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Er will weniger Nähe als ich – kann das gut gehen?

Der eine braucht viel Nähe, der andere seinen Freiraum. Kann das gut gehen? Psychologe und Paartherapeut Oskar Holzberg weiß es!

Kurz gesagt: Schon. Aber wir müssen unsere Beziehung tatsächlich "führen". Jetzt mal ausführlich: Karl hat schon zwei Psychotherapien abgebrochen, weil sie ihm nichts gebracht hätten, wie er meint. Anna ist überzeugt, dass Karl den Therapeuten einfach nicht erzählt hat, was wirklich in ihm vorgeht – so, wie er es mit ihr ja auch macht. Das war ja der Grund, warum sie ihn gebeten hat, zur Therapie zu gehen: Weil er nie über sich und seine Gefühle redet. Anna vermisst die Nähe, die für sie über offene Gespräche entsteht. Karl empfindet dagegen Nähe, wenn Anna körperlich nah bei ihm ist. Er kann ihren Wunsch, manchmal getrennt zu schlafen, kaum tolerieren.

Nähe über Gespräche oder Körperliches? Jeder definiert es anders

Manche Partner haben ein ähnliches Nähebedürfnis. Sie machen so viel wie möglich gemeinsam, oder sie leben gern in getrennten Wohnungen und sehen sich nur am Wochenende. Andere Paare dagegen ringen um Nähe: Er möchte unbedingt seinen Hobbys nachgehen, sie bekämpft Surfbrett, Bandprobe und Mountainbike regelrecht, weil sie ihrem Bedürfnis nach mehr gemeinsam verbrachter Zeit entgegenstehen.
Nähe ist das Gefühl des emotionalen Gleichklangs, der Verbundenheit. Es bedeutet, sich angenommen und verstanden zu fühlen. 

Die elterliche Nähe prägt uns bis ins Erwachsenenalter

Wie wir Nähe erleben, ist durch unsere Kindheit geformt. Konnten wir uns immer darauf verlassen, Nähe zu finden? Gab es statt Nähe ablehnende Kälte? Oder gingen unsere Bedürfnisse unter, weil die Erwachsenen uns mit ihrem eigenen Verlangen nach Nähe überfluteten? Wer gute Erfahrungen gemacht hat, fühlt sich in Beziehungen emotional sicher, unterschiedliche Nähebedürfnisse können ausgehandelt werden. Schwerer haben es diejenigen, in deren Kindheit Nähe ein Problem war. Entweder vermeiden sie Nähe, um nicht enttäuscht zu werden. Oder sie können es nicht ertragen, vom anderen getrennt zu sein, weil sie sofort um die Beziehung fürchten. Und häufig finden sich gerade Paare zusammen, die aus diesen beiden Gegenpolen bestehen: einer, der eher die Nähe sucht, und einer, der sich eher distanziert. Sie sind dann gerade darüber ein Paar geworden. Weil die Zurückhaltung des einen die Gefühle des anderen noch verstärkt hat.

Oskar Holzberg ist seit über 30 Jahren verheiratet, seit mehr als 20 Jahren berät der Psychologe Paare. Dabei stellte er fest, dass einige Sätze für alle Beziehungen gelten. In jeder BRIGITTE stellt er einen davon vor.
Oskar Holzberg ist seit über 30 Jahren verheiratet, seit mehr als 20 Jahren berät der Psychologe Paare. Dabei stellte er fest, dass einige Sätze für alle Beziehungen gelten. In jeder BRIGITTE stellt er einen davon vor.
© Ilona Habben

Unterschiedliche Auffassungen können sich positiv auswirken

Schwierig wird es immer dann, wenn sich die Partner nicht mehr so gut verstehen. Dann greifen beide unbewusst auf ihr erlerntes Muster zurück: Der eine sucht mehr Nähe, der andere das Weite. Was bislang ein gut überbrückbarer Unterschied war, trennt das Paar zunehmend. Die Partner sind wütend aufeinander oder wenden sich voneinander ab. Die Näheängste aber, die ihr Verhalten auslösen, bleiben verborgen. Deshalb ist es wichtig, wirklich auf unsere Gefühle füreinander, auf unsere Nähe miteinander, zu schauen. Denn glücklicherweise sind wir nicht dazu verdammt, unsere Verlust- und Näheängste das ganze Leben auf die gleiche Art zu leben. Wir können voneinander lernen, und vor allem können wir es miteinander. Wir können uns unsere Ängste eingestehen und sie nicht einfach reflexhaft auf die für uns gewohnte Weise ausleben. Dann sind unterschiedliche Nähebedürfnisse nicht trennend, sondern sogar ein möglicher Boden für mehr Nähe.

Brigitte 15/2018

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