Anzeige

Experte: Was wollen wir uns eigentlich sagen, wenn wir Sex haben?

Experte: Was wollen wir uns eigentlich sagen, wenn wir Sex haben?
© Thinkstock
Warum fühlen sich Frauen oft missverstanden und warum haben immer weniger Männer Lust auf Sex? Und was hilft wirklich? Sexualpsychologe und Paartherapeut Christoph J. Ahlers erklärt, wie die Sex-Kommunikation funktioniert.

BRIGITTE: Herr Ahlers, wenn Sex eine Art Sprache ist, was wollen wir uns mit ihr sagen?

: Sex kann uns das intensive Gefühl geben, dass wir so, wie wir sind, in Ordnung sind. Und zwar mehr als ein Gespräch, denn Berührungen erreichen uns viel unmittelbarer als Worte. Wir möchten spüren, dass uns der andere in sich aufnimmt oder in uns dringen will. Wobei der Orgasmus nur der Zuckerguss auf dem Kuchen ist, im Wesentlichen geht es um Intimität. Es geht um Nähe, sich angenommen und bestätigt zu fühlen.

Dabei hat Sex – gerade im Sinne von Lust – in unserer Gesellschaft einen enormen Stellenwert bekommen. . .

In der Tat wird uns suggeriert: Man habe Sex zu haben, und wer keinen hat, wird komisch. Ein Hirngespinst der Leistungsgesellschaft. Menschen werden komisch, gereizt oder griesgrämig, wenn sie sich nicht angenommen und zugehörig fühlen, ungewollt, ungemocht. Nicht wegen vermeintlich angeschwollener Hoden oder unerfüllter Orgasmussehnsüchte. Eine verbitterte und verhärmt wirkende Frau muss nicht mal wieder "ordentlich durchgevögelt werden", wie der Volksmund meint, sondern sie entbehrt höchstwahrscheinlich das Gefühl von Angenommenheit.

Ein Mann, der lange keinen Sex hatte, ist nicht automatisch entspannter, wenn er in den Puff geht. Denn es geht nicht allein um Prozesse auf biologischer Ebene. Vor allem geht es um das Erleben des Gefühls, gewollt zu sein. Wenn wir begreifen würden, wie wichtig Nähe und Aufgehobensein für uns sind, wäre unser Sexualitätsverständnis vielleicht nicht so sehr auf Lust reduziert.

Dr. Christoph J. Ahlers
46, ist Klinischer Sexualpsychologe und Leiter der Praxis für Paarberatung und Sexualtherapie in Berlin. Er ist spezialisiert auf die Beratung und Behandlung bei partnerschaftlichen Kommunikations- und Beziehungsstörungen sowie sexuellen Funktionsstörungen. Er hat das Buch "Himmel auf Erden & Hölle im Kopf - Was Sexualität für uns bedeutet" (442 Seiten, 19,99 Euro, Goldmann) geschrieben.
© Urban Zintel

Was bedeutet das für die Beziehungen, die wir führen?

Dass wir uns oft missverstehen. Klagt der Mann über einen "Samenstau" oder "dicke Eier", dann nimmt er selbst nicht wahr, was er eigentlich will, nämlich Anerkennung. Die stellt sich für ihn her, indem seine Frau mit ihm schläft, aber das weiß er nicht. Die Frau wiederum weiß nicht, dass ihr Mann eigentlich in den Arm will, sie fühlt sich ihrerseits "missbraucht", weil er nicht sieht, dass sie müde und abgerackert ist. So versteht man sich falsch und driftet auseinander. Es gibt Männer, die denken, ihre Frau ist frustriert, weil sie Erektionsstörungen haben. Diese aber ist eigentlich enttäuscht, weil er sie nur noch anmuffelt und nichts mehr mit ihr unternimmt. So lebt man aneinander vorbei.

In Ihrem neuen Buch schildern Sie Ihren Eindruck, dass immer mehr Männer immer weniger Lust auf Sex mit ihren Frauen haben. Woran liegt das?

Ich halte den gestiegenen Leistungsdruck für ursächlich, der sich auch auf unsere Sexualität auswirkt, weil er längst auch auf unser privates Sein übergegriffen hat. Heute muss jede Mama sexy sein und jeder Alte ein Best-Ager. Für pubertierende Mädchen gibt es kaum noch BHs, die nicht wattiert sind. Was lernt ein Teenager daraus? Es muss mehr sein, was da ist, reicht nicht. So entsteht ein Angstmarkt.

Früher durfte ein Mann noch dick, behaart oder unmodisch gekleidet sein, das tat seiner Männlichkeit keinen Abbruch. Heute gibt es eine gesellschaftliche Anspruchshaltung: Wer als Mann nicht irgendwie gestylt ist, ist ungepflegt. Frauen kennen diese Anforderung an ihr Aussehen seit Jahrtausenden, für Männer ist das relativ neu. Erschwerend kommt hinzu: Aus einer überzogenen Fremdanforderung ist für viele mittlerweile eine verbissene Selbstanforderung geworden. So oder so: Wenn ich das Gefühl habe, nicht zu genügen, reagiere ich mit Vermeidung.

Aber dann gibt es da noch sexuelle Funktionsstörungen. Zwei liegen da, mögen sich, wollen es, aber sein Penis wird nicht steif. Bei aller Liebe sozusagen.

Dann ist mutmaßlich Leistungsdruck im Spiel: Etwas soll oder muss unbedingt klappen. Und das löst sich nicht auf, weil keiner spricht. Es wird geredet, aber nichts gesagt. Man redet zusammen übers Außen: über die Arbeit, die Kinder, den Urlaub, die Eltern, die Wochenplanung, aber man spricht nicht (mehr?) miteinander übereinander. Über die eigenen sexuellen Ängste und Befürchtungen, Sehnsüchte und Bedürfnisse. Darum verlieren sich die Partner erst aus den Augen, dann aus den Händen und schließlich auch aus dem Sinn. Und wenn tatsächlich auch noch Funktionsstörungen auftreten, fehlt die Kommunikation erst recht.

Was können Paare in diesem Fall machen?

Sich Hilfe holen. In einer Sexualtherapie schließen die Paare in diesem Fall zum Beispiel einen "Koitus-Verzichts- Vertrag". Klingt albern, hat sich aber bewährt. Das Paar verhandelt, was es braucht, um angst- und druckfrei, absichts- und erwartungslos intimen Körperkontakt zu haben. Die Partner gehen ein- bis zweimal die Woche zu Hause miteinander ins Bett. Sie sollen sich ansehen und anfassen, ohne dass irgendetwas stattfinden muss. Für die meisten ist das schwer, sie haben gelernt, entstehende Intimität – grob gesagt – "wegzuficken". Damit meine ich: blindlings auf das Ziel Orgasmusproduktion zuzustürmen.

Also nicht hinstürmen, sondern hinkuscheln ist die Lösung?

Könnte man so sagen. Es beginnt damit, die Körperrückseite zu streicheln und darauf zu achten, dass es einem dabei selbst gut geht. Später wird die Vorderseite einbezogen, und weil es da für manche womöglich schon ganz schön heiß wird, bleiben Brust und Genitalien erst mal außen vor. Schließlich wird der ganze Körper berührt, werden die Genitalien spielerisch erkundet, das Streicheln wird intensiver, die beiden dürfen sich necken, Lust kann entstehen. Oder auch vergehen. Beide teilen dem anderen verbal oder gestisch mit, wie erregt sie gerade sind, damit nicht unvermittelt ein Orgasmus entsteht.

Das funktioniert?

Tut es. Es schult beide darin, ihre eigene Erregung zu modulieren. Männer mit Erektionsstörungen bekommen in diesem Prozess womöglich wieder eine Erektion, sie trauen ihren Augen nicht und kriegen den reflexhaften Impuls, augenblicklich Geschlechtsverkehr haben zu wollen. Umso wichtiger ist es dann, dass die Frau die Ruhe bewahrt und ihren Partner bestärkt, dass seine Erektion auch wiederkommt. Männer, die zum ersten Mal erleben, dass es völlig egal ist, ob ihr Penis weich oder hart ist, wenn ihre Frau ihn in der Hand hält, fangen oft vor Rührung und Entlastung an zu weinen, wenn sie davon berichten. Als würden tonnenschwere Gewichte von ihren Herzen und Schultern fallen.

Ein weiterer zunehmender Lustkiller seien Pornos, die vorwiegend Männer konsumieren, sagen Sie.

Nein, sage ich so nicht. Nicht Pornos sind Lustkiller, sondern die unbeschränkte Verfügbarkeit von multimedialer Internet-Pornografie könnte einen Einfluss auf die Lust haben. In meine Praxis kommen immer wieder Männer, jüngere Jahrgänge, die sagen, sie hätten keine Lust mehr auf Sex. Generell nicht, frage ich dann, oder nur mit Ihrer Partnerin nicht? Heraus kommt: Mit der Partnerin nicht, Selbstbefriedigung findet regelmäßig statt. Auf meine Frage Warum? heißt es oft: Sex mit der Freundin kickt nicht so wie die Pornos im Internet.

Was ist da passiert?

Diese jungen Männer haben durch den Konsum von Internetpornografie von Anfang an eine extrem multisensuale Ansprache ihres Nervensystems erfahren, die es im wahren Leben nicht gibt. Da stöhnt ihre Partnerin weder laut rum, noch schreit sie "Mach's mir, du Sau!" und erlebt auch keine multiplen Orgasmen. Sondern will einfach nur Geschlechtsverkehr ohne spektakuläre Praktiken, einfach nur kuscheln oder gar keinen Sex haben. Das erleben diese jungen Männer als Diskrepanz: Die Realität schneidet schlechter ab als die Fiktion.

Viele behaupten ja, die jungen Leute könnten durch Pornos Sex lernen. Aber so wie Sie es schildern, verlernt man eher Sex durch Pornos . . .

Ich weiß es nicht. Meiner Erfahrung nach haben die Leute kein Problem damit, die richtigen Löcher zu finden. Sie haben vielmehr Probleme, die richtigen Worte zu finden. Und dafür kann ich Pornos als Modell nicht erkennen.

Wie können wir dem eigentlichen "Sinn" von Sex wieder näherkommen?

Indem wir uns selbst wahrnehmen. Und uns fragen, was will ich und warum? Warum möchte ich, dass du mich in den Arm nimmst und mich festhältst oder mir den Penis in die Scheide steckst? Alles verschiedene Ausdrucksformen derselben Sache. Das kriege ich aber nur heraus, wenn ich weiß, was die Dinge für mich bedeuten. In meiner Praxis sitzen oft Paare, die sagen, dass sie wieder miteinander schlafen wollen. Verstehe ich, sage ich dann, und frage: Und warum wollen Sie das wieder tun? Dann gibt's verwirrte Blicke. Was man sich eigentlich sagen will, wenn man miteinander schläft, fragt sich niemand.

Das stimmt. Es gehört einfach dazu. . .

Wir lernen es nicht. Kinder lernen zwar in der Grundschule, dass der Penis des Mannes in die Scheide der Frau eingeführt wird, damit der Samen zur Eizelle kommt. Es wird aber nicht darüber gesprochen, warum er das sonst noch tut! In den seltensten Fällen zur Fortpflanzung! Auch später im Sexualkundeunterricht wird darüber nicht gesprochen.

Aber ist es nicht menschlich, dass wir uns schwertun, über so Elementares so offen zu reden? Dazu vielleicht noch in einer Beziehung, die eh schon auseinandergedriftet ist?

Das stimmt, dafür muss man sich ganz schön was trauen. Das ist den meisten viel zu anstrengend. Eine Beziehung nicht nur haben, sondern sie führen, darauf kommt es an. Im Austausch zu bleiben, sich zu fragen: Wer ist der Mensch neben mir auf dem Sofa? Weil diese Frage zu groß ist, hätten wir lieber Beziehungs-Botox to go. Da mach ich doch lieber Yoga, lass mir den Busen vergrößern, nehme Potenzmittel oder gehe mit dem Partner in Swingerclubs.

Suche im Außen etwas, um das Innere zu beruhigen. Alles Umwege, um das eigene Ich und die eigentliche Begegnung mit dem anderen, denn da wollen wir tendenziell nicht ran. Da könnte es traurig oder schmerzhaft werden. Dazu kommt oft ein eher schwaches Selbstbewusstsein. Eine Voraussetzung für das Entstehen von Intimität ist aber ein stabiles Selbstwertgefühl. Wenn ich das nicht habe, kann ich tief in mir drin nicht glauben, dass der andere wirklich mit mir zusammen sein will. Der ist doch so toll und ich nur eine Niete im Lostopf. Das sagt kein Mensch, aber das denken ganz viele!

Interview: Judka Strittmatter Aus der BRIGITTE 20/2015

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel