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Wandern an Südtirols Wasserwegen

Wer in den Vinschgau kommt, atmet tief durch. Genießt die Stille. Und manchmal die Einsamkeit. Eine Tour durch die herbschönen Berge mit Anna Maria Pichler.

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Anna Maria Pichler liegt im Bett und horcht. Es ist drei Uhr nachts. Draußen knacken Äste, raschelt Laub. Nur ein Geräusch fehlt: das Schlagen der Glocke. Anna Maria Pichler wartet ab. Eine halbe Stunde später hört sie wieder den vertrauten Klang. Zu spät. Einschlafen kann sie nicht mehr. Sie wird den Morgen abwarten und nachschauen, was in der Nacht passiert ist. Das ist ihr Job.

Ich bin schon auf den Beinen, als die Sonne hinterm Berg auftaucht. Für ein paar Tage bin ich in den Vinschgau gekommen, um an den Südtiroler Wasserwegen zu wandern. Packe Proviant in meinen Rucksack und laufe los. Über mir kleben einzelne Gehöfte an steilen Hängen. Schimmern grüne Flecken zwischen Felslandschaften - Kartoffeläcker, kleine Weinberge, Weiden für die Kühe. Ich pflücke Blumen, die am Wegesrand wachsen, weiße, die wie zarte Sterne aussehen, blaue Glocken, lilafarbene Pinsel. Unter mir plätschert Wasser am Berg entlang. Vor einer Holzhütte steht, wie verabredet, Anna Maria Pichler.

Am Sonnenberg im Vinschgau in Südtirol wird sie nur "die Meudel" gerufen. Das ist der Vinschger Dialekt für Maria. Die 70-Jährige ist Waalerin und hält einen Waal, einen der vielen Bewässerungskanäle, in Schuss. Die schmalen Kanäle holen sich ihr Wasser von einem Gletscherbach oder einer Quelle und bringen es wie ein Aquädukt quer zu den Hängen ins Tal. Ohne das Wasser wäre die Region eine Ödnis - im Vinschgau regnet es selten, und die Sonne scheint an mehr als 300 Tagen im Jahr. Die Wege an den Südtiroler Waalen sind zu beliebten Wanderrouten geworden. Durch Wälder und Dörfer, an Schlössern und Kirchen vorbei führen sie durch die Bergwelt. Der Schnalswaal ist Anna Maria Pichlers Revier.

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Das Wasser ist glasklar und eiskalt. "Die Meudel" nimmt mich heute mit auf ihre Tour. Wir gehen zügig mit dem Fluss der Strömung. Das Rauschen im Ohr spüre ich und wie mein Kopf langsam frei wird, ich meinen eigenen Rhythmus finde. Der Boden federt sanft unter meinen Füßen. Anna Maria Pichler schreitet mit großen Schritten zügig aus. Alle paar hundert Meter bückt sie sich und sammelt Geäst und Blätter aus Holzgittern im Waal. Wenn der Kanal verstopft und das Wasser nicht mehr fließt, hört die kleine Glocke auf zu schlagen, erzählt mir die Waalerin. Sie redet nur wenig. Es wirkt, als koste sie jeder Satz eine gewisse Anstrengung.

Hinter einer großen Lärche stutzt sie, starrt ins Wasser und murmelt: "Was haben wir denn da." Breitbeinig stellt sie sich über den Waal, zieht die Ärmel ihrer Trachtenjacke hoch und greift mit ihren kräftigen Händen ins Wasser. An den Läufen zieht sie ein totes, nasses Lamm heraus. "Das ist hie'", sagt die alte Frau nur und wirft es den Abhang hinunter. "Wenn es trocken ist, wird es sich der Fuchs holen."

Einst gab es in Südtirol rund 600 Kilometer Waale, von Bauern in Knochenarbeit in den Fels gemeißelt. Manche der Bewässerungsgräben sind fast 600 Jahre alt. Im Laufe der Zeit ersetzte man sie durch Betonrohre, die pflegeleichter sind. Wenn es nach der Mehrheit der Bauern ginge, müssten auch die verbliebenen 200 Kilometer Waale modernen Wasserrohren weichen. Sie würden Geld sparen, das sie nun ausgeben müssen für die Waaler. Aber die letzten Wassergräben stehen unter Schutz.

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Anna Maria Pichler schert sich nicht um den Streit zwischen Tradition und Moderne. "Die Arbeit muss getan werden", ist ihre Lebenserfahrung. Deshalb sprang sie ein, als vor zwei Jahren ihr Vorgänger in Rente ging. Eigentlich ist der Job Männersache. Weil "die Meudel" zupacken kann, gab es keine Probleme. Für sie ist die Arbeit ein schönes Zubrot. Zu Hause ist sie auf dem Sonnenhof am Sonnenberg. Das Gehöft hat sie mit ihrem Mann, dem Walter, vor mehr als 30 Jahren aufgebaut. Um die Glocke am Waal besser zu hören, schläft sie in der Waalerhütte ein paar hundert Meter vom Hof entfernt.

Elf Kilometer läuft Anna Maria jeden Tag die Berge hinauf und elf Kilometer wieder hinab. Mühelos. Meine Waden schmerzen, meine Füße brennen, als wir das Schnalstal herunterkommen. Reinhold Messners Schloss Juval taucht hinter einer Wegbiegung auf, ich sage Lebewohl und mache noch einen Abstecher. Auf einem schroffen Felsen thronen das ockerfarbene Gemäuer und der Wehrturm. Lamas stehen auf den Wiesen und gucken. Reinhold Messners Welt in der Burg, die Maskensammlung und Tibetika-Ausstellung, seine Kletter- und Survival-Sachen im Keller, lasse ich links liegen. Laufe hinunter zum Schlosswirt, der mir ein Appartement vermietet hat, und freue mich auf das leckere Essen, auf die Nocken mit Parmesan, Salbei und Butter. Nach ein paar Tagen kenne ich die meisten Einheimischen auf Juval, am Abend treffen sie sich in der Wirtschaft. Der Wein fließt aus dem Hahn, so wie in Deutschland das Bier. Gegen neun Uhr schaut Anna Maria Pichler vorbei. Sie trinkt noch einen Roten, bevor sie sich in ihrer Waalerhütte niederlegt. Solange die Glocke schlägt, schläft sie gut.

Reise-Infos Südtirol

Telefon: Vorwahl für Italien 0039, danach die Rufnummer mit der Null.

Unterkunft: Hotel Lindenhof: Designerhotel in Naturns, großer Wellnessbereich, gute Küche (Tiroler und italienische Spezialitäten); DZ/F ab 71 Euro (Kirchweg 2, I-39025 Naturns, Tel. 04 73/66 62 42, Fax 66 82 98, www.lindenhof.it).

Stefanshof: alteingesessener Gasthof, rustikal und modern eingerichtet, gutes Essen; DZ/HP ab 80 Euro (Familie Mair, I-39025 Plaus bei Naturns, Tel. 04 73/ 66 00 85, Fax 66 10 13, www.stefanshof.com).

Schlosswirt Juval: Urlaub auf dem Bauernhof auf 800 m Höhe, gemütliche Ferienwohnungen mit alten Bauernmöbeln, leckeres Essen; Appartements für zwei bis sechs Personen, ab 60 Euro für zwei Personen (Juval 2, I-39020 Kastelbell-Tschars, Tel. und Fax 04 73/66 80 56, www.schlosswirtjuval.it).

Falzrohr-Ferienhaus: modernes Holzhaus inmitten eines Apfelhains am Sonnenberg nahe des Dorfes Tschars. Zwei Schlafzimmer, Wohnraum mit Küche, große Terrasse mit Blick übers Vinschgau; ein bis fünf Personen ab 48 Euro (Klostergasse 19, I-39020 Kastelbell-Tschars, Tel. 04 73/62 43 65, Fax 62 43 65, www.falzrohr.com).

Essen und Trinken: Restaurant Schlosswirt Juval: tagsüber Kleinigkeiten wie Salate, Leberkäse, Nocken, abends wechselnde italienische und Südtiroler Küche. Gemütliche Gasträume auf mehreren Etagen, draußen Felsgartenlokal; Gerichte ab 6 Euro (Juval 2, Kastelbell-Tschars, Tel. 04 73/66 80 56, www.schlosswirtjuval.it).

Jausenstation Sonnenhof: einfaches Essen wie selbst gemachte Suppen, Knödel, Speck und Käse. 70er-Jahre-Einrichtung, große Sonnenterrasse; Gerichte ab 3 Euro (Juval, Tel. 04 73/66 78 92).

Jausenstation Schlossbauer: selbst gemachte Holunder- und Zitronenmelisse-Säfte, Eiergerichte, Speck, gleich neben Schloss Juval. 120 Jahre alte, hübsche holzvertäfelte Gaststube mit Kachelofen; Gerichte ab 3 Euro (Juval 4, Kasteibell, Tel. 04 73/66 82 97).

Bücher: "Waalwege in Südtirol" von Gianni Bodini, Bildwanderführer mit schönen Fotos und genauen Beschreibungen verschiedener Waalwege (TappeinerVerlag, Italien, 15,80 Euro).

"Wandern am Wasser in Südtirol" von Peter Mertz, Wanderführer mit Routen an Waalen und Bächen entlang, zu Wasserfällen und Seen (Bruckmann Verlag, 19,95 Euro).

"Südtirol" von Georg Weindl, Udo Bernhart, 15 ausgewählte Touren in der ganzen Region (Bruckmann Verlag, 6,95 Euro).

Infos: Tourismusverein Naturns. Rathausstraße 1, I-39025 Naturns, Tel. 04 73/66 60 77, Fax 66 63 69, www.naturns.it (Broschüren, Infohefte und Auskünfte für Juval am Sonnenberg, Website mit Infos zu Waalen).

Tourismusverband Vinschgau. Kapuzinerstraße 10, I-39028 Schlanders, Tel. 04 73/620 480, www.vinschgau.net (Prospekte, Broschüren, Karten zu Waal-wegen im Vinschgau).

Text: Kerstin Rose Fotos: Astrid Prangel

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