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Mehrgenerationenprojekt: Eine Großfamilie in Berlin

Mehrgenerationenprojekt: Eine Familie auf dem Sofa
© Madlen Krippendorf
Willkommen bei den Tembrinks! In Berlin wohnen Maria und Clemens mit ihren Töchtern, Schwiegersöhnen und Enkelkindern unter einem Dach. Die Familienbande sind engstens geknüpft – und basieren auf größter Freiheit.

"Der Ludwig schläft noch“, sagt Rocco und späht aus Marias Küchenfenster in den Hinterhof. Rocco ist vier und Marias Enkel. Sein Zuhause liegt gleich gegenüber, da wo seine Mutter Lisa gerade hinter ihrem Küchenfenster Kaffee kocht. Ludwig ist fünf und er ist auch Marias Enkel, der Sohn ihrer anderen Tochter Anna. Er wohnt im Hinterhaus ganz unten – das hat man alles im Blick von Marias Küchenfenster.
"Der Ludwig wird schon auftauchen,“ sagt Maria Tembrink, 70. Seit zehn Jahren wohnt die Strickdesignerin mit ihrem Mann Clemens, einem Juristen, wieder im selben Haus wie ihre Töchter und deren Familien. In einem typischen Berliner Altbau in der Suarezstraße, Charlottenburg, mit Vorderhaus, Hinterhaus und Seitenflügel. "Man sieht sich“, das hat hier eine andere Bedeutung als bei den meisten Familien. Es ist ein echtes Geschenk, dass wir alle aufeinanderhocken.

Geplant hat das keiner. Die Mädchen waren über die Welt verstreut. Aber irgendwie sind wir hier alle wieder zusammengekommen

Die Vermutung liegt nahe, dass diese Entwicklung mit Maria selbst zu tun hat, denn sie ist eine ungewöhnliche Oma mit ihrem weißblonden Streichholzhaar und dem knallroten Lippenstift. Dazu trägt sie einen langen schwarz-grauen Ringelpullover, den sie selbst entworfen hat, schwarze Leggings und Springerstiefel. Sehr lässig und selbstbewusst wirkt das. Und dabei ist sie ungemein herzlich. Marias Kleidungsstil entspricht die Wohnungseinrichtung. Die Küchenzeile ist hypermodern. Auf einem alten Küchenschrank mit weißen Porzellan-Fundstücken steht ihre Blechbüchsensammlung. Nebenan im Wohnzimmer Bücher bis unter die Decke. Die sparsame Möblierung ist eine Mischung aus Antiquitäten und Designerstücken. Und überall Bilder, Bilder, Bilder - moderne Kunst, Kinderzeichnungen und vor allem Familienfotos. 

Ein riesiger Esstisch als Herzstück der Familie

Die Tembrinks sind Kulturmenschen. Kino, Theater und Ausstellungen, da sind sie auf dem Laufenden. Und sie mögen ein volles Haus. "Die Kinder wissen, dass sie jederzeit aufkreuzen können, selbst wenn ich gerade unter der Dusche stehe“, sagt Maria. Mittelpunkt ihrer Wohnung ist der riesige Esstisch, an den sie zur Not 25 Gäste quetscht. "Fünf sind geladen, zehn sind gekommen, gieß Wasser zur Suppe, heiß alle willkommen“, zitiert sie ein geerbtes Stickbild, das ihr zum Wahlspruch wurde.

Wo ist der Haken bei ihrer Wiedervereinigung, fragt man sich unwillkürlich. "Den suche ich selber noch. Ich glaube, das ist alles eine Frage von Freiheit und Respekt. Natürlich gibt es Auseinandersetzungen. Der eine sagt Gelb, der andere Grün. Dann wird erst Gelb probiert und dann Grün. Manchmal ist es Clemens zu trubelig hier. Dann macht er die Tür zu für ein Weilchen. Auch okay.“

Tembrink als Designer-Marke

Mehrgenerationenprojekt: Muuter und Tochter stehen in der Boutique
© Madlen Krippendorf

Das Haus in der Suarezstraße ist für die Tembrinks wie eine Arche. Unten im Erdgeschoss steht Anna, 43, im Laden, den sie gemeinsam mit ihrer Mutter führt. Vor 15 Jahren ist sie in Marias Designgeschäft eingestiegen. Als wäre das Leben im selben Haus nicht Nestbau genug. Anna ist ungeschminkt, hat einen schwarzen Pferdeschwanz, aber ansonsten die gleiche offene Art wie ihre Mutter. Sie trägt ebenfalls Tembrink - ein wadenlanges, schlammfarbenes Mohairkleid mit schwarzem Kapuzenpulli drunter. Das hat etwas Nonnenhaftes. "Wir entwerfen für den Alltag“, erklärt sie. Im Laden, der einer Galerie gleicht, hängt Edles, Sportliches und sehr Heutiges. Die Stammkundschaft erkenne sich auf der Straße, verrät eine Kundin, die gerade vor dem Spiegel ein Kleid anprobiert - ein Unikat, wie jedes Stück bei Maria und Anna.

Tembrink tragen ist ein bisschen wie Harley fahren, ein eingeschworener Verein.

Dabei ist Maria eigentlich studierte Sozialarbeiterin und hat ihren Designerladen mal als gemütliches Wollgeschäft eröffnet. Anna ist Kulturwissenschaftlerin, hat aber mal in Kreuzberg eine Schneiderlehre gemacht. Auf einen zielstrebigen Werdegang legt hier niemand Wert. Die selbstständige, kreative Arbeit ist es, die beide verbindet. Als Maria, die gern unabhängig ist, nach einer Partnerin Ausschau hält, ist Anna spontan zur Stelle. Der Gedanke, dass ihre Welt vielleicht ein bisschen klein werde, ist ihr nicht gekommen. "Ich sammle Stühle, aber ich sitze nie“, klärt Maria auf. "Ich kann ein Leben einrichten, aber nicht auf Dauer darin leben. Da muss immer wieder was Neues her.“ Weil sie an nichts festhält, ist sie für andere ein Magnet - für ihre Kundschaft und ihre Familie.

Leben in der Großfamilie - alles außer spießig

Das Leben um sich herum hat sie wie eine lockere Kommune arrangiert. Als Annas Sohn Ludwig geboren wird, bekommt er kurzerhand ein Babybett in den Laden gestellt, weil Anna wieder arbeiten will. Jeder Arbeitstag beginnt im Café um die Ecke, zur Lagebesprechung und zum "Straße inhalieren“. Regelmäßig klinkt sich Maria für eine Weile aus. Demnächst will sie mit dem Fahrrad durch Portugal. Sie braucht ihre Freiheit, die auch den anderen Luft lässt.

"Vom spießigen Mutterbild musste ich mich immer abgrenzen, auch äußerlich. Die Mädchen haben manchmal gelitten, wie ich aus dem Haus gegangen bin“

Es gibt eine Zeit, da ist sie mit knallroten Haaren, Boxerstiefeln, Tigerhose und Nietengürtel unterwegs. Als 13-Jährige verkleidete sich Anna zu Karneval als Punkerin. Die Kinder in der Schule lachten sie aus: "Du siehst ja aus wie deine Mutter!“ Damals machte sie das fertig. Heute ist sie stolz auf Maria. Das Selbstbewusstsein hat sie den Töchtern mitgegeben, auch was den Namen angeht. Auf den Klingelknöpfen am Haus steht dreimal Tembrink. Anna und Lisa haben beide nach der Heirat ihren Nachnamen behalten.

Am Ende führen alle Wege nach: Berlin

Anna ist die Erste, die über dem Laden einzieht, nach ihrem Studium in Frankfurt an der Oder und Utrecht. Da leben ihre Eltern noch in Schmargendorf, in einem Haus mit vielen Freunden. Vor zehn Jahren dann der Umzug in die Innenstadt, der Kultur zuliebe, aber auch, weil es Zeit für etwas Neues ist. Lisa, die Fundraising für Non-Profit-Organisationen studiert hat und heute Gelder für Altenheime und Krankenhäuser organisiert, stößt nach Zwischenstopps in Italien und Brasilien dazu.

Mehrgenerationenprojekt: Familie beim Essen
© Madlen Krippendorf

Im Flur hängt ein Foto von ihrer Hochzeit. Lisa trägt natürlich Weiß - und natürlich Tembrink. Sie war früher das Model des Familienlabels. Während Carlo, von Beruf Weinhändler, Espresso macht, erzählt er von seiner Heimat Apulien, wo er mit Lisa, Emilia, 10, und Rocco jeden Sommer Ferien macht. La Famiglia – Lisa hat sich einen Mann mit den richtigen Werten ausgesucht. Sind sie nicht in Versuchung, nach Italien zu ziehen? "Vielleicht später mal, für ein paar Monate im Jahr“, sagt Lisa. "Hey, du bist meine Altersvorsorge“, beschwert sich Anna im Spaß. "Dann kommst du eben mit.“

Jetzt mal ehrlich: Wieso sind hier alle so dicke? "Weil wir immer alle Freiheiten hatten“, sagt Lisa

"Das heißt nicht, dass sich keiner Sorgen um uns gemacht hat. Wenn wir nachts unterwegs waren, ließ Maria immer das Flurlicht brennen, und wenn wir heimkamen, machten wir es aus, damit sie Bescheid wusste. Unsere Freunde sind immer willkommen gewesen. Maria hat ihren Spruch bestimmt schon aufgesagt: 'Fünf sind geladen ...' Wenn wir aber mal Abstand brauchen, haben wir ihn. Da hat niemand eine Erwartungshaltung oder macht Druck.“Mit der Freiheit komme auch eine Verantwortung, sich zu kümmern, vor allem wenn die beiden älter werden. Aber das Kümmern sei ganz selbstverständlich.

Oma als Babysitterin

Heute kümmere sich Maria ja auch mit um ihre Kinder. Sie habe feste Tage als Babysitterin mit jedem Enkel. Mal brauche der eine mehr Hilfe, mal der andere. Alle seien ganz gut darin, die Balance zu halten und nichts auszunutzen. Vor ein paar Jahren haben Lisa und Carlo in den Favelas von Fuerte Leza in Brasilien ein Jugendhaus gebaut. Als Clemens und Maria neulich groß ihren 70. Geburtstag feierten, wünschten sie sich von allen Gästen Schuhe für die Kinder dort.

Die Süppchen der Tembrinks mögen leicht verwässert schmecken, aber niemand kocht hier sein eigenes.

Bemerkenswert auch, wie ähnlich ihr Wohnungsstil ist: alles sehr hell und bunt, mit viel moderner Kunst und handverlesenem Mobiliar. Bei Anna und Adrian, 44, der Architekt ist, hängt in der Küche ein Blechhai von der Decke. Als sie für ihre Familie mehr Platz brauchten, gingen Anna und Adrian durch die Decke und montierten eine Wendeltreppe ins nächste Stockwerk. Glück gehabt, dass der Vermieter auch ein Familienmensch ist.

Ein Familienessen mit Stammtisch-Feeling

Die Hausdurchsuchung endet an Marias Esstisch. Sie hat aufgetragen: Brot, Käse und Tomaten. Wenn hier alle gemeinsam essen, hat das was von einem Stammtisch. Intensives Reden, viel Gelächter und Augenkontakt. Häufig werden Sätze mehrstimmig beendet, Anekdoten aufgewärmt. Am Tisch sitzt da jetzt auch Clemens, 70, der ruhige Pol der Familie, der selbst in einem Drei-Generationen-Haus groß geworden ist. Sein Werdegang passt gut ins Tembrink’sche Strickmuster: erst Friseurausbildung, dann Jurastudium und jetzt auch noch der Traum vom eigenen Kino. Und natürlich fällt ihm zu seinem Familienleben ein, dass Freiheit und Vertrauen für jede Be- und Erziehung die wichtigsten Grundlagen seien.

Auf ein Familienwappen der Tembrinks, sollte es je eins geben, würden die Begriffe Freiheit, Abenteuer und ein Wollknäuel gehören.

Maria hat keine Angst vorm Älterwerden und Pläne macht sie schon gar nicht. Aus jedem Chaos wachse etwas Neues, ist sie sich sicher, und strahlt, als freue sie sich schon darauf.

Eine Reportage aus "BRIGITTE Wir" (02/18): www.brigitte-wir.de

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