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Juist: Der Immer-wieder-Urlaub

Kennen Sie das Gefühl? In die Ferien fahren und sich gleich wie zu Hause fühlen. Jeden Sommer besucht BRIGITTE-Mitarbeiterin Silke Pfersdorf die Nordseeinsel Juist - seit frühesten Kindertagen. Ihre Kinder auch.

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Viele Worte machen wir nicht, wenn wir uns wiedersehen. Wie das halt ist in einer großen Liebe. Wie das ist, wenn man sich so furchtbar lange kennt, dass die Jahreszahl längst vergessen ist und man nur noch erinnert, dass man ein Kind war, als man sich das erste Mal begegnet ist. Ich lächle vielleicht und sage "Hallo, da bin ich wieder". Meine alte Liebe sagt nichts. Ich höre nur den Wind, der mit den Tampen, Segeln und Fendern im Hafen spielt, und ein paar Möwen, sonst nichts. Inseln können ja nicht sprechen.

Wieder da. Wieder auf Juist, wie alle Jahre. Die "Frisia"-Fähre hat nach anderthalb Stunden Überfahrt angelegt. Zwei Fischkescher ragen zwischen den Gepäckstücken in unserem Bollerwagen empor, und auf dem Karton voller Äpfel, die wir aus Norddeich mitgeschleppt haben, weil Obst auf der Insel schon mal das Doppelte kostet, liegt der bunte Ball. Wie immer. Ich schnalle den knarrenden Wagen hinter mein altes Fahrrad und schiebe neben meinen Kindern gen Kurplatz. Vorbei an der alten Bahnhofsuhr, an der, als ich ein Kind war, der einarmige Wattführer Alfred nach jeder Erkundungstour durch den Nordseeschlamm echte getrocknete Seepferdchen an die Kinder verteilte; Alfred Behring gibt es längst nicht mehr, die Wattführungen macht jetzt sein Sohn Heino und inzwischen sogar Enkel Ino, und die Seepferdchen danach sind aus blauem Plastik. Dort, die Telefonzelle, von der aus ich mit 16 meinen Freund anrief, um ihm zu sagen, dass nun Schluss sei, weil ich mich auf der Insel neu verliebt hatte. Der Schiffchenteich, wo die Kinder mit ihren Spielzeugbooten stehen, wo sie schon früher immer standen, wohl immer stehen werden. "Zwei Rennmäuse, guck mal!", schreit mein Sohn Fabian, 8, aufgeregt. Irgendjemand hetzt die beiden schnittigen Tiere per Fernbedienung übers grüne Wasser. Früher setzten wir unsere Segelbötchen ganz vorsichtig hin, allenfalls ein kleiner Batteriemotor hing am Rumpf, mit Saugnäpfen befestigt.

Früher. Das war, als meine Eltern mich als Baby mit strandtauglichen Holzkarren über die Insel schoben. Als ich später Ruth, der Tochter unserer Pensionswirtin, stolz erzählte, dass ich nun ein Schulkind sei. Als irgendwann einen Sommer lang nur Hippie, Karo und Blacky zählten, die Ponys im Stall des Pferdevermieters Gerd Heyken. Als ich mit 13, 14 Jahren zur Volleyballclique gehörte, Treffpunkt Netz am Strandspielplatz. Alle Jahre wieder reisten wir mit unseren Eltern aus Hamburg, Bremen, Berlin, Hessen oder Bayern an, und nachts feierten wir Strandfeten. Sogar nach dem Abi, als ich Kaffeekännchen und Kuchenteller oben am Café "Strandkate" durch den Wind balancierte, fünf Stunden täglich Ferienjob, vier Wochen lang, und der Rest war Urlaub. Dann hörte es auf, das Früher auf Juist. Mit den Eltern verreiste man nicht mehr, und die Welt war so groß und Juist so klein. Erst als meine Tochter Svea auf der Welt war, stieg ich wieder auf die "Frisia"-Fähre, fuhr auf die Insel meiner Kindheit. Seitdem riechen unsere Sommer wieder nach Pferden, schmecken nach Salz, kitzeln wie Strandhafer, hören sich an wie Wind in den Dünen. Alle Jahre wieder. So sicher wie Weihnachten.

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"Da seid ihr ja wieder!" Unsere Vermieterin, Frau Schmitz, lässt die Wäsche, die sie von der langen Leine knüpft, in den Korb fallen und nimmt uns herzlich in den Arm. "Ich gucke mal, ob Martin da ist", ruft Fabian, schnappt den Fußball vom Bollerwagen, klemmt ihn auf sein Fahrrad, Svea hat Hannah gegenüber beim Gummitwist entdeckt. Das Juist der Kinder ist voller Immer-wieder-Freunde. Urlaub von der ersten Minute an. Kein Fremdeln, kein banges "Wird es wohl schön?". Nur ein heimeliges Angekommen. In Bildern, die man kennt. In Momenten, die lauter Déjà-vus bedeuten. Der Ort, den man in- und auswendig kennt, hat offene Arme. Draußen trappeln Pferde übers Steinpflaster, ihr Schnauben klingt weich und warm. Ich schaue durchs Balkonfenster unserer kleinen Wohnung aufs Watt, die sanfte Seite der Insel. In den Prielen glitzert das Wasser, während sich die Sonnenstrahlen durch den bewegten ostfriesischen Himmel kämpfen. Surfer rollen ihre Segel aus. Ein paar Stunden zuvor standen Svea, Fabian und ich noch an der Reling der Fähre, sahen dem Sommer beim Näherkommen zu; mag es manchmal auch in Strömen gießen, mag der Wind uns bisweilen fast vom Fahrrad blasen oder mögen wir schon mal fröstelnd im Strandkorb sitzen - Juist ist für uns einfach Sommer.

Kurze Hose, Sweatshirt, keine Schuhe. Juist ist Barfußland. Fünf Minuten sind es zum Strand, höchstens. Die Insel ist ja nur 500 Meter breit. Holzstege führen runter in die Sandweite. 17 Kilometer blanke Schönheit. Und vorn ein Halsband aus bunten Flecken. "Moin", grunzt der Strandkorbvermieter Focko Kannegieter. "Drei Wochen? Und vorm Spielplatz?" Viel sagen sie nie, die Juister. Manche merken sich die Gesichter ihrer Gäste. Begrüßen sie mit Namen. Erinnern sich an ihre auf Juist durchgemachten Gürtelrosen, an ihr abends vor der Kneipe "Köbes" verschwundenes Fahrrad, ans anstehende Abi der ältesten Tochter. Ansonsten: "Wo geiht denn so?" - "Ach, mutt ja." Damit ist alles gesagt.

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Kannegieter rückt einen rot-weißen Korb gerade, ich unterschreibe und zahle. Vorkasse, natürlich. Kannegieter kannte ich schon als Kind. Als Sohn der Pension "Kolumbus". Meine Eltern und ich wohnten gegenüber, im "Kopersand", Zimmer 13, unterm Dach. Gießkanne, Windschutz und Schaufel haben wir immer gleich dagelassen, im Speicher, fürs nächste Jahr. Was man halt brauchte auf Juist, damit die Sandburg rund um den Strandkorb ordentlich geriet, damit man sie an heißen Tagen besprenkeln konnte mit Nordseewasser. Ich sehe mich heute noch bis zum Rand gefüllte Kannen schleppen. Und Vaters Stirn rot und röter werden unter der Sonne und der Anstrengung beim Schippen. Burgen bauen heute nur noch wenige. Manche sagen, es sei sogar verboten.

"Früher war das Wasser näher", sage ich, als wir in der Sonne sitzen und den weißen Sand durch die Finger rieseln lassen. Früher umspülte es bei Nordwestorkan die ersten Burgenreihen. Als Kinder lachten wir, wenn die Wellen sich durch den Sand fraßen und wir durch ihren Schaum planschten. Heute führt der Weg zum Meer durch viele Meter Muschelkalk. Der Strand ist breiter geworden. Manchmal fragt man sich natürlich, warum fährt man immer an denselben Ort? Die einen in die Familienpension an der Riviera, die anderen nach Südtirol auf "ihren" Bauernhof? Ist es Bequemlichkeit? Oder das sichere Gefühl zu haben, vertraute Wege zu gehen, Geborgenheit zu finden? Willkommen sein. In der eigenen Vergangenheit ankommen. Vielleicht von jedem ein bisschen.

"Hier bin ich!", schreie ich vom Strandkorb Nummer 1352 aus und winke, als ich meine Kinder oben auf dem Holzsteg entdecke. Sie kommen angerannt. Barfuß natürlich. Sie kennen Äypten, Australien, Bali, China. Manche Orte mochten sie, nicht alle. Aber Juist lieben sie. Schon immer. "Die Kinderinsel", sagen sie. Bisweilen war es anstrengend, in den ersten Jahren. Schiffe bauen, Kuchen backen, aufpassen, dass die Kids keinen Sand futtern, beruhigen, wenn die Kleinen am Abend in der Pension schrien. Angst, dass sie, gerade dem Krabbeln entwachsen, ins Meer laufen könnten, wenn ich kurz die Augen im Strandkorb schließen wollte. Vorbei, das alles. Jetzt habe ich Freiheit statt Angst. Und die Kinder eine kleine Welt zum Ausprobieren, was man schon alles kann. Eine eingezäunte Sandkiste sozusagen. Klein, übersichtlich, wiederfindbar. Keine Autos, nur Pferde. Damit ist Juist auch eine Erwachseneninsel. Unbeschwerter geht es doch nicht: Jeder weiß, wo er den anderen findet. Man lässt los, ohne sich zu verlieren. Ein Elterntraum. "Ich baue mit Martin eine Kugelbahn", verkündet Fabian atemlos. Svea und ich rennen los. Der Sand ist warm, jetzt wird er feucht. Schaumige Wellen lecken an meinen Zehen. Knöchel, Waden, Bauch. Reinstürzen, nicht nachdenken. Kopf runter, einmal tauchen. Svea will Flipper spielen. Ich der Delfin, sie der Reiter. Ist gut für die Oberarmmuskeln, tröste ich mich. Und pflüge tapfer mit ihr auf dem Rücken durchs Wasser. Die Nordsee gluckst, ich lache. Zuhausegefühl. Das Meer, meine Freundin. Nirgends fällt es mir leichter, mit meinen Kindern zu empfinden. So unbeschwert mit ihnen zu sein.

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Milchkaffeezeit. Warme Backsteine an Fußsohlen, als Svea und ich mit nassen Haaren schließlich die paar Minuten vom Strand zu "Baumann's" runtergehen. Die Ritzen der von Wind und Wetter geborstenen Steine stecken voller Sand. Vor ein paar Jahren waren die Steine neu, heil und schick. Furchtbar, dachte ich. Der Boden fühlte sich anders an unter den Zehen. Meine Juister Welt muss Ritzen haben. Die Patina meiner Kindheit. Bloß nichts verändern. Der Juister Gast- rund 70 Prozent sind Stammurlauber - ist konservativ. Bewahrend halt. Geht aber nicht immer. Erst starb die Inselbahn, jahrzehntelang hatte sie die Kurgäste vom Schiffsanleger weit draußen durchs Watt bis zum Bahnhof gekarrt. Man wird sich an die Seebrücke gewöhnen, einen langen Steg, der einmal den Schlick vom Hafen fernhalten soll, weil die Inselgemeinde sich das jährliche Ausbaggern einfach nicht mehr leisten kann. Das Neue, es wird alt werden. Die Patina der Gewohnheit, der Erinnerungen wird es überziehen. Vom Morgen zum Heute zum Früher. Wie immer.

"Lausi, guck mal!", schreit plötzlich Svea. Entzückt rennt sie los und umarmt den zotteligen Kopf eines weißen Ponys, das vor eine kleine Kutsche gespannt ist. Lausi gehört zu Sveas Sommer, wie Perdita früher zu meinem gehörte. Abend. Kiloweise Sand im Haar und am Bauch den ersten Sonnenbrand. Wir futtern Würstchen in unserer kleinen Küche und denken nur ans Sanddorneis, später, in Heinos Eisladen. Svea kassiert ihren Euro Urlaubsgeld, Fabian hält auch schon die Hand auf.

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Planungen sind auf Juist unnötig, kein Gedanke an Sehenswürdigkeiten, die es anzuschauen gilt, hetzt durch die Stunden. Mal rechtsrum, mal linksrum, das war's. Mal mit Heino ins Watt, auf einen Kakao ins Cafe "Wilhelmshöhe" radeln, Richtung Kalfamer, wo man Muscheln suchen kann, die daheim einen Winter lang, viele Bastelnachmittage lang vorhalten. Auf dem Weg dahin am Flugplatz im Gras liegen, den kleinen Propellermaschinen zusehen, wie sie sich dröhnend in die Luft erheben, ein bisschen schaukeln und schließlich über diesem schönsten Sandhaufen der Welt schweben. Und einmal in die andere Richtung, gut acht Kilometer ans Inselende Bill, Hasen huschen über den Weg, Fasane verstecken sich zwischen den Brombeerbüschen, ach ja, das Heimatmuseum liegt gerade auf dem Weg. In der "Domäne" Rosinenstuten essen mit dick Butter drauf. Schafen beim Dösen zugucken. Durch die Dünen laufen bis zum Meer, das hier besonders wild und schön tost. Das Gefühl haben, allein zu sein auf dieser Welt. Robinson für ein paar Minuten. Als kleines Mädchen wollte ich nicht zur Bill. Mit dem kleinen Kinderrad, meine Eltern vorneweg, und wenn man Pech hatte, fing es unterwegs an, wie aus Kübeln zu schütten, und der Gegenwind lachte einem höhnisch ins Gesicht. Heute sind acht Kilometer eine geschrumpfte Größe. Zwanzig Minuten lang vielleicht. Und bei Regen bleiben wir halt sitzen, essen noch einen Stuten. Muss ja nicht alles sein wie früher.

Drüben über dem Meer fällt die Sonne gerade in ein weiches, helles Wolkenbad. Auf dem Schiffchenteich kurven ein Motorboot und eine Fähre mit Beleuchtung. Ich zahle. Einmal noch über den Deich gucken. Das Watt schweigt, die Möwen auf den Pollern ducken ihre Köpfe. Der Abend zieht vorsichtig ein dunkelblaues Tuch über die Insel. Drüben liegt Deutschland, wie die Juister das Festland nennen, eine andere Welt.

Text: Silke Pfersdorf Fotos: Melanie Dreysse BRIGITTE Heft 9/2006

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