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Antizipatorische Traurigkeit Wieso weine ich, obwohl du noch lebst?

Antizipatorische Traurigkeit: Wieso weine ich, obwohl du noch lebst?
© Oksana Klymenko / Adobe Stock
Seelenschmerz, obwohl das Gegenüber noch lebt. Im ersten Moment wirkt das paradox und verunsichernd. Dabei ist es kein seltenes Phänomen. Woran erkenne ich vorausschauende Traurigkeit und wie gehe ich damit um?

Ich sitze in dem kleinen Zimmer, das voll ist mit Familienbildern und Zeichnungen, die meine Geschwister und ich als Kinder angefertigt haben. Die Frau vor mir atmet schwer und irgendwie haben wir uns heute nichts mehr zu erzählen, nachdem sie mir berichtet hat, was es im Heim zum Mittagessen gab. Wir kennen uns, seit ich geboren bin, sie war immer an meiner Seite und doch überfällt mich jetzt ein Gedanke: "Ich erkenne meine Oma nicht mehr wieder". Ein paradoxes Gefühl. Sie lebt noch und doch kann ich meine Tränen nur gerade bis zu dem Moment halten, indem ich wieder zu Hause ankomme.

Was ist antizipatorische Traurigkeit?

Wenn der Verlust einer geliebten Person absehbar ist, fühlen manche von uns die Trauer, die sie erwarten zu spüren. Dafür muss bei dem Gegenüber nicht zwingend eine Krankheit vorliegen. Auch wenn du beispielsweise deinen Großeltern beim Altern zuschaust, ist es möglich, dass sich vorausschauende Trauer breit macht. Immerhin ist es absehbar, dass ein Verlust bevorsteht. Das kann ein "Auf und Ab“ sein, denn die starken Gefühle der Trauer können sich mit Abschnitten, in denen Normalität einkehrt, abwechseln. Antizipatorische Trauer setzt trotzdem voraus, dass du den bevorstehenden Tod akzeptierst. Vor der Akzeptanz durchlaufen wir jedoch oft Phasen voller Wut, Ablehnung und Verzweiflung. Darauf folgt Reflexion: "Wo stehe ich mit meinem Gegenüber? Wie hat sich unsere Beziehung entwickelt?“. Dabei können sowohl neue Gefühle entstehen als auch alte wieder hochkommen. Nachdem die Vergangenheit rekapituliert wurde, wandern die Gedanken zum Tod. Wir stellen uns vor, wie unser Gegenüber stirbt und fragen uns, wie eine Zukunft ohne die geliebte Person aussehen wird.

Trauere ich vorausschauend?

Vorhersehende Trauer überrascht häufig. Du triffst eine geliebte Person und plötzlich überkommt dich ein Gefühl tiefer Traurigkeit. Im ersten Moment ist das schwierig zu greifen. Schließlich lebt dein Gegenüber noch. Trotzdem gibt es eine Reihe von Symptomen, die für diese Art der Traurigkeit typisch sind. Unter anderem ist ein emotionaler Kontrollverlust bezeichnend. Dieser geht einher mit Angst, Reizbarkeit und Wut. Wir weinen oder werden sauer, obwohl augenscheinlich doch noch alles in Ordnung ist. Diese Emotionen können in Angstzuständen, Einsamkeit und Isolation resultieren. Wie auch bei anderen Formen der Trauer kapseln Betroffene sich häufig ab. Wenn es in der Beziehung zu der sterbenden Person Ungereimtheiten gibt, können sich zudem Gefühle von Schuld bemerkbar machen. Diese werden besonders dann deutlich, wenn wir uns intensiv mit unserer Vergangenheit und Beziehung zu unserem Gegenüber auseinandersetzen.

Wie unser Gehirn versucht, uns auf den Verlust vorzubereiten

Wenn uns eine absehbare Tragödie bevorsteht, versucht unser Gehirn dem entgegenzuwirken. Anstelle, dass die Trauer uns zeitgleich mit dem Verlust überwältigt, spüren wir sie konstant über einen längeren Zeitraum. Diese Art zu trauern kann einige Vorteile haben. Beispielsweise wird man bei der vorausschauenden Trauer direkt mit seinen Gefühlen konfrontiert und es wird schwieriger für uns, sie zu verdrängen. Durch die intensive Auseinandersetzung mit einem geliebten Menschen vor seinem Tod bekommen wir auch die Möglichkeit, Dinge, die noch nicht abgeschlossen sind, anzugehen. Es ist schließlich noch nicht zu spät, um Missstände aufzuklären, sich zu entschuldigen oder sich zu verabschieden. Antizipatorische Traurigkeit kann aber auch zu einem problematischen Trauerverhalten führen, wenn sie nach dem Verlust beispielsweise in starke Schuldgefühle übergeht. Deshalb ist es wichtig, in einer solchen Lebensphase auf bestimmte Dinge zu achten. 

Sieben Tipps, um mit vorausschauender Trauer umzugehen

Lerne, deine Traurigkeit zu verstehen

Traurig zu sein, bevor jemand stirbt, bedeutet nicht, dass man sein Gegenüber schon vergisst oder abschreibt. Stattdessen schafft es die Möglichkeit, zu reflektieren, sich auszusprechen und gemeinsam mit der anderen Person abzuschließen. Es ist möglich loszulassen und gleichzeitig für jemanden da zu sein. Gefühle von Trauer sind dabei kein Verrat oder Aufgeben. 

Lasse Gefühle und Trauer zu

Nur, wer den Schmerz auch zulässt, kann ehrlich mit sich selbst und anderen sein. Traurigkeit zu verdrängen, führt im schlimmsten Fall dazu, dass sie später stärker zurückkommt. Auch hier gilt wieder: Traurigkeit zulassen bedeutet nicht, die andere Person zu vergessen. Es geht vielmehr darum, an die schönen und guten gemeinsamen Erinnerungen zurückzudenken. 

Teile deine Gefühle mit anderen, du musst da nicht allein durch!

Du solltest dir selbst immer gestatten, andere um Rat oder Beistand zu bitten. Deine Gefühle zu kommunizieren, regt den Reflexionsprozess an und kann dir helfen, deine Trauer zu bewältigen. Wichtig ist, dass du die Person, der du dich anvertraust, sorgfältig auswählst. Am besten sollte es jemand sein, der:die dich nicht verurteilt. Antizipatorische Trauer kann häufig Emotionen mit sich bringen, die Außenstehende nicht nachvollziehen können.

Verbringe Zeit mit der Person, um die du trauerst

Auch, wenn man eine sterbende oder besonders alte Person vielleicht lieber jung und gesund in Erinnerung behalten möchte, ist es wichtig, Zeit mit ihr zu verbringen. Oftmals bedeutet es dem Gegenüber etwas, wenn man besucht, nachfragt und sich kümmert. Tut man dies nicht, kann es zudem dazu kommen, dass du deine Entscheidung im Nachhinein bereust. 

Versuche, einen Sinn für Humor zu behalten

Wichtig ist hier natürlich Feingefühl. Wenn ein Mensch im Sterben liegt oder schwer krank ist, ist das kein Thema, über das man Witze machen sollte. In der richtigen Situation aber kann Humor dir und der von Krankheit oder Alter betroffenen Person ein Lächeln schenken. 

Übe dich darin, zu vergeben

Du solltest lernen, dir und deinem Gegenüber zu vergeben. Es ist ein sinnvoller Schritt, wenn man mit einer Person, die bald sterben wird, Differenzen aus der Welt schaffen möchte. Nur so kann man die letzten Schritte in Frieden gemeinsam beschreiten. Zum Vergeben gehört aber auch, zuzuhören und empathisch zu sein. 

Erlaube deinem Gegenüber zu sterben

Es gibt Menschen, die, wenn sie im Sterben liegen, auf ein Event in der Zukunft blicken, dass sie gerne noch erleben möchten. Das ist natürlich in Ordnung. Trotzdem kann es den Stress vermindern, wenn man nicht zu sehr darauf hin eifert. Sich zu verabschieden, kann eine schöne Geste sein. Das bedeutet nicht, jemanden aufzugeben, sondern viel mehr einer Person, die sich wegen eines bestimmten Ereignisses unter Druck setzt, den Stress zu nehmen. 

Verwendete Quellen: verywellhealth.com, journals.sagepub.com, aerzteblatt.de

Brigitte

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