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Klettern in Südfrankreich

Klettern in den Calanques: Glitzerndes Meer im Rücken. Kribbeln im Bauch. Glücksgefühle. Christine Hohwieler segelte in Südfrankreich von einer Klippe zur nächsten und wollte mit dem Klettern gar nicht mehr aufhören.

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Wenn ich abschalten will, mache ich Sport. Yoga, Pilates, Laufen, was normale, gestresste Frauen so machen. Und wann immer ich voller Inbrunst versuche, zu mir zu kommen, während ich also trabe oder dehne und strecke, komme ich stattdessen auf dumme Gedanken. "Dreimal die Woche, das mache ich jetzt dreimal die Woche, zwei Kilo runter, Mist, ich brauche Schaumfestiger, frisches Heu für die Meerschweinchen, kleine Wutziputzis, wo ist eigentlich Annettes Nudelmaschine, Schaumfestiger." So was kann ich locker eine Stunde lang denken, und dann bin ich fertig. Mit dem Sport und vom vielen Denken.

Diesmal denke ich nicht. Da unten, sehr weit unten, ist das Mittelmeer, glitzerndes, blendendes Blau. Meine Fingerkuppen tasten über den rauen Kalkstein, hin und her, als würden sie ihn lesen. Ich drücke die Fußspitzen in den Fels, strecke den Rücken durch, habe Juckreiz auf der Stirn, aber ich lasse den Schweiß runterlaufen, keine falsche Bewegung jetzt, ich scanne die Wand, als hinge mein Leben davon ab, es ist ein scharfer Cocktail aus Energie und Angst, der durch meine Adern schießt, "links, weiter links, da ist ein Griff", ruft Peter, und dann hab ich ihn. Ab da erscheint mir alles leicht, jetzt mache ich Tempo, schiebe das Seil aus dem Weg, klettere hoch, kraftvoll und sicher, mein ganzer Körper ein inneres Jauchzen.

Mit Spaß hatte ich gerechnet: Spätsommer in Frankreich, eine Woche klettern in den Calanques, dieser strahlend weißen Kalkfelsenlandschaft zwischen Marseille und Cassis. Mehr als 2000 Kletterrouten gibt es hier, und sie machen das einzigartige Naturschutzgebiet zum größten Sportkletterrevier Frankreichs. Geradezu unerhört vergnüglich wird das Ganze, wenn man die Buchten seiner Wahl per Segelboot ansteuern kann. In unserem Fall mit einem 14 Meter langen Katamaran namens "Massalée", auf dem wir die nächsten Tage verbringen werden, sofern wir nicht gerade die Wände hochgehen. Sechs Frauen und vier Männer sind wir, zwischen Ende 20 und Anfang 50, zehn Leute also, auf sechs Kabinen verteilt - nichts, was erfahrene Segler schocken könnte. Und auch mich stört es nicht, denn ich habe nicht vor, in den nächsten Tagen viel Zeit im Bauch des Schiffes zu verbringen.

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Ich bin in einem riesigen Vergnügungspark für Erwachsene gelandet - das wird mir klar, während wir mit Kaffeebechern in der Hand auf Deck sitzen und unserem ersten Kletterziel, der Calanque de Sormiou, entgegenschippern. Wir passieren unzählige spaßorientierte Kleingruppen: in Taucheranzügen auf Schlauchbooten, paarweise paddelnd in Kajaks, zwischendrin die obligatorischen Jetski-Rabauken und natürlich, weit oben in den sonnenbeschienenen Felsen, jede Menge Kletterer. "Hast du den Überhang da vorn gesehen?", fragt Rita beiläufig, aber da ist ein lustvolles Funkeln in ihren Augen. Sie deutet auf einen Felsvorsprung in der Ferne, der aus meiner Sicht bestenfalls von einem Gecko überwunden werden könnte. "6a", sagt Elke völlig ungerührt, "maximal eine 6b."

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Die Zahlen und Buchstaben sind ab jetzt unser zentrales Thema, sie sind eine wichtige Orientierungshilfe für Kletterer. Jede Route wird in eine Bewertungsskala eingeordnet. Eine 3a schafft ein trainierter Anfänger ohne ernsthafte Probleme, für eine 6b braucht es schon viel Übung und geschmeidige Muskeln. Entscheidend für den Schwierigkeitsgrad der Route ist die Schlüsselstelle, also der Punkt, der die größten Herausforderungen an den Kletterer stellt, zum Beispiel eben jener Überhang, den ich im Leben nicht überwinden könnte. Glücklicherweise gibt es an Bord ein Kletterbuch über die Region, in dem steht, welche Routen für Menschen wie mich realistisch sind und welche nicht.

Elke und Rita klettern seit Jahren, im Sommer draußen, im Winter in der Halle, und alle zwei Wochen treffen sich die Rheinländerinnen zum gemeinsamen Training. Mit Peter Schmid, dem Inhaber der Alpinschule Allgäu, außerdem Bergführer und Leiter unseres Kletter-Segel-Törns, haben sie bereits früher Reisen gemacht und sich darüber kennen gelernt. "Klettern ist eine der wenigen Sportarten, bei der Frauen den Männern gewachsen sind", erklärt Peter gut gelaunt. "Was Männer mit Kraft versuchen, erreichen Frauen oft schneller mit Technik, sie klettern tänzerisch und mit Geschick, wo Männer sich kraft ihrer Muskulatur hochzuwuchten versuchen." "Peter", sage ich und starre auf die tückische Stelle im Fels, "Peter, wir gehen da nicht hoch, oder?" Mein letzter Kletterkurs liegt 20 Jahre zurück, nur einmal habe ich meine mickrigen Kenntnisse aufgefrischt. "Da sind jede Menge wunderbare 3er und 4er, damit fängst du jetzt mal an", sagt Peter, überhaupt wollten es alle ruhig angehen lassen, kein Grund zur Panik.

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"Andreas, bitte, kannst du mich noch mal sichern", rufe ich beseelt und binde das Seil in die Anseilschlaufe meines Klettergurts. Ich will hoch, immer wieder, meine Beine sind längst bleischwer, meine Fingerspitzen sehen aus, als hätten sie Sonnenbrand, es gibt keine Stelle mehr an meinen Füßen, die nicht schmerzt, aber ich kann nicht genug kriegen, nicht genug von diesem Rausch. Während Roland, Andreas und ich in den ersten drei Tagen locker jede 5b und c genommen haben, weil wir nur im Nachstieg, also von oben gesichert, geklettert sind, wagen wir heute unsere ersten leichten Vorstiege. "Das ist das richtige Klettern", erklärt Peter, "nur beim Vorstieg hast du die Route wirklich gemeistert, mit allem, was dazugehört." Im Vorstieg wird von unten gesichert, wer klettert, nimmt das Seil mit hoch. Riskanter ist es dadurch, dass man bei einem Sturz deutlich tiefer fallen kann: Liegt der letzte Haken zwei Meter zurück, fällt man die runter, plus zwei Meter Seillänge, plus Seildehnung, denn das Ding gibt natürlich nach, wenn eine 62-Kilo-Frau drinhängt.

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Jetzt wird's also ernst. Mit Herzklopfen befühle ich die Wand, schaue nach geeigneten Griffen und solidem Stand, während ich mich zur ersten Zwischensicherung hochschiebe. Ich überlege sehr genau, wo ich hintrete. Am schwierigsten ist es beim letzten Haken am Ende der Route, jetzt keinen Fehler machen, den richtigen Knoten öffnen, neu sichern, ich prüfe alles fünfmal, ich will da nicht runterfallen. Und dann lasse ich mich ab. Alles passt. Ich hüpfe an der Wand entlang Richtung Boden, erfüllt von staunendem Frohlocken. Klettern ist ein technischer Sport, ordentlich Ausrüstung haben wir an diesem Vormittag wieder vom Schlauchboot über einen halbstündigen Weg hierher getragen, Seile und Karabiner, Gurte, Helme und enge Kletterschuhe in verschiedenen Größen. Das Empfinden dagegen, das dieser Sport in mir auslöst, ist pur. Reine Konzentration, körperliche Präsenz, unverdünntes Glück. Offensichtlich bin ich nicht die Einzige, der es so geht. "Le Principe de Plaisir" (Lustprinzip), "Hymne a la vie" (Hymne ans Leben), "La Joie du Sexe" (Freude am Sex) - so und ähnlich heißen die Kletterrouten in den Calanques. Getauft wurden sie von denjenigen, die sie in den vergangenen Jahren angelegt haben, erfahrenen Kletterern, die zum Sichern Haken in die Wand gebohrt haben.

"Klettern, das ist der perfekte Urlaub für Leute, die eigentlich keine Zeit für Urlaub haben. Du brauchst nicht ein, zwei Tage, um anzukommen, sondern bist sofort mittendrin", sagt Simone zufrieden und beißt in ihr Käsesandwich. Nach drei Routen hat sie genug für heute, gemeinsam machen wir uns schon mal auf den Rückweg. Simone und ihr Mann Roland haben sich vor einiger Zeit selbständig gemacht, erzählt sie, eine Woche abschalten, mehr ist nicht drin, aber der Instant- Erholungseffekt hat längst eingesetzt. Wir kichern wie die Teenies, als wir unten am Wasser ankommen, und beschließen, unsere verschwitzten Klamotten einfach liegen zu lassen und zum Segelschiff zu schwimmen, statt zu warten, bis uns das Schlauchboot abholt. Ich bin nackt, ich kreische, das Wasser ist kühl und herrlich, die Sonne scheint, vor uns das Boot, und meine einzige Sorge momentan ist, dass ich gleich platze vor lauter Wonne.

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Oder vom vielen Essen, denn das ist definitiv die zweitwichtigste Beschäftigung bei unserer Reise. Wir frühstücken lange und opulent, Peter bekocht uns jeden Abend, mal gibt es Goldbrasse vom Grill, mal Risotto, mal Pasta, und zwischendurch: wird gegessen. Es ist wirklich erstaunlich, was an Lebensmitteln in so eine winzige Schiffsküche passt, wie viel Platz für Kekse und Cracker, Käse und Oliven, Wein und Pastis die kleinen Schränkchen und Schubladen bieten. Sobald jemand eine Tüte aufreißt, entsteht ein Menschenauflauf, wird ein Parmesanklumpen dazugeholt, mit Schokolade ergänzt und mit Rotwein gespült. Für Ganzkörper-Spiegel ist auf dem Schiff kein Platz, so dass die Leichtigkeit, die ich beim Klettern verspüre, auch in andere Lebensbereiche überschwappt.

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"Schwimmende Bade-Insel" hat Kai, unser Skipper, die sehr geräumige "Massalée" spöttisch genannt. Aber dann kommt am Mittwochmorgen plötzlich Mistral auf, und zum ersten Mal können wir die Segel setzen. Bislang fand ich es einfach nur nett, auf dem Boot zu wohnen. Morgens in einer noch menschenleeren Bucht aufwachen, schwimmen gehen, wann immer wir wollen, nachts das Plätschern, feine Sache. Und jetzt verwandelt sich unser bequemer Kahn auf einmal in ein rasantes Geschoss. Eine Stunde lang flitzen wir vor der Küste entlang, dann wird der Wind aber doch zu stark, und wir legen an, schön war's.

Ich werde hier nicht abreisen, ohne endlich eine 6a geschafft zu haben, wenn auch nur im Nachstieg. Viermal habe ich es nun schon probiert, viermal bin ich an der Schlüsselstelle gescheitert. Das ist mein letzter Versuch, und meine Muskeln sind schon mürbe, aber ich muss es einfach schaffen. Ich stehe wackelig in vier Meter Höhe an der Schlüsselstelle und starre sie böse an: "Ich mach dich platt, Miststück", denke ich, "6a, ist doch tralala, hoch da, wo ist meine Sonnenbrille, rechts, links, geradeaus, Buntwäsche, drei Kilo, Meerschweinchen. . . " Ich plumpse ins Seil, mein Hirn hat mich wieder.

Reise-Infos: Klettern in Südfrankreich

Klettern und Segeln heißt das Programm, das die Alpinschule Allgäu in den Calanques, Südfrankreich, organisiert. Die einwöchige Gruppenreise für vier bis acht Personen beginnt und endet in Marseille; Preis pro Teilnehmer: 1240 Euro. Übernachtung und Verpflegung an Bord eines Segelschiffs. Man sollte Klettererfahrung im Nachstieg bis zum 4. Grad haben, Segelkenntnisse sind nicht nötig (Alpinschule Allgäu, Peter Schmid, Bahnhofstraße 5, 88171 Weiler im Allgäu, Tel. 08387/ 99032, www.alpinschule-allgaeu.de).

Text: Christine Hohwieler Fotos: Stefan Neuhauser Ein Artikel aus BRIGITTE

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