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Wandern: Von Italien nach Frankreich

Wandern: Von Italien nach Frankreich
© Alessandro Cristiano / Shutterstock
Von Italien über die Berge nach Frankreich ist der Weg voller Ausblicke, einsam und manchmal auch anstrengend - vor allem, wenn man wie BRIGITTE-Mitarbeiterin Tinka Dippel hinter der großen Schwester herläuft.

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Auf einmal fühlt sich alles leichter an. Die dicken Schuhe, die mich in den letzten Tagen oft gequält haben, spüre ich kaum noch. Der Rucksack, der an meinen Schultern gezogen und gezerrt hat, stört nicht mehr. Weil uns jetzt alles zu Füßen liegt und der Weg von hier nur noch nach unten geht. In alle Richtungen nichts als Berge. Untenrum tragen sie einen grünen Rock, der nach oben immer heller wird und sich in den zackigen braungrauen Felswänden verläuft. Ein paar weiße Farbtupfer zeigen, wo auch jetzt im August noch Schnee liegt. Wolken in allen Weiß- und Grauschattierungen ziehen über den Himmel, und ihre Schatten wandern über den Bergen mit.

"Da hinten, siehst du, dort haben wir vorgestern die Schneeballschlacht gemacht", Niki deutet über einige Zacken hinweg, hinüber nach Italien, wo unter einem Pass noch etwas Weiß erkennbar ist. Meine große Schwester, immer behält sie die Orientierung. Sie kneift die Augen zusammen und fährt mit dem Finger in der Luft den Weg über Pässe, Wiesen und Geröllfelder nach, den wir gegangen sind, bevor wir über die Grenze nach Frankreich kamen.

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Was hab ich gekeucht auf dem Weg, meine Schwester meist eine Serpentine über mir. Irgendwie kamen da Erinnerungen auf an eine kleine Tinka, die, dem Kraxen-Alter entwachsen, viele Wochenenden fluchend hinter ihrer Familie die Berge südlich von München hochstapfte. Damals hätten meine Eltern bestimmt nicht darauf gewettet, dass ihre beiden Töchter mal freiwillig beschließen würden, von Italien über die Alpen nach Frankreich zu wandern. Dass sie mit 35 und 31 Jahren für sich entdeckt haben, dass es nicht nur darum geht, irgendwo anzukommen, sondern jeden Schritt zu genießen - na ja, fast jeden.

Wir starten unsere Tour im italienischen Mairatal, etwa 100 Kilometer südwestlich von Turin. Die großen Touristenströme sind an diesem schmalen, dünn besiedelten Tal bisher vorbeigefahren. Aber immer mehr Wander-Insider entdecken die alten Wege, auf denen früher die Saisonarbeiter nach Frankreich gingen. Und wer einmal die Ruhe und Abgeschiedenheit genossen hat, kommt meist wieder. So entwickelt sich langsam ein Wandertourismus, im Tal gibt es einige Hotels und Campingplätze, in den Bergdörfern Etappenunterkünfte, die hier Posto Tappa heißen. Serpentinenstraßen verbinden die kleinen Orte auf mittlerer Höhe mit dem Tal. Die Einheimischen sprechen neben Italienisch noch Okzitanisch, eine romanische Sprache, die nur in Randgebieten Italiens und Spaniens und im südlichen Frankreich überlebt hat. Viele Menschen haben in den letzten Jahrzehnten die karge Gegend verlassen, manche Weiler kleben ganz ausgestorben am Hang. Wir wollen vom winzigen San Martino, einer verschachtelten Häuseransammlung, über die uralten Dörfer Elva und Ussolo zum Campo Base am Ende des Tales wandern - und in sieben Tagen im französischen Ubaye-Tal sein.

Niki läuft vorneweg, behält die Wanderkarte, die Markierungen am Weg und die Wetterlage im Auge. Skeptisch guckt sie nach den Wolken, die in den ersten Tagen den blauen Himmel verdecken. Dann treibt sie mich an, mahnt, dass wir vor dem Regen im nächsten Posto Tappa sein sollten. "Mit den Bergen ist nicht zu spaßen", wiederholt sie. Dann muss ich lachen, weil wir seit Jahren zum ersten Mal gemeinsam bergsteigen - und sich an der Rollenverteilung nichts geändert hat: Niki, die Vorausschauende, der es nie schnell genug gehen kann - ich die Verträumte, die extrem trotzig wird, wenn man sie hetzt.

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In den verwinkelten Gässchen von Ussolo gackern Hühner, sonst ist zwischen den schiefen alten Häusern nichts zu hören und niemand zu sehen. Ich frage mich, wo hier für unsere ramponierte Karawane ein Bettenlager und ein mehrgängiges Abendessen bereitstehen sollen. Beides haben wir gestern telefonisch vorbestellt, wie es hier üblich ist. Und in einem der neueren Häuser am Ortsrand wartet tatsächlich die Wirtin Carla mit ihrem Neffen auf die einzigen Gäste für heute. Die Unterkünfte sind einfach: Zimmer voll Matratzen oder Stockbetten und Gemeinschaftsbad. Wir müssen uns spätestens einen Tag im Voraus anmelden, damit genug zu essen da ist - und es ist immer mehr als genug. Mit einer Karaffe Wein sitzen wir noch auf dem Balkon und blicken auf die dunklen Wolken, deren Ränder vom Mond hell angestrahlt werden.

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Nach dem Abschied und einem Tag Marsch durch tief hängende Regenwolken bis zum Campo Base am Ende des Tales stehen wir endlich vor den 3000-Meter-Bergen. Um elf Uhr haben wir schon 600 Höhenmeter hinter uns. Seit Stunden keinen Menschen, dafür das erste Murmeltier. In einem Meer aus gelben Blumen sitzt es mitten auf einem Felsen, sieht uns an und verschwindet erst, als wir nur noch wenige Meter entfernt sind, in seinem Loch. Zehn Murmeltiere und drei Edelweiß am Wegesrand später haben wir es aufgegeben, darauf zu zeigen. Wir bleiben stumm. Ein Schritt, ein Stockeinsatz, drei Grashüpfer, ein im Wind zitterndes Büschel Vergissmeinnicht, sonst nichts. Man kann die Grenze von hier aus schon sehen, und der verrostete Stacheldraht, auf den wir immer wieder stoßen, ist ein Hinweis darauf, wie gut sie einst bewacht gewesen sein muss.

Nach dem Steilanstieg laufen wir wie durch eine Mondlandschaft, die von hohen Zacken eingerahmt ist. Es geht nur noch leicht bergauf, zwischen dicken Felsbrocken liegen kleine Grasmatten, auf denen Murmeltiere spielen. Gigi zeigt auf die hohen Felszacken: "Im Winter laufen wir da mit Skiern rauf und fahren durch die Rinnen runter." Das wiederholt er in Abwandlungen alle paar hundert Meter, unsere große Grenzüberschreitung muss für ihn so etwas wie ein Sonntagsspaziergang sein.

Für uns ist sie der Höhepunkt unserer Tour. Die letzten Meter über Schotterberge, vorbei an einem See auf den Col Gippiera. Dann sind es noch zwei Schritte - wir sind in Frankreich. Ein kleiner Haufen Steine, ein paar Holzpfeile und ein Schild mit der Aufschrift "2948 Meter" markieren die Stelle. Das Spektakuläre ist der Blick: Zwischen hoch aufragenden Felsen liegen Täler, die vor tausenden von Jahren ein Gletscher gegraben hat. Und zu beiden Seiten Seen. Der vor uns heißt "Lac de neuf couleurs" - See der neun Farben. Tatsächlich schimmert er von oben bläulich, und als wir eine Viertelstunde später an seinem Ufer stehen, mischen sich Rot- und Brauntöne darunter. Der Abstieg nach Saint Ours, etwa 1000 Höhenmeter runter, ist wie ein Weg in eine andere Welt. Wir sind kaum allein, weil viele Tagesausflügler aufsteigen, Familien und mit Zelten bepackte Cliquen. Das Ubaye-Tal ist weiter, üppiger und dichter besiedelt. Die Häuser sind moderner als im Maira-Tal, haben keine Schieferdächer. Wir laufen über eine Wiese, das lange Gras wiegt sich im Wind. Mit jedem Höhenmeter weniger wird es heißer. Schon kann ich mir nicht mehr vorstellen, vor ein paar Stunden im Fleece auf dem Gipfel gesessen zu haben, der über uns aufragt. Es riecht nach Nadelbäumen und - Niki reckt die Nase in die Luft - "nach Meer".

Reise-Infos: Von Italien nach Frankreich

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Reisezeit Je nach Lage - im Maira-Tal dauert die Saison etwa von Mitte Juni bis Mitte September. Davor und danach ist das Wetter besonders auf den höheren Bergen sehr unsicher.

Anreise Maira-Tal Mit Zug oder Flugzeug bis Turin, von dort mit dem Zug nach Cuneo. Von Cuneo mehrmals täglich Busse nach Dronero und Acceglio (Busfahrplan unter www.wanderweb.ch/maira. Starten auf der französischen Seite: Flugzeug nach Nizza, von dort mit dem Zug nach Digne oder von Deutschland aus mit dem Zug nach Gap. Von Digne und Gap Busverbindungen nach Barcelonnette.

Geld In den einfachen Etappenunterkünften kann man nur mit Bargeld bezahlen.

Ausrüstung Auch im Hochsommer immer mit plötzlichen Wetter- und Kälteeinbrüchen rechnen. Wichtig sind gut eingelaufene Wanderschuhe, Regenponcho, winddichte Jacke. Für die Etappenunterkünfte Hüttenschlafsack mitnehmen. Wer nicht immer die komplette Ausrüstung tragen möchte: Ein Taxi übernimmt den Transport (Sherpa Bus, Gianni Pilotto, Tel. 0171/99024). Mehr zur Ausrüstung unter www.valmaira.de.

Informationen Sehr gute Informationen und jede Menge Material (auch eine neu erschienene Mairatal-Karte im kleinen Maßstab) gibt es über den Bergführer Jörg Klingenfuß. Er verwaltet die Internetseite des Alpen-Weitwanderweges GTA (grande traversata delle alpi) und bietet im Rimella- und Sesiatal (auch Piemont) Standortwanderungen für Gruppen mit bis zu zehn Leuten an (Hagenloher Straße 14, 72070 Tübingen, Tel. 07071/ 62830, www.gtaweb.de).

Im Tourismusbüro in Dronero gibt es Broschüren, Karten und Listen mit Unterkünften, meist allerdings auf Italienisch (Informazione e Accoglienza Turistica Valle Maira, Via IV Novembre 1, 12025 Dronero, Tel. 0039/0171/91 7080). Informationen auf Deutsch über Maria Schneider im Centro Culturale Borgata in San Martino inferiore (Tel. 0039/0171/999186).

Bücher und Karten"Antipasti und alte Wege", Ursula Bauer und Jürg Frischknecht (Rotpunktverlag Zürich, 22 Euro). Auch im Internet, mit Bildern und Adressen der meisten Unterkünfte: www.wanderweb.ch/maira.

Die Route aus der Geschichte ist vollständig beschrieben im Wanderführer "Chambeyron Val Maira" mit Karte und Buch (Maßstab 1:25000, Alpes sans frontières, 19 Euro). "Valli Maira Grana Stura" (Maßstab 1:50000, Instituto Geografico Centrale, 9,80 Euro). Klein, leicht, schön zum Lesen für unterwegs: "Der Mairatal-Weitwanderweg" (Verlag der Weitwanderer, 13,80 Euro).

Übernachten Die meisten Wanderer übernachten in Posti Tappa, Unterkünften mit Mehrbettzimmern. In den kleinen Orten oft die einzige Alternative. Immer mindestens einen Tag im Voraus reservieren, für größere Gruppen auf jeden Fall länger vorplanen. Einige Wirte sprechen allerdings kein Deutsch oder Englisch.

Posti Tappa für die beschriebene Tour:

Centro Culturale Borgata: wird von der Kölnerin Maria Schneider betrieben und ist u.a. unter deutschen Wanderern sehr beliebt - auf jeden Fall reservieren. Matratzenlager, bei schönem Wetter auch auf der Terrasse. Auch Zweibettzimmer. Hier kann man gut ein paar Tage im winzigen San Martino Pause einlegen. Matratzenlager/HP (fünfgängiges Abendessen) 33 Euro. DZ/HP ab 45 Euro (12020 Stroppo, Tel. 0039/0171/999186).

Foresteria "La Fernisolo": in Elva, gleich um die Ecke sind eine schöne alte Kirche und eine Käserei, die man nicht verpassen sollte. Ü/HP 30 Euro (12020 Elva, Borgata Serre 10, Tel. 0039/0171/997986).

Posto Tappa Ussolo: im Gemeindehaus neben der Kirche. Einfach, aber sehr schön gelegen, Waschmaschine. Ü/HP 30 Euro (Tel. 0039/ 348 3139190 ). Campo Base: Kletterer- und Wanderer-Treff. Kontakte zu Bergführern. Ü/HP 33 Euro (12021 Acceglio/Chiappera, Tel. 0039/0171/ 99068.

Refuge de Chambeyron: Wellblechhütte auf 2700 Metern mit Platz für rund 70 Wanderer. Übernachtung 13,70 Euro, Abendessen und Frühstück 20 Euro (Info über Eric Audureau, 04530 Saint Paul/Ubaye, Tel. 0033/492/843383).

Gite Auberge de St. Ours: schöner Garten zum Entspannen mit tollem Blick auf die Berge. Kleine, saubere Zimmer mit eigener Dusche. Ü/HP 36 Euro (Hameau de St Ours, 04530 Meyronnes, Tel./Fax 0033/492/843703).

Text: Tina Dippel Fotos: Nora Bibel

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