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Kanaren: Teneriffas Norden

Strand Las Teresitas
© Olena Tur / Shutterstock
Jenseits von Partyzonen und absoluter Einsamkeit: Eine Erkundungstour durch den grünen Norden Teneriffas.

"Hör auf zu lachen, Anita! Du hast deine Zähne nicht an!", ruft ein junger Mann von der anderen Straßenseite. Doña Anita, 70-jährige Kioskbesitzerin, hat zwar heute ihr Gebiss zu Hause vergessen, von ihrem breiten, gackernden Lachen lässt sie sich trotzdem nicht abhalten. Im Gegenteil, sie posiert herzlich gern für Fotos. "Ja, bitte, machen Sie ruhig Aufnahmen!", sagt sie zu uns, "und achten Sie darauf, dass viel von der Auslage zu sehen ist."

Anita ist die bekannteste Bürgerin der Stadt La Orotava auf der Nordseite Teneriffas. Seit 60 Jahren steht sie jeden Tag von neun bis neun in ihrem winzigen, tortenstückförmigen Eckladen an der Plaza de la Constitución. Bei Doña Anita gibt es Sachen, die im Supermarkt nebenan billiger zu haben sind, trotzdem kauft man sie gern bei ihr. Weil Anita sich mit Batterien für Digitalwecker genauso auskennt wie in La Orotava. Uns gibt sie einen Ausgeh-Tipp, den wir uns für den Schluss der Reise aufheben.

Wer auf der größten Kanareninsel Urlaub macht, landet meist im Süden, um in großen Hotelanlagen, Partyzonen, Discos und Themenparks den Alltag zu vergessen. Wer auf ruhige Art abschalten will, geht wandern, zum Beispiel im Anaga-Gebirge oder im Teide-Nationalpark. Wir aber wollen Teneriffas neue Seiten kennen lernen. Und wir möchten weder Trubel noch tiefe Einsamkeit.

Garachico am Abend
Garachico am Abend
© Tommaso Lizzul / Shutterstock

Deshalb biegen wir vom Flughafen Teneriffa Nord am großen Kreisel gleich auf die Straße in Richtung Norden ab. Unser Ziel: der große Streifen zwischen der Inselhauptstadt Santa Cruz und dem Fischerdorf Garachico. Erst einmal fahren wir über die Rambla del General Franco ins Zentrum von Santa Cruz. Und schon sehen wir die ersten Zeichen für einen neuen, speziellen Stolz der Tinerfeños, wie sich die Einheimischen nennen: Skulpturen, etwa von Henry Moore und Joan Miró. Die wuchtigen abstrakten Werke wirken wie ein ausgestreckter Mittelfinger in Richtung jenes faschistischen Diktators, nach dem der Prachtboulevard benannt ist.

Moderne Kunst sehen wir auf den Plätzen des weitgehend autofreien Zentrums - und auf unseren Tellern, als wir abends im "Kiosco Principe" unsere ersten Tapas ordern. Pimentos (grüne Schoten), Papas (Kartoffeln), Mojos (kalte Soßen), gegrillte Sardinen, alle so puristisch angerichtet, wie es sonst nur Sushi-Köche hinkriegen. Dazu ein freier Blick auf das alte Holzrondell an der Plaza del Principe de Asturias, wo sich eine Gruppe leicht ergrauter Tangotänzer den Bandoneonklängen aus einer Mini-Hightech- Anlage hingibt. Es scheint, als tanzten sie nur für sich selbst und beachteten ihr spontanes Publikum nicht.

Trotz des Altstadt-Charmes, der guten Modegeschäfte in der Calle Viera y Clavijo und des entspannten Nachtlebens zieht Santa Cruz nicht täglich Busladungen von Besuchern an. Eigentlich merkwürdig. Vielleicht liegt es daran, dass die Hafenstadt "dem Meer den Rücken zuwendet", wie Reiseführerin Pilar Hernández erklärt. Tatsächlich können wir von keinem der zentralen Plätze aus das Wasser sehen. "Früher kam vom Meer nur Schlechtes: Piraten und Sturm." Erst seit wenigen Jahren gewinnt die Stadt dem Wasser Positives ab. So ließ man Stararchitekt Santiago Calatrava ein futuristisches weißes Konzerthaus direkt an die Hafenkante stellen. Als wir auf der großen Terrasse stehen, hält sich der Wind in Grenzen.

Strand Las Teresitas
Strand Las Teresitas
© David Ionut / Shutterstock

Perfektes Wetter für einen Ausflug an den Strand Las Teresitas, etwa acht Kilometer nordöstlich der Stadt. Bei den Einheimischen heißt er Playa de las Croquetas. Der Grund: Wenn die Passatwinde im Sommer die sehr feinen Sandkörner aufwirbeln, wird eine eingeölte Strandschönheit schnell zur Krokette paniert. Der Strand ist künstlich entstanden; für ihn wurden tausende Tonnen weiß-gelber Sahara-Sand auf den pechschwarzen Lava-Untergrund geschüttet.

Mehr nennenswerte Strände gibt es im Norden nicht, aber an Badeplätze denkt man auch nicht mehr, wenn der Mietwagen die kurvigen Höhenstraßen des Anaga-Gebirges bezwungen hat. Eine neblig-verwunschene Szenerie, der eigentlich nur noch fehlt, dass aus dem moosbewachsenen Lorbeerwald ein paar Trolle und Feen vors Auto purzeln. An den vielen Aussichtspunkten entlang der Strecke sehen wir, was der Norden Teneriffas dem wüstentrockenen Süden voraushat: schroffe Klippen, spektakuläre Schluchten, tosende Brandung. Und vor allem: sattes Grün! Die Passatwolken, die sich vor den Bergen stauen, bringen Feuchtigkeit, die auf fruchtbaren Lavaboden fällt - ideale Bedingungen für den Anbau von Bananen.

Auf dem Weg durch das Valle de Orotava zum Fischerort Garachico fahren wir kilometerweit durch Plantagen. An der Finca Malpais halten wir an. Sie ist der Sitz einer Bananen-Dynastie, der Familie de Ponte. Bis zu den Klippen 60 Hektar dunkelgrün wogender Stauden. Hausherr Baltasar de Ponte empfängt uns zusammen mit seiner Frau Elena im Innenhof des efeuberankten Gutshauses. Tee trinkend sitzen wir in eleganten Korbsesseln unter Palmen, die Baltasar de Pontes Großmutter vor 100 Jahren gepflanzt hat. "Früher waren unsere Bananen wertvoll wie Gold", sagt er nicht ohne Stolz in der Stimme. "Und heute? Sind sie in der EU unverkäuflich."

Bananen auf Teneriffa
© Purpurink / Shutterstock


Bananen aus Teneriffa haben zwar ein wunderbar fruchtiges Aroma, aber nicht die Mindestgröße, die EU-Vorschriften verlangen: 14 Zentimeter. Deshalb kann Familie de Ponte ihre Bananen seit den 90er Jahren nur noch auf den Kanaren und dem spanischen Festland vermarkten. Wäre es da nicht einfacher, das Land mit dem spektakulären Meerblick für viel Geld einem Hotel- oder Baukonzern anzubieten? Das Paar schaut sich an und lacht. "Niemals!", rufen beide. Stattdessen hat Familie de Ponte 26 elegant-rustikale Zimmer für Gäste geschaffen und ihren Besitz damit wieder rentabel gemacht.

Weiter nach Garachico, das fast am westlichsten Zipfel der Insel liegt. Wie durch ein Wunder hatte ein Teil dieses Fischerortes den großen Vulkanausbruch von 1706 unbeschadet überstanden. In der Altstadt ein perfekt restauriertes Franziskanerkloster, ein kunstvoll angelegter Park, Blumen, die an schwarzen Tuffsteinmauern ranken. Kaum Fremde auf den Straßen, die größte Menschenansammlung besteht aus Männern des Ortes, die auf der Plaza de la Libertad lautstark und gestikulierend Karten spielen. "Wer hierher kommt, will das Spezielle", sagt Loli Chinea, eine ehemalige Krankenschwester, die an einem alten Webstuhl moderne Schals und Tücher herstellt. Sie könnte mehr Geld verdienen, wenn sie ihre Stücke im Süden Teneriffas verkaufen würde, wo viel los ist. Sie will aber nicht. "Wir im Norden konzentrieren uns lieber auf Qualität statt auf Masse." Diese Gegend sei wie eine "alte Perle, die man regelmäßig frisch poliert. Schlicht, aber wertvoll. Und nie aus der Mode".

Wie zwei Herrenhäuser im Stadtzentrum. In den Hotels "San Roque" und "La Quinta Roja" sehen wir beeindruckend gedrechselte Holzgalerien und an den Wänden moderne Kunst, die sich harmonisch in die historische Kulisse fügt. Im Innenhof haben es sich die Gäste zwischen Zitronenbäumchen auf stylishen Liegen bequem gemacht. Oder in weißen Le-Corbusier-Sesseln. Oder am Pool. Hier ist es offenbar viel zu schön, um vor die Tür zu gehen.

Piscinas naturales
Piscinas naturales - Wasserbecken
© This is Europe / Shutterstock


Es ist nicht so, als könne man im Norden Teneriffas nicht in Atlantikwasser baden: "Piscinas naturales", in Lavafelsen gehauene Meerwasserschwimmbecken, hat hier beinahe jeder Küstenort, und Garachico hat die schönsten. Eisblau und durchschnittlich 20 Grad warm schießt das Wasser mit der Brandung in die verwinkelten kleinen Pools. Es gurgelt, rauscht und spritzt. Uns ist der Wellengang doch ein bisschen zu heftig für ein Bad. Lieber setzen wir uns auf einen Lavafelsen. Neben uns auf schwarzem Stein: ein knallroter Krebs. Und vor uns der Sonnenuntergang.

Aufs Meer gucken. Hier im wilden Norden wird das nie und nirgends langweilig. An der Mole von Garachico. Oder zwischen blühenden Kakteen vor dem Leuchtturm am Ende der Straße Richtung Westen. Oder auf der Terrasse des Restaurants "Las Aguas" in San Juan de la Rambla, wo uns der Wind ab und zu ein paar Spritzer Gischt ins Gesicht weht. Oder am steinigen Strand von Puerto de la Cruz an der Nordwestküste, wo wir - die Bausünden des früheren Tourismusbooms im Rücken - einigen furchtlosen Surfern zuschauen. Oder auf der Veranda des "Zona Kiu" in La Orotava.

Dieses Lokal, eine sympathische Mischung aus Restaurant, Bierbar und Tapas-Café mit weißen Plastikstühlen, hatte uns Kioskbesitzerin Anita empfohlen, weil man von dort einen fantastischen Ausblick hat. Aber den müssen wir uns erst erarbeiten. La Orotava liegt an der Nordflanke des 3718 Meter hohen Pico del Teide, und die engen Altstadtstraßen sind verdammt steil. Wir folgen dem Weg der Molinos de Agua, einer Reihe alter Wassermühlen entlang der Calle Doctor Domingo González Garcia. Je höher wir steigen, umso kleiner und ärmlicher werden die Häuser, vom Prunk der Patrizierdomizile im Zentrum ist nichts mehr zu sehen. Oben angekommen, sitzen wir auf einer überdachten Holzterrasse. Aus der Stereoanlage plätschert Jazz.

Bei einem saftigen Stück Mangokuchen und Kaffee sehen wir, wie sich hinter Palmen, uralten Drachenbäumen und Bananenplantagen das Meer am Horizont in den Himmel ergießt, oder umgekehrt. Zwei Blaus, die sanft miteinander verschmelzen - so wie auf Teneriffa die alten Mauern und die zeitgenössische Kunst, der Stolz auf das Ursprüngliche und der Blick in die Zukunft. Hier könnte man alt werden - und dabei ungeheuer jung aussehen.

Text: Alena Schröder. Ein Artikel aus der BRIGITTE 23/08

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