, nicht aber bessere Krippen geben. Was bedeutet das für die Kinder?

Remo H. Largo: Da habe ich gar keine Lust zu diskutieren. Die Frage, die die Gesellschaft beantworten muss, lautet: Wie viel ist uns eine gute - nicht nur Betreuung, sondern auch Entwicklung - unserer Kinder im Vorschulalter wert? Wenn wir bei der Ausbildung der Erzieherinnen und bei der personellen Ausstattung der Tagesstätten sparen, dann kommen die Kosten bei Problemkindern einfach später. Am deutlichsten sieht man das bei den Migrantenkindern.

BRIGITTE.de: Sollten alle Kinder in eine Krippe gehen?

Remo H. Largo: Ich glaube, dass wir davon abkommen müssen, die Eltern zu bevormunden. Ideal wäre, wenn der Staat den Eltern verschiedene Formen der Betreuung anbieten würde und es ihnen überließe, für was sie sich entscheiden. In Deutschlands und auch in der Schweiz wird immer noch sehr dogmatisch diskutiert: Da gibt es für alle nur einen Weg. Die Schweden machen es besser: Dort herrscht Wahlfreiheit. Die Eltern können in den ersten drei Jahren zu Hause bleiben, müssen es aber nicht.

BRIGITTE.de: Wenn wir diese Wahlfreiheit hätten: Würden dann mehr Kinder geboren werden?

Remo H. Largo: Ja. Die Frau hat heute dank Pille das erste Mal in der Menschheitsgeschichte die umfassende Entscheidungsmacht. Das führt dazu, dass viele Frauen das Schwangerwerden hinausschieben und sich beruflich engagieren. Weil sie spüren: Beides gleichzeitig schaffe ich nicht. Wenn eine Gesellschaft aber gute Möglichkeiten der Kinderbetreuung bereitstellt, und den Frauen damit zeigt, dass beides gleichzeitig funktioniert und die Kinder gut betreut werden - dann wird es wieder mehr Kinder geben.

BRIGITTE.de: Und es wird glückliche Mütter geben?

Remo H. Largo: Und glückliche Mütter, wenn diese dazu stehen, wie sie selbst "gestrickt" sind. Es gibt Mütter, die sind glücklich daheim mit ihren Kindern. Und es gibt Mütter, die brauchen beides: Kinder und eine befriedigende berufliche Tätigkeit.

Buchtipp:

Wie viel Krippe ist gut für unsere Kinder?
© PR

Remo H. Largo beschäftigt sich nicht nur mit frühkindlicher Pädagogik. In seinem neuen Buch "Schülerjahre: Wie Kinder besser lernen?" (Piper Verlag 2009, 336 S., 19,95 Euro) beschreibt er eine ideale Schule ?und wie es uns gelingen kann, unseren Kindern wieder Lust am Lernen zu vermitteln.

Interview: Madlen OttenschlägerFotos: iStockphoto.com, Piper-Verlag

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