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Wo wollen wir wohnen Stadt, Land, Flucht! Warum immer mehr Leute in die Stadt zurückziehen

Wo wollen wir wohnen: Stadt, Land, Flucht! Warum immer mehr Leute in die Stadt zurückziehen
© Maksim Shmeljov / Adobe Stock
Warum immer mehr Menschen ihr Leben auf dem Land aufgeben und in die Stadt zurückziehen – auch Familien mit kleinen Kindern.

Es war eine Idylle: Die herrliche, alte Villa inmitten des riesigen, verwunschenen Gartens, die Stille, die Vögel am Morgen, die Luft ...Steffi (32) und Jörg (31) hatten nach der Geburt ihres Sohnes Elias ihr Traumdomizil auf dem Land gefunden. Nur 20 Kilometer östlich ihrer alten Heimat Hamburg stand das hübsche Haus, das sie zur Miete beziehen konnten. Mit Kind wollten sie es ruhiger und grüner haben, wollten weniger Trubel und Verkehr.

"Zwei Monate nach dem Einzug haben wir eine große Gartenparty geschmissen, die war richtig toll", erzählt Steffi und fügt grinsend hinzu: "Aber da wussten wir schon, dass wir wieder zurückziehen." Die Einsamkeit, die Langeweile, das Pendeln des frisch gebackenen Vaters, der jeden Tag mehr als zwei Stunden im Zug saß, nur um zur Arbeit und wieder zurückzukommen. "Er ging um 7 Uhr aus dem Haus und kam um 19.30 Uhr wieder", erinnert sich Steffi, "wir hatten viel weniger Zeit zusammen als vorher."

Ein knappes halbes Jahr später zog die kleine Familie wieder zurück nach Hamburg und ist heute "absolut glücklich". Nach der Episode auf dem Land weiß vor allem Steffi es zu schätzen, eine gute Infrastruktur zu haben und jederzeit Freunde treffen zu können: auf dem Spielplatz, im Café oder auch mal abends spontan auf ein Bier. Inzwischen hat sie ihr zweites Kind bekommen, Töchterchen Greta kam in der Großstadt zur Welt.

Das Idealbild der deutschen Familie mit Vater, Mutter, Kind und Eigenheim im Grünen bröckelt leise vor sich hin. Das Vorstadtdomizil von einst war zugeschnitten auf die Hausfrauenehe, mit dem immergleichen Arbeitgeber für den Mann. In Zeiten von wechselnden Jobs, hohen Spritkosten, steigenden Scheidungsraten und gleichberechtigten Beziehungen, in denen beide Partner Geld verdienen und am öffentlichen Leben teilhaben wollen, entpuppt das Landidyll sich schnell als unflexibel, teuer und zeitraubend.

Lebensabschittsimmobilie statt Palast im Park

Die Bedürfnisse von Familien haben sich gewandelt: Wenn beide Eltern arbeiten und die Kinder in der Kita betreut werden, erleichtern kurze Wege und eine intakte Infrastruktur das Leben enorm. Oder wenn die Ehe zu Bruch geht: Das neue Unterhaltsrecht zwingt nun auch geschiedene Mütter wieder früh in den Arbeitsmarkt. Doch auf dem Land sind nicht nur die Jobs, sondern auch die Kindergärten rar – und meist nur mit dem Auto zu erreichen. Der Beginn einer elterlichen Chauffeurskarriere, die ihren Höhepunkt findet, wenn die Kinder in die Schule gehen: Sie wollen Freunde besuchen, im Sportverein trainieren, abends ins Kino oder in die Kneipe. "Wenn sie 12 Jahre und älter sind, wollen sie sowieso in die Stadt, weil sie was erleben wollen", sagt Birgit Gebhardt vom Trendbüro Hamburg. Dann verbringt Mama oder Papa auch noch so manchen Abend hinterm Lenkrad.

Forscher wie Carsten Große Starmann, Projektmanager Demographischer Wandel bei der Bertelsmann Stiftung, sprechen längst von Lebensabschnittsimmobilien, die die Menschen nach ihren spezifischen Bedürfnissen in unterschiedlichen Lebensphasen auswählen. Das Haus fürs Leben wird heutzutage schnell zum Klotz am Bein, die flexiblere Stadtwohnung zunehmend attraktiver. Obwohl die Metropolen es bislang versäumt haben, ausreichend bezahlbaren Wohnraum für Familien zu schaffen, haben sie in den letzten Jahren trotzdem einiges für sie getan – aus Furcht vor einer Verödung der Innenstädte. Verkehrsberuhigte Zonen, grüne Oasen, Innenhöfe und Dachterrassen machen das Stadtleben immer angenehmer.

"Es gibt eine neue Lust auf Stadt": So bringt es der renommierte Zukunftsforscher Professor Horst Opaschowski auf den Punkt. "Die Menschen wandern zum Wohlstand, vor allem die Pendler kehren wieder in die Stadt zurück", prognostiziert er. Zwar gibt es für Deutschland noch keine Zahlen, die den Trend belegen - die neuesten Studien sind von 2006. Doch: "Alle Forscher sind sich einig, dass es in Deutschland den Trend 'Zurück in die Stadt' gibt", sagt Starmann. Er ist überzeugt, dass noch viel mehr Menschen in den Metropolen leben würden, wenn es dort bezahlbaren Wohnraum gäbe. So sieht das auch Alexander Schürt vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt und Raumforschung (BBSR): "Verschiedene Wanderungsmotivbefragungen ergeben schon seit Jahren, dass viele Menschen in der Stadt geblieben wären, wenn adäquate Wohnungsangebote bestanden hätten."

Meike und Paul jedenfalls, beide selbstständig, zwei Töchter, würden gerne in Frankfurt wohnen bleiben. Doch sie brauchen mindestens fünf, besser sechs Zimmer zum Leben und Arbeiten – unbezahlbar in der Stadt. Nun wird ein Bauplatz im Grünen gesucht.

Hohe Innenstadtmieten waren auch bei Katharina (33) und Nils (37) der Grund, ihrer 2,5-Zimmer-Wohnung in Hamburg den Rücken zu kehren und aufs Land zu ziehen. "Wir fanden die Idee toll, etwas Größeres im Grünen zu haben", erzählt Katharina. Knapp 40 Kilometer südlich der Stadt konnte sich das Paar ein Reihenhaus zur Miete leisten. Heute, nach fünf Jahren, wollen beide wieder zurück. Es hat sich gezeigt, dass sie fast jeden Tag in die Stadt pendeln, in der Woche zum Job, am Wochenende, um Freunde zu treffen, Ausstellungen zu besuchen, schön essen oder in nette Bars zu gehen. Auch zum Shoppen fahren sie nach Hamburg, "weil man in der Dorfboutique dann eben doch nicht so fündig wird." Im Ort gäbe es außerdem nur ein "Inkontinenzcafé" für die ältere Generation, beklagt Katharina, und ein Kino mit einem kleinen, verspäteten Filmangebot. Sonst nichts. "Unsere Freunde besuchen uns fast nie, weil es nichts gibt, wo man hingehen kann. Also fahren wir in die Stadt und dann heißt es jedes Mal: "'Wer fährt? Wer trinkt nichts? Wo parken wir?'" Nach der Silvesternacht in Hamburg sind die beiden mit der S-Bahn bis zur Stadtgrenze gefahren und dann mit dem Taxi weiter nach Hause. Ein teurer Spaß, aber der letzte Zug fuhr schon um 0.15 Uhr. Die kleinere Stadtwohnung erscheint inzwischen als das kleinere Übel.

Zeit ist Luxus, Flexibiliät Pflicht

Tatsächlich verschmelzen Wohnen, Arbeiten und Freizeit immer mehr, weiß Birgit Gebhardt vom Trendbüro Hamburg: "Zeit ist Luxus, Flexibilität Pflicht. In unserer digital vernetzten Dienstleistungsgesellschaft wird immer häufiger erwartet, dass man auch mal in der Freizeit für den Job da ist." Dafür kann man während der Arbeitszeit vielleicht das Kind von der Kita abholen oder zum Baumarkt fahren. Die radikale Trennung der Lebensbereiche, wie sie in der 70ern vollzogen wurde, hat sich längst umgekehrt. Die Hamburger HafenCity etwa, das größte Städtebauprojekt Europas, hat sich eine Durchmischung aller Lebensbereiche auf die Fahnen geschrieben. Viele Interessenten der noblen Innenstadt-Wohnungen sind Leute aus dem Umland, die sich wieder nach Urbanem sehnen.

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Und es gibt noch einen Grund, warum das Haus im Grünen auf dem besten Weg ist, ein Anachronismus zu werden: Der Klimawandel verpasst ihm einen schalen Beigeschmack. Für Astrid (32) und Heiko (40) war er Motivation genug, ihr idyllisches Landleben aufzugeben und trotz der zwei kleinen Töchter wieder in eine Etagenwohnung nach Braunschweig zu ziehen. "Auf dem Land wohnen, um die Schönheit der Natur zu genießen und dann zwei Autos haben - es ist einfach verrückt, so viel CO2 rauszublasen", sagt Astrid. Aber ohne ein zweites Auto wäre es irgendwann nicht mehr gegangen: Die siebenjährige Karla musste in die 17 Kilometer entfernte Schule gekarrt werden, Schwesterchen Lenja in den 7 Kilometer entfernten Kindergarten. Der Vater musste sich dann oft ein Auto ausleihen, um zu einem Kunden zu kommen. Er verkauft Solaranlagen und Windräder, Verkehrsplanerin Astrid beschäftigt sich mit autofreien Wohnprojekten. Das Leben auf dem Land wurde für die umweltbewusste Familie zum unauflöslichen Widerspruch.

Heute fährt Karla mit dem Braunschweiger Stadtbus zur Schule, Lenjas Kindergarten ist nur ein Katzensprung von der Wohnung entfernt, die Kinder haben ihre Freunde in fußläufiger Nähe. Astrid kann jetzt wieder alles mit dem Fahrrad erledigen und schwärmt: "Spontan essen gehen oder schnell was einkaufen zu können, wenn man plötzlich doch keine Lust hat, etwas Aufwändiges zu kochen - das ist einfach genial!"

Wenn das Haus zu groß wird ...

Aber auch für Eltern, deren Kinder aus dem Haus sind, wird die Stadt zunehmend interessant: "Die neuen Alten erwarten doch ganz andere Dinge vom Leben als ihre Vorfahren", sagt Carsten Große Starmann. Sie sitzen nicht mehr am warmen Ofen und stricken Wollsocken für die Enkel. Sie wollen ins Theater, zum Sport, Freunde treffen – und wenn es hart auf hart kommt, eine gute, unkomplizierte Betreuung.

Lotte (59), die ihren richtigen Namen lieber nicht genannt haben möchte, weil sie sagen wird, dass sie die Leute auf dem Land so kleingeistig, kleinbürgerlich und verdruckst findet, zieht demnächst mit ihrem Mann zurück ins 130 Kilometer entfernte München, vor allem wegen des kulturellen Angebots. Die letzten 30 Jahre musste das Paar jedes Mal zwei Stunden fahren, um eine Kandinsky-Ausstellung besuchen oder in die Oper gehen zu können. "Hier im Ort wird doch um 20 Uhr der Gehsteig hochgeklappt", erzählt sie, "früher gab es mal ein Musical-Theater, aber das ist pleite gegangen." Außerdem sind die Kinder aus dem Haus und das ist groß: 300 Quadratmeter zum Putzen mit Garten und Schnee schippen und allem, was dazu gehört. Nach ihrer Brustkrebserkrankung ist Lotte nicht mehr so fit wie früher und freut sich auf eine kleine Wohnung mit Aufzug, S-Bahn-Anbindung, einer guten Infrastruktur und einem bunten Freizeitangebot.

"Stadt, Land, Flucht" wird in Deutschland immer beliebter.

Fotos: imago (1), privat

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