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Nachgefragt 36 Fragen zum Verlieben: Das Experiment

36 Fragen zum Verlieben: Frau liest Karteikarte an Tisch
© Norman Konrad
36 Fragen und vier Minuten Blickkontakt sollen ausreichen, damit sich zwei Menschen ineinander verlieben. Verspricht die Studie eines Psychologieprofessors. Unsere Autorin fragt sich durch.

Das Licht ist gedimmt, meine Aufregung groß. Ich sitze in einer Bar und starre auf den Lippenstiftrand an meinem Weinglas. Ich hatte schon Doppel-Dates, Blind-Dates und Sex-Dates, aber so etwas wie heute habe ich noch nie gemacht. Nervös trommeln meine Nägel auf dem Tresen herum, während ich versuche, mich daran zu erinnern, wie es ist, verliebt zu sein. Wenn alles nach Plan läuft, werde ich es in zwei Stunden wieder wissen.

Ich bin keine Romantikerin. Liebe ist für mich die logische Konsequenz aus chemischen Prozessen, Intimität und viel Kompromissbereitschaft. Bei Liebeskomödien und Liebeserklärungen fühle ich mich, wenn überhaupt, dann unangenehm berührt. Diese Abwehrhaltung führt allerdings dazu, dass ich selten in Situationen gerate, in denen die eben erwähnten chemischen Prozesse überhaupt mit ihrer Arbeit beginnen können.

Psychoterror?

Aus den Boxen quengelt Natalie Imbruglia frustriert ihren 90er-Hit "Torn": "Illusion never changed / Into something real". Die Frau hat offenbar noch nie von Arthur Aron gehört. Der 36-Fragen-Katalog, den der Psychologieprofessor vor 23 Jahren zusammengestellt hat, soll erst Vertrautheit und dann Liebe zwischen zwei Menschen herstellen. Sogar zwischen Fremden. Automatisch. Ob Mann will oder Frau nicht. Das belegen Studien. Vor einem romantischen Candle-Light-Dinner mit Geigenmusik und einer geteilten Nudel als Höhepunkt des Abends wäre ich schreiend davongelaufen. Aber wissenschaftlich fundiertes Verlieben durch erzwungene Vertrautheit? Das ist rational, das ergibt Sinn, daran kann ich glauben!

Vincent klopft von außen an die große Scheibe der Bar und grinst von einem Ohr zum anderen. Er hatte zu meiner großen Überraschung sofort zugesagt zu dem Experiment, das er in den nächsten Stunden mal verzückt als "Seelenwalzer", mal überfordert als "Psychoterror" bezeichnen wird.

Das Kennenlernen

Vincent und ich haben uns über eine Dating-App kennengelernt, hatten schon drei Treffen, zwischen denen immer mehrere Wochen ohne Kontakt lagen. Ob bewusst oder unbewusst, auf die große Liebe haben wir es bisher nicht angelegt. Aber heute fordern wir Amor heraus. Wir setzen uns an einen Tisch in der Mitte des Raums, zünden die Kerze an, lassen unsere Gläser klirren und machen uns an die Arbeit. Im Internet heißt es, das gesamte Experiment dauere ein bis zwei Stunden. Bei uns werden es über fünf.

Noch haben wir Spaß: Wärst du gern berühmt? Wie würde das sein, und wie wärst du? Wie sieht dein perfekter Tag aus? Wann hast du das letzte Mal für dich gesungen? Und wann für jemand anderen?

Hoch motiviert rutschen wir durch den ersten Fragenblock. Jede Antwort zieht Nachfragen nach sich, wir könnten den Abend gut mit den ersten zwölf Fragen füllen. In jedem Block sollen wir uns entweder Komplimente machen oder Gemeinsamkeiten feststellen, was es noch leichter macht, sich zu öffnen. Noch haben wir Spaß und keine Probleme damit, unangenehme Wahrheiten miteinander zu teilen. Wir fühlen uns wohl, lachen viel und sind uns meist einig. "Wer möchte schon den Rest seines Lebens mit dem Geist seines 30-jährigen Ichs rumrennen wollen?", fragt er. "Ich glaube, diese Frage ist nur darauf ausgelegt, dass wir uns verbunden fühlen", sage ich. "Ich glaube, das ganze Experiment ist darauf ausgelegt", sagt er grinsend.

Spätestens bei der Frage, was wir an unserer eigenen Erziehung ändern würden, stellen wir überrascht fest, dass es einige Parallelen in unseren Lebenswegen gibt. Sympathisch waren wir uns vorher schon, dieses aufkeimende "Wir gegen den Rest"- Gefühl ist allerdings neu. Romantisch versiertere Menschen würden einander jetzt tief in die Augen blicken und sich in der Hoffnung auf die große Liebe verlieren – wir dagegen brechen in lautes Lachen aus. Ich frage mich, ob das noch der Abwehrmechanismus der Bindungsscheuen ist oder schon die Friendzone?

Es wird ernst. Stell dir vor, du würdest morgen mit einer neuen Eigenschaft oder Fähigkeit aufwachen. Welche hättest du gern? Welcher war der schlimmste Moment deines Lebens? Würdest du etwas an deiner Lebens- weise ändern, wenn du wüsstest, dass du in einem Jahr stirbst?

Too much information?

Langsam wird es anstrengend. Vincent kommt an seine Grenzen, als er seine Lebensgeschichte in vier Minuten zusammenfassen soll. Nach 20 Minuten gibt er haareraufend auf. Ähnlich ergeht es mir, als ich von meiner komplexen Ex-Beziehung erzähle. Ich rede immer schneller, stolpere über meine Gedanken und fürchte, dass ich zu viel preisgebe, ohne mich wirklich erklären zu können. "Das war vielleicht ein Fehler", flüstere ich vor mich hin, während er auf dem Klo ist. Als er zurückkommt, greift er das Thema noch mal auf: Es erinnere ihn an seine Ex-Freundin. Offenbar haben wir auch bei Beziehungsmustern Gemeinsamkeiten.

Wir steigen mal lieber auf Wasser um, in dem Wissen, dass noch einige Herausforderungen auf uns warten. Wir bereden die schwierigen Beziehungen zu unseren Müttern, feiern die Freundschaften in unserem Leben, erzählen uns unsere größten Ängste und Hoffnungen. "Wenn das so weitergeht, dann ist man danach nicht verliebt, sondern muss mit der Person zusammenkommen, weil die einfach zu viel weiß", stellt Vincent nach dem zweiten Block fest. Als wir bei der Frage ankommen, was wir von einer Wahrsagerin wissen wollen würden, antworten wir dasselbe: Ob wir die wahre Liebe finden werden. Überraschung. Dass er sich überhaupt danach sehnt, war mir nicht klar.

Date oder Therapiestunde?

Das große Finale: Wann hast du das letzte Mal geweint? Wann das letzte Mal vor jemand anderem? Der Tod welches Familienmitglieds wäre für dich am schlimmsten? Was sollte man in einer engen Freundschaft unbedingt über dich wissen?

Beim dritten Fragenblock sind wir so tief in die Welt des anderen eingetaucht wie in die einer Serie nach vier Stunden Binge-Watching. Die leere Bar, die vor einigen Stunden noch Kulisse für sexy Fantasien war, hat mittlerweile die Aura einer The­rapiepraxis erreicht. Wir stellen unausgesprochene Verbindungen zwischen den einzelnen Geschichten her und können Gefühle viel besser nachvollziehen. Als wir bei den peinlichsten Momenten unseres Lebens angekommen sind, sind alle Mauern gefallen. Vincent erzählt gleich vier.

Für mich wird die letzte Aufgabe zur größten Herausforderung: Nachdem beide alle 36 Fragen beantwortet haben, sollen wir uns vier Minuten in die Augen sehen. Ich stelle mich an wie ein kleines Kind beim Zahnarzt. "Nein! Noch nicht! Ich kann nicht!" Sobald der Timer läuft, kichere ich und winde mich vor Unwohlsein, dann beginne ich langsam, mein Schicksal zu akzeptieren. Aus dem Starren wird ein Sich-fallen-Lassen. Interessant. Sogar irgendwie schön, denke ich verwundert. Da piept der Timer. Vier Minuten sind um und haben sich doch angefühlt wie eine.

BARBARA 05/2020 Barbara

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