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Jay Shetty Kompromisse in der Liebe

Beziehung: Ein Paar vor einem Haus
© alfa27 / Adobe Stock
Jay Shetty, 36, ist ist einer der berühmtesten Life-Coaches der Welt. Die Erkenntnis, dass zu viel Wir und zu wenig Ich Gift für jede Beziehung sein können, kam ihm ausgerechnet im Kloster.

BRIGITTE: Ein Ex-Mönch, der einen Beziehungsratgeber schreibt: eine interessante Kombination!

JAY SHETTY: Die Lücke, die ich gesehen und versucht habe zu füllen, ist, dass ich in meinem Buch nicht nur die Beziehungen zu anderen Menschen betrachte, sondern auch die Beziehung zu uns selbst. Es ist so, wie meine Lehrer im Kloster mir gesagt haben: Wenn Sie jemals damit gekämpft haben, Ihren eigenen Geist zu kennen und zu verstehen, stellen Sie sich vor, was passiert, wenn Sie einen anderen Geist in die Mischung einbeziehen! Eine gute Partnerschaft (und jede andere zwischenmenschliche Beziehung) beginnt damit, dass man sich selbst kennt, vertraut und liebt. Wenn wir zuerst darin investieren, ist es viel wahrscheinlicher, dass wir eine erfüllende Beziehung zu einem anderen Menschen aufbauen können.

Das Geheimnis einer guten Partnerschaft ist demnach vor allem, für die eigenen Bedürfnisse einzustehen?

Ich glaube, in Beziehungen denken wir immer, es müsse ein Gleichgewicht geben. Aber ich bin der Meinung, dass wir so wenig Kompromisse wie möglich eingehen sollten. Ich weiß, das klingt seltsam, aber was ich meine, ist, dass wir sowohl für uns als auch für unseren Partner einen möglichst guten Zustand erreichen sollten. Das Ziel sollte sein, sicherzustellen, dass jeder von uns seine verschiedenen Bedürfnisse so weit wie möglich befriedigen kann. Manchmal ist eine Form von Kompromiss notwendig, aber wahrscheinlich weniger oft, als wir denken.

Das ist das Gegenteil von dem, was man sonst immer liest!

Ein alltägliches Beispiel: Meine Frau Radhi und ich haben manchmal große Schwierigkeiten, eine Fernsehsendung zu finden, die wir beide sehen wollen. Ich glaube, die meisten Leute würden denken, dass einer von uns beiden einfach aufgeben und sich etwas ansehen muss, das ihn nicht interessiert. Stattdessen teilen Radhi und ich uns einfach auf und schauen jeder etwas anderes. Aber wir reden später darüber, so profitieren wir doppelt.

Radhi und Sie sind seit zehn Jahren zusammen, in Ihren Youtube-Videos wirken Sie sehr innig. War es immer leicht für Sie, eine Beziehung zu führen?

Nein, wie jeder andere auch musste ich viel über die Liebe lernen. Ich würde sagen, dass meine ersten Vorstellungen von Romantik und Beziehungen vor allem durch die Medien geprägt wurden, und wenn man sich anschaut, was uns Filme und Serien erzählen, geht es da immer um Liebe auf den ersten Blick oder darum, sich in Menschen zu verlieben, die nicht gesund für uns sind. Am besten hat mich meine Zeit als Mönch auf die Liebe vorbereitet. Damals habe ich gelernt, wie wichtig es ist, mit Menschen auf einer tieferen Ebene in Verbindung zu treten. Radhi und ich waren zunächst nur Freunde. Erst als wir beide mit uns selbst, unseren tieferen Sehnsüchten und Motivationen in Bezug auf die Liebe in Berührung kamen, haben wir uns auf diese Weise verbunden. In Radhi sah ich jemanden, der ähnliche Werte wie ich teilte – und auf einer tieferen Ebene war es das, was mich wirklich zu ihr hingezogen hat, als jemand, mit dem ich ein Leben aufbauen wollte.

Was ist Ihr Geheimnis als Paar?

Wir tun viel, um unsere Beziehung aufrechtzuerhalten, das ist uns beiden sehr wichtig. Wenn ich eine Sache auswählen müsste, die am hilfreichsten ist, dann, dass wir beide wissen, dass wir immer das Beste für die andere Person im Sinn haben. Wenn einer von uns etwas tut, was den anderen verletzt, wissen wir also beide, dass es nie beabsichtigt ist.

Erzählen Sie mehr von Ihrer Zeit als Mönch. Wie kam es eigentlich dazu, dass Sie mit 22 für drei Jahre in ein indisches Ashram gegangen sind?

Ich wurde Mönch, weil der glücklichste und erfüllteste Mensch, den ich je im Leben getroffen hatte, ein Mönch war. Auf dem College, mit 21, hörte ich ihn sprechen, und obwohl er auf einer großartigen Universität war und ihm viele Möglichkeiten offenstanden, entschied er sich, Mönch zu werden. Er wollte Authentizität, er wollte dienen. Alles, was er beschrieb, brachte etwas in mir zum Klingen. Ich war inspiriert. Es ist lustig, denn in meinem Buch stelle ich die Idee der Liebe auf den ersten Blick infrage, aber die Ironie ist, dass mir genau das an diesem Tag passiert ist: Ich habe mich verliebt. Der Grund, warum ich das erzähle, ist, dass wir uns so sehr auf die romantische Liebe konzentrieren, aber es gibt wirklich so viele Arten von Liebe; sie ist überall, wirklich. Ich weiß, dass sich heute viele Menschen einsam fühlen, und ich ver­ stehe das. Ich versuche, den Menschen klarzumachen, dass wir etwas verpassen, wenn wir uns darauf beschränken, nur eine Art von Liebe zu suchen oder zu entwickeln.

Was ist der größte Gewinn, den Sie aus der Zeit im Kloster mitgenommen haben?

Ein Gefühl des Gleichmuts. Damit meine ich, Tiefen oder Höhen zu erleben, aber immer wieder in der Lage zu sein, zur Mitte zurückzukehren und von dort aus wirklich zu handeln. Es ist, wie wenn ein Tennisspieler zu einer Seite des Platzes laufen muss, um einen Ball zu schlagen; danach kehrt er automatisch in die Mitte zurück, weil das der beste Aussichtspunkt ist, um den nächsten Schlag zu empfan­gen. Wir verspüren so oft den Druck, dass wir die ganze Zeit positiv und glücklich sein müssen, und wenn wir es nicht sind, haben wir irgendwie versagt. Also ver­suchen wir immer, dieses Hochgefühl wieder zu erreichen. Aber wenn wir ganz ehrlich zu uns sind, wollen wir am liebs­ten in unserer Mitte sein, denn wenn wir hauptsächlich in einem Raum des Gleich­muts leben, wirken sich die Höhen und Tiefen nicht so dramatisch auf uns aus. Und vor allem bleiben wir handlungs­fähig, denn was auch immer geschieht, wir können immer wieder in diese Mitte zurückkehren.

Auch das Alleinsein war eine sehr wichtige Lehre für Sie.

In der Einsamkeit beginnen wir, unsere eigene Komplexität zu verstehen. Wir wer­den zu Studenten unserer selbst. Einen Partner zu haben, bevor man Zeit alleine verbracht hat, kann einen von der Arbeit ablenken, sich selbst zu verstehen. Und das ist Arbeit, also müssen wir sie konzentriert und sorgfältig angehen. Nicht, dass es nicht auch Spaß machen kann. Aber wir sehen in unserer Kultur oft, dass wir alles tun, um nicht in unseren eigenen Gedanken zu versinken. Ich verstehe das, denn Alleinsein kann sich angstbesetzt anfüh­len. Aber mit etwas Übung können wir nicht nur die Fähigkeit entwickeln, Zeit mit uns selbst zu verbringen, sondern auch den Wunsch, dies zu tun.

Sie sprechen in diesem Zusammenhang auch vom „Dharma“, das Ihrer Meinung nach essenziell für das Gelingen von Beziehungen ist. Was genau meinen Sie damit?

Ich beschreibe Dharma als die Schnitt­menge von Leidenschaft, Können und Die­nen. Unser Dharma ist unsere Bestim­mung im Leben. Wir können sie im Job finden oder auch im Privaten. Ein Dharma kann zum Beispiel darin bestehen, dass ich ein großartiges Elternteil bin, in einer ehrenamtlichen Arbeit aufgehe oder in einem Hobby meine Erfüllung finde. 

Sollten Paare einem gemeinsamen Dharma folgen?

Nein, wenn man sich vormacht, das Dharma des anderen zu teilen, und seine eigene Berufung nicht auslebt, ist das fatal. Träume müssen nicht groß sein, aber sie sollten die eigenen sein. Die Verfolgung des eigenen Dharma sollte immer an ers­ter Stelle stehen, denn nur dann sind wir in allem anderen im Leben gut: gute Partner, gute Eltern, gute Angestellte ... Das kann eine Herausforderung sein, wie das Jonglieren mit all den anderen Verant­wortlichkeiten, die man hat, aber wenn jeder in einer Sache aufgeht, die ihm wirk­lich am Herzen liegt, bereichert das die Beziehung wie nichts anderes.

Warum?

Weil es ein Vergnügen ist, mit jemandem zusammen zu sein, der seine Erfüllung gefunden hat oder auf dem Weg dahin ist. Es bereitet Freude, das mitzuerleben, und im Austausch darüber lernen wir von­ einander. Wir entwickeln Empathie und Verständnis für den anderen. Wenn jeder seinem Dharma folgt, können beide die beste Version von sich selbst in die Beziehung einbringen, und das ist immer eine Bereicherung. Fehlt einem Partner das Ziel, kommt er sich vom vergleichsweise zufriedenen Partner vernachlässigt vor und die Konflikte sind programmiert.

Mir gefällt, dass in Ihrem Buch zum Lieben auch das Loslassen gehört. Wann ist es sinnvoll, diesen letzten Schritt zu tun?

Es gibt einen Punkt, an dem sich Men­schen vielleicht schon so lange voneinan­der entfernt haben, dass sie es nicht mehr für möglich halten, wieder zueinanderzu­finden. Oder sie stellen fest, dass sie wirk­lich unterschiedliche Dinge im Leben wol­len und es zu viele Kompromisse erfordern würde, um zusammen zu bleiben. Man möchte nicht auf Dinge verzichten müs­sen, die einem wirklich wichtig sind, zum Beispiel wenn man Kinder möchte und der Partner nicht. Ich will damit nicht sagen, dass jeder, der unterschiedliche Wertvor­stellungen hat, sich trennen muss; manch­mal können Menschen Lösungen finden, die für sie funktionieren. Aber wenn es um die wirklich großen Fragen geht, kann es auch Zeit sein, sich zu verabschieden. Manchmal kann man jemandem am meis­ten Liebe entgegenbringen, wenn man ihn gehen lässt.

Brigitte

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