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Abenteuer Heimat

Nizza kennt sie, aber Hamburg? Zwei Tage lang war Bym-Autorin Andrea Walter als Touristin in der eigenen Stadt unterwegs und entdeckte viel Neues

Fackel und Nachtwächter

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Es ist Freitagabend, der Mond scheint über dem Hamburger Hafen, und die Lichter der Schiffe spiegeln sich im Wasser. Normalerweise würde ich zu dieser Zeit längst mit Freunden in der Kneipe sitzen. Stattdessen halte ich eine Fackel in der Hand.

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Mit zwanzig Leuten stehe ich in der Speicherstadt, einem historischen Teil Hamburgs, und höre dem Nachtwächter zu. Genau genommen einem Stadtführer, der sich als Nachtwächter verkleidet hat.

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Die anderen kommen auch aus Hamburg und Umgebung. Sie sind auf einer Geburtstagsfeier und besichtigen die Speicherstadt ebenfalls zum ersten Mal. Komisch: Ich bin in Hamburg geboren und bestimmt schon 10000 Mal hier vorbeigefahren. Aber angeschaut habe ich mir diese Ecke noch nie. Und das ärgert mich. Reykjavík und Nizza kenne ich, aber warum interessiere ich mich so wenig für Hamburg?

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An diesem Wochenende wird sich das ändern. Ich will als Touristin die eigene Stadt entdecken. Mein Programm: Heute Abend die Tour durch die Speicherstadt. Morgen werde ich auf den Michel steigen und eine Hafenrundfahrt machen, dann zum berühmten Chilehaus schlendern und mir die Läden in der Altstadt ansehen. Für den Abend habe ich einen Rundgang durch St. Pauli gebucht.

Plattdeutsch

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"Na, mien Deern", sagt Volker Roggenkamp, der Stadtführer, und grinst so breit, wie er spricht, "wo geiht di dat?" Er spricht ein wunderbares Plattdeutsch. Wir gehen durch die Speicherstadt, vorbei an Teppichlagern, Fleeten und dem Gewürzmuseum. Roggenkamp schnackt, und ich höre genau zu.

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Sehe mir die Backsteinhäuser mit den Türmchen und Lastenaufzügen an und staune über alles, wovon ich vorher keine Ahnung hatte. Im 19. Jahrhundert auf Tausenden Holzpfählen errichtet, ist die Speicherstadt der größte historische Lagerhauskomplex der Welt. 20000 Menschen mussten damals umgesiedelt werden, die Fachwerkhäuser der Arbeiter, barocke Bürgerpalais und Renaissance-Villen wurden einfach abgerissen.

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Am Morgen laufe ich von meiner Wohnung aus zur St.-Michaelis-Kirche, dem Wahrzeichen der Stadt. Ich möchte auf den Turm steigen und einmal alles aus einer anderen Perspektive sehen.

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Warum, frage ich mich unterwegs, läuft man immer durch die gleichen Straßen? Sobald ich meine Haustür verlasse, habe ich doch die Wahl: rechts oder links herum, Haupt- oder Seitenstraße. Meistens gehe ich sogar immer auf derselben Straßenseite. Genau wie jetzt. Und nach ein paar Minuten finde ich mich in meinem Stammcafé wieder. "Einen kleinen Milchkaffee zum Mitnehmen", sage ich wie jeden Morgen.

Michel

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Ich muss mir eingestehen, dass es nicht einfach ist, aus seinem Trott rauszukommen und aufmerksam durch die Gegend zu laufen. Wenn ich verreise, sind meine Sinne auf Empfang geschaltet: Nizza riecht nach Orangen, Croissants und Sonnencreme. Auf Island ist die Luft so frisch wie Gletschereis. Nur Hamburg kitzelt nicht in meiner Nase, vielleicht weil ich mir einbilde, dass es so riecht wie immer.

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Dann steige ich die 453 Stufen des Michels hoch, stehe auf der Aussichtsplattform und schaue auf die Stadt: der Hafen, das Rathaus, die Segelboote auf der Alster. Autos und Menschen sehen aus wie aus einem Playmobil-Katalog. Normalerweise gehöre ich zu ihnen, laufe wie sie jeden Tag in der Stadt umher, irgendwohin unterwegs, ohne einmal zur Seite zu blicken. Ich bekomme ein schlechtes Gewissen: Warum schenkt man der eigenen Stadt nicht öfter liebevolle Aufmerksamkeit? Hamburg erscheint mir auf einmal nicht mehr so alltäglich.

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Und jetzt freue ich mich wahnsinnig auf die Hafenrundfahrt. Die Barkasse schaukelt auf der Elbe, der Geruch von Diesel hängt in der Luft. Wir fahren an riesigen Docks vorbei und an Containerschiffen, die gerade beladen werden. Einen ähnlichen Container habe ich einmal auf einem Bahnwaggon gesehen, als ich in Australien an einer Schranke wartete. "Hamburg" stand darauf. Ich weiß noch, dass mich das damals ein bisschen gerührt hat.

Hafen

Meine Hamburg-Tour kommt mir wie ein Puzzle-Spiel vor. Langsam fügen sich frische und altbekannte Bilder zu einem unbekannten, neuen Zuhause-Gefühl zusammen. Sogar Gerüche gehören dazu. Ich rieche den Kaffee, der in der Speicherstadt lagert, und den Diesel der Hafenbarkassen.

Chilehaus

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Mittags schaue ich mir das Chilehaus an, einen der wichtigsten Bauten des Expressionismus in Deutschland - trotzdem habe ich mir nie Zeit dafür genommen, dabei wohnt eine Freundin ganz in der Nähe. Es ist ein dunkles Klinkerhaus mit weißen Fensterrahmen, an einer Ecke läuft es spitz zusammen wie ein Schiffsbug.

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Am Nachmittag gehe ich bei einem Stadtrundgang durch St. Pauli mit. Einiges weiß ich bereits, doch vieles ist neu: Ich hatte keine Ahnung, dass die Prostituierten immer nur auf der einen Seite der Davidstraße stehen, weil auf der anderen Seite Sperrgebiet ist. Gerade diese Details sind es, die mir meine Heimat jetzt viel lebendiger machen.

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Trotzdem ist es irgendwie komisch, tagsüber über die Reeperbahn zu laufen. Wirkt alles ein wenig traurig, so grau und anders als nachts, wenn man nur die Leuchtreklamen sieht und nicht die Spitzengardinen in den Fenstern. Nach dem Rundgang spaziere ich noch einige Zeit allein weiter durch St. Pauli, gehe runter zum Hafen. Dort entdecke ich die "Seekiste", einen Laden mit maritimen Antiquitäten und allerlei Schnickschnack, betrieben von Günther Biller, der früher selbst zur See fuhr.

"Ab und an", meint er, "muss man raus, sonst fällt einem die Decke auf den Kopf. Aber wenn man wieder nach Hamburg kommt, dann merkt man: Ist gar nicht schlecht hier!" Das ist natürlich untertrieben, wunderschön ist es! Und für einen Moment bin ich stolz, dass ich es geschafft habe: zu reisen, ohne wegzufahren. In der "Seekiste" kaufe ich mir ein kleines Andenken - ein Buddelschiff, auf dem "Alte Liebe" steht. Vielleicht erinnert es mich ja nicht nur an Hamburg, sondern an all die anderen Dinge, auf die ich im Alltag viel zu wenig achte, weil ich sie für selbstverständlich halte.

Fotos: André Reuter

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