Anzeige

Wie weiterleben? Trauerfreundschaft – Jemanden finden, der die gleiche Sprache spricht

Trauerfreundschaft – Grafik, bunte Hände
© Fantastic / Adobe Stock
Nach einem einschneidenden Ereignis erkennen wir uns oft selbst nicht wieder. Unser Umfeld meist ebensowenig. Was es mit Trauersprachen auf sich hat und warum Trauerfreundschaften so heilsam sein können, erklärt Hendrik Lind vom Onlineportal TrostHelden.

Wer durch eine schlimme Trennung gegangen ist – egal ob Partnerschaft oder Freundschaft –, eine geliebte Person oder ein Tier verloren hat, den Kontakt zu seinen Eltern abbrechen musste, der:diejenige kennt möglicherweise das Gefühl, sich allein und unverstanden in der Trauer darum gefühlt zu haben. Möglicherweise auch, sich selbst nicht mehr zu verstehen. 

Schwere Schicksalsschläge und Verluste katapultieren uns von jetzt auf gleich in eine Paralleltwelt, die wir nicht verstehen. Wie auch, niemand weiß vorher, wie er:sie auf bestimmte, lebensverändernde Einschnitte reagieren wird. Während die einen verstummen, regelrecht erstarren, können andere nicht mehr aufhören zu weinen, stellen sich wieder und wieder dieselben Fragen oder rufen immer wieder den Ex an, wohlwissend, dass das alles nur noch schlimmer macht. 

Warum versteht mich niemand?

Unser Gehirn spielt verrückt, wir befinden uns in einer Art Schockzustand und erleben eine Flut an Gefühlen: Angst, Traurigkeit, Wut, Verzweiflung. Wir können uns nicht konzentrieren, sind vergesslich, schlafen schlecht, unsere Gedanken drehen sich im Kreis und an Essen ist nicht zu denken.

Während das nahe Umfeld dafür in der Anfangszeit in der Regel ein offenes Ohr hat und verständnisvoll reagiert, ändert sich das oft mit der Zeit. Vielleicht aus Hilflosigkeit, vielleicht aus Unverständnis, Ungeduld oder sogar zum Schutz der eigenen Grenzen und mentalen Gesundheit. Fakt ist, jemand, der sich nicht in der gleichen Situation befindet, kann die Gefühls- und Gedankenwelt nur schwerlich nachempfinden. Das ist ganz normal: "Jemand, der:die nicht Ähnliches erlebt hat, spricht nicht mehr die gleiche Sprache", erklärt Hendrik Lind, Mitgründer des Online-Portals TrostHelden. 

Aufgrund seiner jahrelangen Erfahrung in der Trauerbegleitung und vielen Begegnungen mit trauernden Menschen, haben er und seine Frau Jen Lind, die auch als Sterbeamme tätig ist, herausgefunden, dass es unterschiedliche Trauersprachen gibt, die sich aus einer Vielzahl an Faktoren zusammensetzt.

Mit dem Schicksalsschlag spricht ein trauernder Mensch von jetzt auf gleich eine neue Sprache; eine Trauersprache, die die betroffene Person zwar plötzlich sprechen kann, sich selbst aber (noch) nicht unbedingt versteht. Diese ist sehr individuell und setzt sich aus dem eigenen Schicksalsschlag, dem eigenen Umgang mit der Trauer sowie sonstigen Lebensumständen zusammen.

Menschen, die trauern, verstehen sich noch nicht, kennen sich selbst in dieser Situation noch nicht und müssen damit erst einmal einen Umgang erlernen. Dieser Umstand, eine, wie Hendrik Lind sagt, neue Sprache zu sprechen, belaste zusätzlich. 

Die Trauersprache ist individuell und einzigartig

Wie sich die Trauersprache ausdrückt, setzt sich aus vielen Faktoren zusammen: Ist jemand nach langer Krankheit verstorben oder nach einem erfüllten Leben? Ist man nach dem Tod allein oder sind Kinder betroffen, die ebenfalls versorgt werden müssen? Will sich der:die Betroffene eingraben oder spielt Spiritualität eine Rolle. Wie ist die finanzielle Situation? 

In Summe ergeben sich zigtausend verschiedene Trauersprachen. Die eigene sprechen wir mit dem Schicksalsschlag von jetzt auf gleich. Das Umfeld oder auch Anbieter:innen wertvoller Unterstützung für Trauernde hingegen können diese Sprache aus rein logischen Gründen nicht sprechen. Sie können sich rein mental in die Situation hineinversetzen, doch ihre Bedeutung auf emotionaler Ebene kann meist nicht erreicht werden.

Das Umfeld versteht nicht

Aus diesem Unverständnis ergibt sich laut Hendrik Lind, dass Hilfsangebote aus dem Umfeld nicht so gemacht und angenommen werden können, wie sie gemeint und rational logisch als gut befunden wurden. Denn nur jemand, der Ähnliches erlebt hat und somit die gleiche Trauersprache spricht, versteht wirklich wie es dem:der Betroffenen geht – und zwar auf der emotionalen Ebene.

Oftmals verursacht diese Situation einen Rückzug der trauernden Person; der erste Schritt in eine Vereinsamung ist gemacht. Allein das Verstehen der Herzensargumente in der völlig neuen Situation der Trauer will gelernt werden. Trauer ist demnach ein Entwicklungsprozess. Sperren wir uns, entfernen wir uns nicht nur von unserem Umfeld, sondern sogar von uns selbst.

Trauerfreundschaften: Ich sehe dich in mir

Jemanden zu finden, der:die dieselbe Sprache spricht, ist aber nicht so leicht. Selbst in Trauergruppen seien die Schicksale so unterschiedlich, dass hier – ist die Leitung nicht gut – viel Kontraproduktives entstehen könne, erklärt Hendrik Lind. Der Schlüssel liegt für ihn im Eins-zu-Eins-Dialog. Deshalb hat er gemeinsam mit seiner Frau das Onlineportal TrostHelden gegründet, über das vergleichbar wie bei einer Dating-Plattform, Menschen mit ähnlichen Geschichten und Trauersprachen zusammengebracht werden. Denn treffen zwei Trauernde mit gleicher oder ähnlicher Trauersprache aufeinander, entstehe Verständnis auf Herzensebene. Meist reiche ein Sich-im-anderen-Erkennen, um den Zwist zwischen Kopf und Herz zu begleichen, das Gefühl anders oder gar "verrückt" zu sein. Gleichzeitig helfen solche Trauerfreundschaften dabei, die eigenen Gefühle in das Leben zu integrieren und sich dabei selbst neu kennenzulernen. 

Ist da ein Gegenüber, das Handlungen und Gedanken bestätigt – sprich: die gleiche Trauersprache spricht – wandelt sich das "verrückt“ durch die Spiegelung zu "normal“ beziehungsweise als der Situation geschuldet. Das wiederum führt zu großer Erleichterung und Selbstverständnis.

Da ist jemand, der Ähnliches fühlt, ein ähnliches Bedürfnis hat, sich auszutauschen, sich mit ähnlichen Gedanken befasst, auch dann, wenn das restliche Umfeld wieder in den normalen Alltag abgetaucht ist und der Raum oder vielleicht auch das Verständnis für die Trauer nicht mehr da ist. 

Die neue Sprache zu lernen, ist auch für das Umfeld hilfreich

Das eigene soziale Umfeld ist meist nicht der richtige Ansprechpartner für viele Bereiche der Trauergefühle, aufgrund der unterschiedlichen gesprochenen Sprachen. Doch allein das Wissen um Trauersprachen, so Lind, lässt Betroffene und ihr Umfeld versöhnlicher miteinander umgehen. Der trauernde Mensch braucht keine Lösungen aus seinem gewohnten Umfeld zu erwarten; andersherum braucht das Umfeld kein schlechtes Gewissen und Ohnmachtsgefühle zu entwickeln. Beide Seiten können realistische Wünsche oder Angebote haben. 

Wo findet man eine:n solche:n Trauerfreund:in?

Trauerfreundschaften zu vermitteln, hat sich TrostHelden zur Aufgabe gemacht. Man füllt einen Steckbrief aus und der Algorithmus schlägt Matches, also Übereinstimmungen, vor, die kontaktiert werden können. Hendrik Lind empfiehlt, mit mehreren Menschen Kontakt aufzunehmen, um zu sehen, ob es passt oder nicht. "Die Verbindungen, die nicht echt sind, die schlafen von alleine ein", sagt Hendrik.

Wir sehen ein anonymes Nest, in dem Vertrauen wachsen soll und wenn das Vertrauen da ist, fliegen die Vögel los und brauchen das Nest nicht mehr. Wenn das Vertrauen da ist, werden Klarnamen und Telefonnummern ausgetauscht.

So entstünden oft sehr tiefgreifende Freundschaften, die sich gegenseitig eine große Stütze sind. Ein Ort, an dem sie sich verstanden und gesehen fühlen und jemanden, der:die wirklich versteht, was diese Trauer gerade bedeutet. 

Hendrik Lind ist Mitgründer von TrostHelden undseit 2013 mit den Bedürfnissen Trauernder über hundertfache seelsorgerische Begleitung vertraut. Hendriks Herz schlägt dafür die Themen Tod und Trauer zu enttabuisieren und einen neuen Umgang mit ihnen zu finden. So ist er zum Beispiel regelmäßig in verschiedenen Podcast-Formaten zu Gast, gibt Interviews oder hält Vorträge. 

Brigitte

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel