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Guten Morgen, China!

Wolkenkratzer, Designerboutiquen, Autobahnen - das Reich der Mitte versteckt sich mehr und mehr hinter seiner modernen Fassade. Wie schafft man es, diesem Land wirklich nahe zu kommen? Auf einer Fahrradtour in die Zauberberge von Guilin.

"Wer zu hören versteht, hört die Wahrheit heraus, wer nicht zu hören versteht, hört nur Lärm" (Chinesische Weisheit)

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Es ist nicht leicht, den Weg zu den Zauberbergen zu finden. Manche fahren über die Landstraße, im Van oder im Bus, und sehen kegelförmige Schemen hinter den Fensterscheiben, während der Reiseführer von steigendem Meerespiegel, jahrtausendealtem Karst und nachfolgender Erosion doziert. Manche nehmen die Seilbahn auf den Yaoshan, mit 900 Metern der höchste Berg, und landen auf einem Gipfel, gepflastert mit Souvenirständen. Manche nehmen ein Boot, eines der vielen Ausflugsboote, die auf dem Li-Fluss von der Kreisstadt Guilin ins Städtchen Yangshuo fahren, mitten hinein in diese Landschaft aus grünen, dicht aneinander gedrängten Zuckerhüten. Die Besucher stehen an der Reling oder sitzen unter Deck, reden, trinken Cola oder Bier, lachen, rufen "Ah" und "Oh", knipsen Fotos, essen Mittag, reden. Wart ihr schon in Peking, Longsheng, Dali? Seit wann seid ihr in China unterwegs? Wie viele Tage habt ihr noch? Die Zauberberge gleiten wie eine Dia-Show vorbei, fast surreal schön und immer noch weit weg. Manche haben die Gelegenheit, sich ein Fahrrad auszuleihen, so wie wir. Dann beginnen die Berge zu leben.

"Eine lange Reise beginnt mit dem ersten Schritt"

Herr Xìe sitzt am Straßenrand auf einem Holzhocker und wartet. Neun Uhr morgens, das Leben in der Xijie-Straße in Yangshuo erwacht langsam. Eine Frau schiebt einen Karren über das Pflaster, stoppt, holt zwei Woks, Schüsseln mit Fleischspießen, Bananen, Hühnerkrallen, Zucchiniblüten unter einer Plane hervor und baut ihre Garküche auf. Auf dem Kantstein streicht ein Greis über die Saiten seiner Erhu, eines alten Instruments; sein Ziegenbärtchen wackelt. Shops öffnen Türen, Verkäuferinnen tragen Jadeschmuck, Pashminaschals, DVDs, Papierfächer heraus und verstauen sie auf Holzständern am Straßenrand. Herr Xìe nimmt eine Luftpumpe aus einer Kiste und fängt an, die Reifen seiner Fahrräder aufzupumpen. "Was kostet ein Rad?" - "30 Yuan am Tag." Drei Euro, abgemacht.

"Wer Bambus malen will, trägt schon ein Bild von ihm im Kopf"

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Zhong Guo, so nennen die Chinesen ihre Heimat. Reich der Mitte. Es ist doppelt so groß wie die gesamte EU. Fast ein Fünftel aller Menschen lebt hier. 20 Millionen Klavierspieler, 123 Millionen Internet-Nutzer, 500 Millionen Fahrradfahrer. Jeden Tag sorgt es für News in unseren Zeitungen, weil alles in diesem Reich in einem rasenden Tempo zu wachsen scheint. Seit Jahren träume ich davon, es zu bereisen. Seit meine Freundin in Peking studierte und mir in ihren Briefen und E-Mails die wundersamsten Dinge erzählte. Nur: Wie schaffe ich es, diesem Riesenland näher zu kommen? Es zu fühlen, zu riechen, zu schmecken und nicht einfach an Wolkenkratzern, Designerboutiquen, achtspurigen Autobahnen abzuprallen wie an einem Schutzschild des 21. Jahrhunderts?

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Seit gestern sind wir in Yangshuo in der Provinz Guangxi, zwei Flugstunden südwestlich von Shanghai. Der Ort mit seinen 75 000 Einwohnern zählt im dicht bevölkerten China fast als Dorf. Kein Gucci, kein Prada weit und breit, die Häuser maximal vier Stockwerke hoch. Darin leben Menschen, die Zeit haben zu reden, zu lachen, zu schauen. Wie Xìe Lifang, unser Fahrrad-Guide. "Nennt mich einfach Lily", sagt die junge Frau auf Englisch, als sie uns das erste Mal morgens am Hotel abholt. Jeden Tag wollen wir mit ihr eine Tour durch die Zauberberge machen und abends nach Yangshuo zurückkehren. Aus den Augenwinkeln beobachte ich die zierliche Gestalt, die ihre Tasche in einem Fahrradkorb verstaut. Ihr rundes Gesicht, still und zurückhaltend, die schwarzen undurchdringlichen Augen. Als ich unserem Radverleiher am Straßenrand mein einziges chinesisches Wort "Ni hao" - "Guten Tag" - zurufe, kichert Lily leise. "Lily, was hab ich falsch gemacht?" - "Du musst den zweiten Teil höher sprechen. Sonst heißt das: gut geheult."

"Sitzt du im Wasserpavillon, siehst du den Mond zuerst"

Schnell sind wir aus dem Städtchen raus, verlassen die breite Hauptstraße, auf der sich Mopeds, Laster, Fahrräder, Autos drängeln. Fast wie von selbst schnurren unsere Mountainbikes auf den Sandstraßen der Bauern. Am Rande der Täler: steile Buckel, mit Oleander, Kiefer und Farn bewachsen. Urzeitwesen im grünen Pelz. Mal als Kulisse im Hintergrund, mal zum Greifen nah. Im Zentrum der Karstberge der Fluss Li. Als "Gürtel aus grüner Seide" beschrieb ihn der berühmte Poet Han Yu schon vor mehr als 1200 Jahren. Allein 10 000 Zauberberge sollen am Ufer des Flusses stehen, erzählt uns Lily. Wie viele es insgesamt sind hier im Norden der Provinz Guangxi, weiß kein Mensch. Und wir - mittendrin. Mein Kopf bewegt sich ständig von links nach rechts, von vorn nach hinten, so atemberaubend schön sind die Berge. "Lily, wird das jetzt jeden Tag so sein?" Lily guckt ernst - und nickt.

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Auf dem Damm eines Reisfeldes schauen wir einem Bauern zu, er treibt einen Pflug, gezogen von einem Wasserbüffel, über den Morast seines Ackers. Der warme Wind fächelt unsere Haare und die Zweige von riesigen Bambushainen am Fluss. Im Dorf Jiuxian, nur mit dem Fahrrad oder dem Moped zu erreichen, strömen Kinder mit roten Halstüchern durch die Gassen an uns vorbei. Die Schule ist aus. "Wollt ihr was trinken?", ruft uns der Besitzer eines Lokals zu. Der Wirt holt drei kleine Flaschen Wasser aus dem Kühlschrank, wir sinken auf eine Bank vorm Haus. Eine leere Dose fliegt aus der offenen Tür auf den Vorplatz. Im schummrigen Innern, unterm Wellblechdach, hocken an zwei Tischen Männer und Frauen und zocken. Stapel von Geldscheinen liegen vor ihnen, in den Händen halten sie graue Karten. Wir sitzen einfach da, ohne Hektik, ohne Programm, genießen den Blick auf die vielen kleinen Momente des Alltags. Ein Land so weit weg - und plötzlich so nah.

"Das Leben meistert man lächelnd oder überhaupt nicht"

"Warum sitzen hier mitten am Tag so viele Leute rum?", fragt Lily für mich, als ich meine Wasserflasche fast leer habe. Der Wirt öffnet eine Cola-Dose, die braune Flüssigkeit kommt herausgespritzt und ergießt sich über sein blaues Hemd. Alle kreischen vor Lachen. Auch der Wirt grinst. "Auf den meisten Feldern ist momentan nichts zu tun. Der Reis ist gepflanzt und erst in drei Monaten reif. Und andere Arbeit gibt es hier nicht."

Lily freut sich, nicht in ihrer Reiseagentur vor dem Computer zu sitzen, mit uns durch die Bergwelt zu radeln. An einem Tag fahren wir 15 Kilometer, am andern 30, so, wie wir gerade Lust haben. Aber ohne Lily wären wir verloren. Straßenschilder, deren chinesische Zeichen für uns wie abstrakte Bilder aussehen, gibt es allein an den Hauptrouten. Und die Landkarte von der Tourist-Information ist eine hübsche Tuschezeichnung, mehr nicht. Abends sitze ich auf meinem Bett im Hotel, einem kleinen gemütlichen Haus mitten in Yangshuo. Die vielen Bilder vor Augen, die den ganzen Tag auf mich eingeprasselt sind, wollen nicht aufhören zu laufen. Schöne, anrührende, traurige Bilder. Von den vier Frauen, die auf Bambustabletts gelbe getrocknete Blüten sortierten, die Blüten des Osmanthus-Baumes, ein blumiger, kostbarer Tee, von dem sie uns eine Tüte verkauften. Von Frau Peng Mo und ihrer Werkstatt, in der sie mit ihren vielen Tanten und Onkeln, Schwägerinnen und Schwagern Fächer herstellt: weiße Halbkreise, bemalt mit Pandabären, Vögeln, Chrysanthemen. Vom Bauern Gao und seinem taubstummen Sohn, der darauf bestand, uns eine Schüssel selbst angebauter Erdnüsse zu schenken, obwohl wir nur kurz Hallo zu ihm gesagt haben. Von den vielen Arbeiterinnen, die in einem Fabrikhof Holzbügel glatt schliffen und Haken hineinbohrten - für zwölf Euro am Tag. Vielleicht haben sie auch die Bügel gemacht, die zu Hause in meinem Kleiderschrank hängen, günstig eingekauft.

"Ein Bauer muss lange warten, bis ihm eine gebratene Ente in den Mund fliegt"

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China auf dem Land. Fast zwei Drittel aller Chinesen leben dort - vom spektakulären Wirtschaftswachstum ausgeschlossen. Ein Einwohner Shanghais verfügt im Durchschnitt über ein achtmal so hohes Einkommen wie ein Einwohner der Provinz Guangxi. 226 Euro verdient ein Bauer pro Kopf im Jahr. Das ist nicht viel, wenn die Grundschule 40 Euro, die Mittelschule 100 Euro und die Universität 1000 Euro im Jahr kostet. Das ist nicht genug, wenn man im Alter keine Rente bekommt. Das ist eine Katastrophe, wenn es einen in der Familie mal ernsthaft erwischt und er ins Krankenhaus muss - eine Krankenversicherung haben die meisten Bauern nicht. Wie schafft man es so, das Leben?

Lily sagt nichts. Sie hat nie schnelle Antworten parat. Stattdessen schlägt sie uns eine Tour ins Dorf Gushisheng vor, dort können wir bei Bauern zu Mittag essen. In Gushisheng stehen nur alte Häuser - in China eine Seltenheit. Viele der traditionellen Gebäude wurden in den 30er und 40er Jahren während der Kämpfe gegen die Japaner und im Bürgerkrieg zwischen Kuomintang und Kommunisten zerstört. Als wir durch das Dorftor laufen, verstummen wir sofort. Eine Allee aus elegant gefiederten Bäumen leitet uns einen Hang hoch. Dort oben stehen die Häuser, schmiegen sich an einen Berg. Aus Steinplatten ohne Mörtel aufgeschichtet. Auf einer Mauer trocknen Chilis und Mais.

"Glück ist das Einzige, was sich verdoppelt, wenn man es teilt"

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Frau Liao öffnet uns die Tür. Ein kleines Mädchen sitzt auf ihrem Rücken, vielleicht ein Jahr alt, schaut uns an, unsere hellen Haare, unsere blassen Augen, und fängt an zu weinen. Frau Liao bittet uns hinein. Sie steckt mit Lily trockene Zweige in eine offene Feuerstelle, setzt den Wok drauf und einen Topf mit Reis. Die Stimmen der beiden Chinesinnen hüpfen auf und ab, bilden einen Schwall fremder Töne. Mein Ohr findet keinen einzigen Halt. Macht nichts, ich setze mich auf die Türschwelle und tue einfach nichts.

Seit zwei Tagen bin ich in Guangxi und habe das Gefühl, bereits zwei Wochen hier zu sein. Erstaunlich, wie selbstverständlich wir uns durch dieses fremde Land bewegen. Keiner zeigt Verwunderung, wenn wir auf einer Holzfähre unsere Fahrräder neben denen der Einheimischen parken, um auf die andere Seite des Flusses zu gelangen. Nie werden wir neugierig angestarrt, gehen wir auf einen Markt oder in einen der wenigen Tempel. Nie laufen die Dorfkinder auf unseren Touren zusammen - und schieben dabei eine Barriere zwischen sich und uns. Überall dürfen wir einfach dabei sein, jeden Tag von neuem.

Das Essen ist fertig. Mit Stäbchen in der Hand lassen wir uns auf kleine Schemel nieder, die Porzellanschalen sind gefüllt mit Bittermelone und Chili, Gemüsesprossen und Schweinefleisch. Köstlich. Meine Stäbchen wandern fast so schnell zu meinem Mund wie Lilys. Wo ist Frau Liaos Familie? Ihr Mann ist noch auf dem Feld, hackt den Acker mit Süßkartoffeln, die zwei Schweine und drei Kühe muss er auch noch tränken. Und die Kleine auf ihrem Rücken? "Das ist Hui, mein erstes Enkelkind. Ich passe auf sie auf, meine Tochter hat dafür keine Zeit." Ihre vier Kinder leben in Kanton und arbeiten als Wanderarbeiter in Fabriken. "Sie schicken uns regelmäßig Geld." Ich verstehe, das ist Lilys Antwort auf meine Frage: So meistern die Bauern ihr karges Leben.

"Wer zu rastlos ist, hat keine Zeit, seine Sitzmatte zu wärmen"

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Bevor wir wieder zu unseren Rädern gehen, zeigt uns Frau Liao das gute Zimmer er Familie. Nicht mehr als eine Holzbank, in Lehnstuhl aus Bambus, ein Bett stehen auf dem Steinboden des großen Raumes. Und ein niedriger Schrank, mit Fernseher, vier Flaschen Schnaps und einem roten Telefon. Darüber hängt wie ein Altar die Ahnentafel der Familie, eine Holzplatte, auf rosa Papier die Namen der wichtigsten Götter und der Familienmitglieder. Von einem Poster mit Mandelblütenzweig schaut Mao in den Raum. Ein Ort der Ruhe, Wärme, Ewigkeit. "So gut sieht das Haus meiner Eltern nicht aus", sagt Lily. Warum hängen immer noch Mao-Bilder in den Häusern der Bauern? Ich habe viele Fragen auf dieser Reise, aber es ist schwer, auf sie Antworten zu bekommen. Alles wissen zu wollen, das gehört sich nicht. Umgekehrt stellt uns auch niemand Fragen, wenn wir neugierig den halb fertigen Löwen eines Steinmetzes betrachten oder an einer Ziegelei stoppen und zuschauen, wie die Ziegel geformt und dann gebrannt werden. Selbst Lily versucht nicht herauszufinden, ob wir Kinder haben, in welcher Stadt wir wohnen, wie unsere Arbeit ist. Aber sobald wir anfangen, davon zu erzählen, freut sie sich. Spricht von ihren eigenen Plänen fürs Leben, mit 23 Jahren hat sie noch vieles vor sich. Gern hätte sie später ein kleines Mädchen und genug Geld, um sich um ihre Eltern zu kümmern. Langsam wachsen wir auf unseren Fahrradtouren durch die Berge zusammen.

"Der Himmel mag die Menschen, die gern essen"

Yangshuo ist die Gegenwelt zum Leben in den Bergen. Trubelig, wohlhabend, touristisch. Und die Xijie-Straße, für die Ausländer West Street genannt, ist die dazugehörige Bühne. Stühle und Tische rahmen die Straße ein. Restaurant reiht sich an Café reiht sich an Restaurant. Wir setzen uns ins "Seventh Heaven". Linda, die Besitzerin des Lokals, steht vom Computer auf und erzählt uns auf Englisch vom Essen. Dass man zu Beginn eines Mahls nicht "Guten Appetit" sagt, sondern "Langsam essen". Dass Schweinerippen mit Algen den Geist beruhigen und eine schwarze Hühnersuppe das Blut erfrischt und verdünnt. Nein danke, ich entscheide mich für Knusperfisch mit Ingwer und Bohnen.

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Hunderte von Touristen promenieren vorbei, Liebespaare Hand in Hand, Gruppen von Studenten in Hotpants und Hüftjeans, Familien mit schlafenden Kindern im Arm. Wir müssen unsere Köpfe recken, um ab und an mal einen hellen Schopf zu entdecken. Selbst in dieser Touristenhochburg sind wir noch ganz und gar in China. Fast alle Besucher kommen aus dem eigenen Land. Aus Hongkong, Kanton, Shanghai, Shenzhen. Die Bergwelt von Guangxi ist "die schönste Landschaft unterm Himmel", lernen die Chinesen schon in der Schule. Für zwei, drei Tage kommen sie her und werfen einen Blick auf die berühmten Zauberberge und ein paar Karsthöhlen nahe der Stadt. Doch wenn wir mit dem Fahrrad unterwegs sind, treffen wir fast nie andere Besucher. Ein Stückchen der Provinz Guangxi, das nur uns gehört.

"Wer die hohen Berge nicht besteigt, kennt die Ebene nicht"

Ein winziges Stück. Als ich das erste Mal vor der Reise meinen alten Schulatlas aufschlug, sahen die Karstberge aus wie drei kleine Ackerfurchen auf einem Großgrundbesitz. Guangxi heißt "Weiter Westen" und ist tatsächlich so weit und lang wie die Schweiz, Österreich und Ungarn zusammen. Jetzt haben die Ackerfurchen Namen bekommen: "Neun Pferde", "Vier Finger", "Gefalteter Brokat", "Eine Frau, die auf ihren Mann wartet", jeder Berg scheint die Fantasie der Chinesen extrem anzuregen. Wie sieht es auf den Bergen aus, Lily? "Mmh", sagt unser Guide, "heute ist schlechtes Wetter. "Bei schlechtem Wetter holen die Südchinesen ihre Regenschirme aus dem Schrank, um sich gegen die Hitze zu schützen. Wirfreuen uns über den blank geputzten Himmel, die strahlende Sonne, die klaren Farben, ohne diesen angeblich romantischen Dunstschleier, der fast jeden Tag die Landschaft umhüllt. Egal, dass Radfahren bei "schlechtem Wetter" um einiges anstrengender ist. Also - nach Jinbao.

Unsere roten Mountainbikes müssen heute ran, alle zwei Minuten kracht die Gangschaltung bei der Arbeit. Wir ächzen die Berge hoch und genießen auf jedem Weg nach unten den Fahrtwind auf der Stirn. Eine Horde Jungs überholt uns auf ihren Rädern und ruft herüber: "Wieso tut ihr euch das an?" Sie machen selbst eine Rundtour übers Land, es ist Samstag, schulfrei. Wir fahren zusammen weiter, eine chinesisch-deutsche Truppe. Die Jungs lachen sich schlapp, wenn manchmal ein kleines Kind an der Straße steht und auf Englisch zu unserer Gruppe "Hello" her- überruft. Unsere Trinkflaschen leeren sich mehr und mehr, Jinbao ist immer noch ganz schön weit weg - Lily, wir können nicht mehr. "Okay", sagt sie, "kein Problem." Als der nächste Bus in einer Staubwolke angefahren kommt, winkt sie kurz, der Fahrer hält an. Wir stellen unsere Räder hinter den Fahrersitz, wo sonst Säcke voller Reis und Körbe mit Gemüse untergebracht werden, und lassen uns chauffieren. Das Handy unserer Chinesin klingelt.

"Die Weisheit des Lebens besteht im Ausschalten der unwichtigen Dinge"

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Ihr Freund ist dran, Henry, er wohnt in Yangshuo, so wie Lily. Vor vier Jahren ist sie in die Stadt gezogen, vom Dorf Qingshan, wo ihre Eltern Bauern sind. In einem Fernstudium hat sie Englisch gelernt, die Gebühren einer Uni konnte ihre Familie nicht bezahlen. Nun wohnt sie mit Henry zusammen, unverheiratet, so wie immer mehr junge Paare in China. Lily drückt auf den Ausknopf ihres Handys, ihre sonst so ruhigen Augen strahlen: "Henry hat einen neuen Job!" Er wird Geschäftsführer und Teilhaber eines Restaurants, in zwei Tagen ist Eröffnung. "Erinnert ihr euch an den Tempel Jianshan?" Klar, dort hat uns vor drei Tagen ein Mönch die Zukunft vorhergesagt - und Lily einen Mann in weißem Hemd und dunkelblauer Hose kennen gelernt. Sofort hat sie mit ihm gemeinsame Geschäftsmöglichkeiten abgeklopft und festgestellt, dass er für sein neues Restaurant einen Partner sucht. Das ist nun Henry. Was für ein irrwitziges Tempo.

Als die Hitze des Tages weniger wird, packen wir unsere Handtücher ein und gehen hinunter zum Wasser. Am "Green Lotus Peak Park" fließt der Li-Fluss durch Yangshuo. Die Strömung trägt ein paar Grashalme vorbei. Kann man drin schwimmen? Neben einem großen weißen Gebäude, der Sprachenschule, sehen wir ein paar Köpfe im Wasser. "I appreciate your cooperation", murmelt ein junger Mann konzentriert in die Luft, als wir an der Schule vorbeigehen. Über rund gewaschene Steine waten wir in den kühlen Fluss. Ich versuche zu schwimmen und komme nicht vom Fleck, die Strömung ist zu stark. Macht nichts, der Ausblick beim Kraulen ist grandios. Ein Fischer mit Strohhut stakt auf einem Floß vorbei, auf der Suche nach Muscheln. Die Silhouette der Karstfelsen spiegelt sich im grünen Wasser. Nach dem Bad sitzen wir noch lange auf einer Treppe am Fluss, frisch und gut und ein bisschen nach Erde riecht die Haut. Die Bilder fangen wieder an zu laufen. Erinnerst du dich an Herrn Pan, der einen Eimer Wasser über unsere heiß gewordenen Sättel goss, nachdem wir seine Fahrradwerkstatt besichtigt hatten? Stopp. Jetzt einfach still sein und an nichts denken.

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Fahrradtouren in China

Eine geführte Fahrradtour in den Bergen von Guilin hat der China-Spezialist China Tours im Programm. 13 Tage, inkl. Flug, Unterkunft, Fahrrad, Halbpension, zwei Tage Shanghai, einen Tag Guilin ab 1789 Euro. Termin: 20. Mai bis 1. Juni 2007 (China Tours, Tel. 040/819 73 80, www.chinatours.de).

Längere, körperlich anspruchsvollere Touren im ganzen Land bei China by Bike, z. B. 23 Tage durch Yunnan ab 2755 Euro, inkl. Flug, Unterkunft, Fahrrad, jeweils zwei Tage in Peking und Shanghai (Tel. 030/622 56 45, www.china-by-bike.de).

Bücher

"China" aus der Reihe Stefan Loose Travel Handbücher - Reiseführer mit vielen aktuellen Infos (DuMont, 34,95 Euro).

"Kulturschock China" - alles über Familienleben, Moralvorstellungen, Umgangsformen, um die Chinesen besser zu verstehen (Reise Know-How Verlag Rump, 14,90 Euro).

"Gebrauchsanweisung für China" von Kai Strittmatter - amüsante Einblicke in das Alltagsleben von einem deutschen Journalisten, der viele Jahren dort gelebt hat (Piper, 12,90 Euro).

"Wilde Schwäne" von Jung Chang - spannendes Buch über drei Frauengenerationen (Droemer/ Knaur, 9,95 Euro).

"Balzac und die kleine chinesische Schneiderin" von Dai Sijie - entzückender Roman über zwei Studenten, die zur Umerziehung in einem Bergdorf leben müssen (Piper, 8,95 Euro).

Text: Astrid Joosten Fotos: Jörg Modrow Karte: Gabi Wilhelmi BRIGITTE Heft 20/2006

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