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"Ich war nicht der Vater, den sie verdient haben"

Manche Männer kümmern sich nach der Trennung nur wenig — oder sogar gar nicht — um ihre Kinder. Wir haben einen solchen Mann gebeten, darüber nachzudenken: Wie urteilen Sie heute, wo Ihre Töchter erwachsen sind, über sich selbst?

Da ist er endlich, der Moment, auf den Leonie sich am meisten gefreut hat. Der DJ ruft zum Tochter-Vater-Tanz auf, die Abiturientinnen strömen am Arm älterer Männer auf die Tanzfläche — auch Leonie und ich.

Als die Musik beginnt, ergreift mich wohliger Stolz. Leonie ist eine 19-jährige Frau — in meinen Augen natürlich die schönste Tochter der Welt —. ausgestattet mit dem Selbstbewusstsein junger Menschen, alles besser zu wissen. Während wir über die Tanzfläche gleiten, spüre ich die Nähe zwischen uns. Ich bin ein eher nüchterner Mensch und auch in diesem Augenblick weit entfernt von Tränen in den Augen. Aber ich bin glücklich, dass es Leonie gibt, diesen Menschen in meinem Arm, der mich noch vor einigen Jahren mit seinen immerwährenden "Warum?"-Fragen in den Wahnsinn treiben konnte. Aber während der Stolz sich allmählich in mir ausbreiten will, bemerke ich den Stachel. Ja, Leonie ist glücklich, das sehe ich. Ich weiß, wie wichtig es ihr ist, vor ihren Freundinnen und Lehrern mit mir zu tanzen: Sie will und kann zeigen, dass es mich, ihren Vater, gibt, dass ich da bin. Und genau das ist der Haken.

Ich bin ihr leiblicher Vater, wir haben immer wieder Urlaube oder Wochenenden miteinander verbracht, oft telefoniert. Aber an ihrem Alltag habe ich nicht teilgenommen. Diese Last trugen Leonie und ihre Mutter allein. Von mir kam regelmäßig nur die monatliche Geldüberweisung.

Ich bin fast 54 Jahre alt, war nie verheiratet, habe zwei uneheliche Töchter und entspreche dem Muster des selbstbezogenen Manns, der sich erlaubt hat, beides zu sein: Vater — und zu­ gleich frei. Frei, jenseits von monogamer Beziehung und Kinderalltag zu leben. Für Leonie war ich ein "Sonnenscheinvater", der sich immer wieder ein paar Stunden am Wochenende oder einige Urlaubstage Zeit für sie nahm, sich aber ansonsten nicht verantwortlich fühlte.

Für Anna, meine ältere Tochter, war ich nicht mal das: Seit ihrer Geburt vor 30 Jahren haben wir fast keinen Kontakt miteinander gehabt. Zu Recht nennt sie mich ihren "Erzeuger", nicht aber ihren "Vater". Annas Mutter und ich waren, als sie gezeugt wurde, so jung, dass mein Großvater sagte: "Früher hatten Kinder Rotznasen. Heute haben Rotznasen Kinder." Dass sie zur Welt kam, verdankt sie wohl vor allem Annas und meinen Eltern, die zur Abtreibung drängten. Aus Trotz entschieden wir uns dagegen, obwohl klar war, dass unsere Liebe für ein gemeinsames Familien­ leben nicht reichen würde: Wir trennten uns nach der Geburt. Sie heiratete einen Mann, der die Vaterrolle bereitwillig ausfüllte, und bat mich, Anna nicht mehr zu besuchen, um sie nicht zu verwirren. Ich war Student und ganz froh darüber, aus der Verantwortung entlassen zu werden.

Auch Leonie war nicht geplant — ein "Unfall", das Ergebnis einer Affäre zwischen zwei Menschen, die wussten, dass sie nicht zueinander passen. Ihre Mutter und ich wollten nie zusammenleben. Als Leonie klein war, passte ich manchmal auf sie auf, wenn ihre Mutter etwas vorhatte. Dann zog ich aus beruflichen Gründen in eine andere Stadt. Von da an kam ich an manchen Wochenenden zu Besuch, holte sie ab und verbrachte einen oder zwei Nachmittage mit ihr. Ab und zu verreiste ich auch mit ihr. Aber in ihrer Nähe zu bleiben, um ihr ein richtiges Vater­-Zuhause bieten zu können, das kam mir nicht in den Sinn.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen in mei­ nem Alter anfangen, zurückzublicken. Auch bei mir werden die Tage häufiger, an denen mir die Endlichkeit meines Lebens bewusst wird und ich mich frage: Bedaure ich es, Annas und Leonies Großwerden nicht hautnah miterlebt zu haben? In Bezug auf Anna ist diese Frage eher theoreti­ scher Natur — für sie war ich ja nie ein Vater. Leonie und ich haben immerhin all die Jahre über eine Beziehung zueinander gehabt.

Vielleicht klingt es hart, aber ich habe beschlossen, nichts zu bedauern. Denn ich habe das Gefühl, der einzige Zweck eines solchen Bedauerns wäre, mich in einem besseren Licht dastehen zu lassen. Immerhin, es gibt Momente, in denen mich eine eigenwillige Melancholie ergreift. Manchmal wird diese Traurigkeit durch eine besondere Er­innerung ausgelöst. Manchmal ist es ein Foto, manchmal ein Musikstück, das wir zusammen gehört haben. In solch einem Moment fehlt jegliche Ratio — er ist zu 100 Prozent Gefühl. Er entzieht sich der Vernunft, es hilft mir nicht, darüber nachzudenken. Ich kann es nur aushalten. Denn die Frage danach, ob ich es bedaure, etwas verpasst zu haben, verschleiert den Kern des Problems: Es geht nicht darum, was ich nicht erlebt habe. Es geht darum, dass meine Töchter ohne ihren leiblichen Vater aufwachsen mussten. Diese Tatsache löst bei mir in erster Linie ein schlechtes Gewissen aus: Ich war in den schweren Stunden genauso wenig da wie in den schönen. Das Geschenk des Lebens, das ich meinen Töchtern gegeben habe, ist zwar nicht vergiftet – sie leben ja und sind tolle Frauen geworden. Aber dass ich ganz real nicht da war für sie, dürfte sie geprägt und ihr Leben womöglich schwerer als nötig gemacht haben. Ich war nicht der Vater, den sie verdient haben. An dieser Einsicht führt kein Weg vorbei.

Ich rede nicht gern darüber, dass ich mich schuldig fühle — das klingt selbstmitleidig, und Anna und Leonie haben nichts davon: Es macht die Sache nicht besser. Auch nicht, dass Leonie sich schwer damit tut, darüber zu reden. "Früher war ich traurig, weil ich keinen Vater hatte — jedenfalls keinen wie meine Freundinnen", sagt sie lediglich und fügt nach einigem Zögern hinzu: "Aber meine Mutter hat ja beide Rollen übernommen."
Ich erwarte keine Absolution; dass mir meine Sünden mehr oder weniger folgenlos vergeben werden, nachdem ich gebeichtet habe. Es geht auch nicht darum, die verlorene Zeit zurückholen zu wollen. Das funktioniert nicht. Ich suche vielmehr nach einer Haltung, die beides enthält: zum einen das Wissen um meine Fehler und die Akzeptanz, dass diese Fehler ein unlöschbarer Bestandteil meines Leben sind. Zum anderen den Willen, die Fehler der Vergangenheit als Antrieb zu verstehen, künftig ein besserer Vater zu sein. Ohne Ehrlichkeit mir selbst und ihnen gegenüber, ohne das Eingeständnis, dass ich versagt habe, und den Verzicht darauf, meine Entscheidungen durch Bedauern zu relativieren, wird das nicht möglich sein.

Meine Töchter sind nun erwachsen, ich bin mächtig stolz auf sie. Nicht darauf, dass ich ihr Vater bin, sondern darauf, dass sie ihren Weg gehen. Leonie ist mir eng verbunden, Anna will keinen Kontakt — eine Entscheidung, die von Selbstbewusstsein zeugt, finde ich. Vielleicht überlegt sie es sich eines Tages anders, dann freue ich mich. Falls nicht, werde ich ihr keinen Vorwurf machen. Ich habe es so gewollt.

BRIGITTE Woman 12/16

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