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Elke Heidenreich in Venedig

Wie ist das, wenn man aufbricht, um sich einen ganz großen Traum zu erfüllen? Elke Heidenreich war dabei, als in Venedig das legendäre Teatro "La Fenice" seine Tore öffnete - und entführt uns alle in die Wunderwelt der Oper.

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Viermal war ich bisher in Venedig. Dreimal waren es, über 25 Jahre verteilt, "Liebesreisen", wie es sich, dachte ich, für Venedig gehört. Und jetzt, das vierte Mal, war es eine Arbeitsreise. einen großen Teil des Tages war ich zum ersten Mal in Venedig allein. Keine Hand, die meine hielt, kein Arm-in-Arm- durch-die-Gassen-Schlendern, keine tiefen Blicke, kein gemeinsamer caffè im "Florian", keine Gespräche über uns, die Gefühle, die Leidenschaften, die Zukunft, die Vergangenheit. Ich war allein mit Venedig. Und zum ersten Mal hat diese Stadt zu mir gesprochen, zum ersten Mal hat sie mein Herz wirklich erreicht - die Wintersonne glänzte auf dem Wasser, die Kanäle murmelten, die Katzen strichen mir scheu um die Beine, seltsame Begegnungen und Gespräche in den totenstillen Gassen, geht man nur ein paar Schritte weg von San Marco, San Stefano, der Rialtobrücke. Ein schlafendes, verzaubertes Dornröschen war die Stadt und schön wie nie.

Völlig erstaunt begriff ich, dass Venedig genau so wahrgenommen werden will, nicht durch die touristische Brille, sondern durch lange stille Wanderungen und den melancholischen, schweigenden Blick dessen, der allein reist. Das bedeutet auch: Die Piazza San Marco ist nur nachts, wenn es ganz still ist, überwältigend schön. Dann erst begreift man diese Architektur. Tagsüber wimmeln zu viele Menschen und Tauben herum.

Venedig ist eine Nacht-, ist eine Winterstadt, "Venedigs Seele, die Seele, mit der die alten Künstler die schöne Stadt bekleideten, ist herbstlich", schrieb der Dichter Gabriele D'Annunzio. Tagsüber beleuchtet die Sonne Armut und Verfall, aber nachts auf dem Dorsoduro, der Promenade gegenüber der Giudecca, wenn die rosafarbenen Gaslaternen durch den Nebel flimmern, hat man das Gefühl, direkt im Herzen aller Schönheit zu sein.

Der Fotograf und ich wollten nur vier Tage nach der Eröffnung des Opernhauses "La Fenice" sehen, wie alles nach dem Brand vor acht Jahren wieder aufgebaut ist, wollten hören, wie es klingt. Wir hatten Karten für "La Traviata", dirigiert von Lorin Maazel, und wir hatten Herzklopfen vor Freude und schlichen schon zwei Tage vorher immer um das Opernhaus herum. Es liegt versteckt an einem kleinen Platz, dem Campo San Fantin, an zwei Seiten von Kanälen umgeben. Leuchtend weiß die neue Fassade, golden der Phönix über dem Eingang, der aus der Asche wiederauferstandene heilige Vogel der Ägypter - wie passend für ein Theater, das nun schon so oft abgebrannt ist und immer wieder noch prächtiger aufgebaut wurde.

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Es brannte 1773, 1836 ging "La Fenice" erneut in Flammen auf. Schon 380 Tage später wurde dort wieder musiziert - die Venezianer konnten ohne ihre Oper nicht sein. 1996 brannte sie bis auf die Grundmauern nieder, und diesmal dauerte der Wiederaufbau ganze acht Jahre - eine endlose italienische Geschichte von Korruption, Verzögerung, Bauschwindeleien. Im März 1853 wurde Verdis Oper "La Traviata" in "La Fenice" uraufgeführt, und nun wurde das Theater mit dieser Oper endgültig glanzvoll wiedereröffnet. An diesem Abend ist vergessen, was das alles gekostet, wie lange das alles gedauert hat, die Oper ist wieder aufgebaut, "dov'era e com'era" - wo sie war und wie sie war.

Ganz so, wie es war, kann etwas Verlorenes nie mehr werden, aber die Italiener haben gute Arbeit geleistet: Die Deckengemälde wurden akribisch nachgemalt, die Fresken wiederhergestellt, die wunderbaren Fußböden rekonstruiert, der Zuschauerraum mit reichlich Gold und mächtigen venezianischen Lüstern verziert, die Säle im ersten Stock sind von atemberaubender Pracht, die Lüster hier noch üppiger verteilt, groß wie Einfamilienhäuser, und, was man nicht sieht, aber hört: Die Akustik wurde verbessert. Natürlich fehlt Patina, wie auch nicht - alles ist noch neu und glänzt noch ein bisschen zu viel, aber in einer so alten, morschen, ewig feuchten Stadt wie Venedig wird die Patina schneller kommen als anderswo.

Was das nun alles gekostet hat? Unsummen natürlich - aber nun hat eine Stadt mit nur noch 63 000 Einwohnern eines der schönsten Opernhäuser der Welt. Es gibt sogar noch eine zweite Spielstätte in Venedig, das Teatro Malibran bei Rialto, und würde man das hochrechnen auf die Einwohnerzahl, müsste eine Stadt wie München 75 Opernhäuser haben, schrieb Dietmar Polaczek in der "Süddeutschen Zeitung".

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Natürlich lebt in Venedig alles vom Tourismus, er ist Fluch und Segen dieser Stadt - er ruiniert und erhält sie zugleich. Aber das war schon immer so. Gibt es irgendeinen künstlerisch fühlenden, denkenden, arbeitenden Menschen, der nicht wenigstens einmal in seinem Leben nach Venedig gereist wäre? - ach, die Liste der Dichter, die mir auf Anhieb einfallen, ist endlos. Dann erst die Musiker! Die Maler! Und, natürlich: ganz Japan. Ich habe während der Woche in Venedig deutlich mehr Japaner als Italiener gesehen.

Und dann, endlich, unser Opernabend. Vor dem Theater vergnügtes Geschnatter eleganter Damen, die Orchestermusiker standen zu Beginn und in den Pausen in ihren Fräcken draußen, rauchten, tranken an der Ecke rasch einen Espresso. Es geht ungezwungen zu. Innen, an jeder Ecke, auf jedem Flur, an jeder Treppe: ein argwöhnisch wachender Feuerwehrmann. (Das letzte Mal war es Brandstiftung!) Ich saß auf einer der goldenen Bänke im Foyer und beobachtete das hereinströmende Publikum. Hier tragen die Damen, wie immer in Italien, üppige Pelze, die natürlich nicht an der Garderobe abgegeben werden. Das nehmen einige Touristen zum Anlass, auch ihre wattierten Anoraks stundenlang auf dem Schoß zu halten. Der Italiener geht elegant in die Oper, der Tourist mit dem, was er im Rucksack hat, die Mischung ist grotesk. Das Haus erträgt das.

Die hunderte kleiner Lämpchen blinken an den Logen fünf Ränge hoch, Engelchen blasen an der Decke stumm ihre Posaunen, der grüne Samtvorhang ist so viel eleganter als das weltweit übliche Theaterrot. Aus den Logen winken sich Bekannte zu, die Stimmung ist gelöst, heiter, erwartungsfroh. Die Eintrittskarten sind sehr teuer, aber noch am Tag der Aufführung waren welche zu haben, glückliche deutsche Touristen konnten es kaum fassen.

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Tom und ich durften am Morgen hinter die Kulissen sehen - die engen Büros, die endlosen Treppenaufgänge, die verwirrenden Wege zu den Künstlergarderoben, alles riecht noch ganz neu und nach Farbe, und als wir wieder auf dem kleinen Platz draußen standen, hievten vier Männer mit einer seltsamen kleinen Treppenraupe den Flügel hoch, auf dem Alfredo abends spielen würde - zumindest so tun würde, in Violettas Salon. Beim Teatro "La Fenice" ist kein Platz für einen Fundus. Die Kulissen lagern auswärts in zwei Magazinen, und man kann zusehen, wie die schwer beladenen Schiffe in den Bauch des Theaters fahren.

Kein anderes italienisches Opernhaus, auch die Mailänder Scala nicht, galt lange so sehr als Inbegriff italienischer Opernkultur - Paisiello, Cimarosa, Rossini, Bellini, Mozart, Donizetti, Verdi, Puccini, Wagner, Bizet, alle großen Komponisten erlebten Aufführungen ihrer Werke im "La Fenice". Auch Strawinskys "The Rake's Progress", Luigi Nonos "Intolleranza" und Bruno Madernas "Hyperion" - Opern des 20. Jahrhunderts - wurden hier zum ersten Mal in Szene gesetzt. Das Teatro "La Fenice" ist kein Museum, selbst wenn es so aussieht.

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Und auch die Inszenierung von "La Traviata", die wir gesehen haben, räumt gründlich mit altem Rührkitsch, Plüsch und Plunder auf. Bei dieser Geschichte der Kurtisane Violetta, die den bürgerlichen Alfredo nicht lieben darf, weil dessen Vater sich dagegen stellt, wird gern die eine große schwülstige Liebe beschworen. Nicht so in Robert Carsens und Lorin Maazels Version: Es ging nicht um Liebe, es ging ums Geld. In der Pracht des neu erstandenen Theaters sahen und hörten wir die Kälte einer Oper, die so gespielt und inszeniert genau in unsere heutige Zeit passt, ohne sich modernistischem Schnickschnack anzupassen. Trauriger, kälter, illusionsloser habe ich diese Oper nie gesehen, und richtiger, glaube ich, auch nicht - und das an diesem Ort der rekonstruierten alten Pracht.

Am Tag nach der Aufführung scheint eine klare kalte Sonne. Ich fahre mit einem Vaporetto einmal um ganz Venedig herum, gehe ins Guggenheim Museum am Canale Grande. Im Garten eine Leuchtschrift von Maurizio Nannucci: "Changing Place, Changing Thoughts, Changing Time, Changing Future." Er hat Recht, denke ich, jede Reise verändert das Leben, die eigene Zukunft. Daneben das Grab von Peggy Guggenheim und ihren Hunden. Ein paar Schritte weiter wächst ein wunderbar sperriger Olivenbaum mit einem Stamm wie ein menschliches Gesicht - ein Wish Tree, ein Wunschbaum, with love to Peggy from Yoko Ono. Ein Foto der so schön und gelassen alternden Yoko Ono hängt über meinem Schreibtisch. Alles hängt mit allem zusammen. Und ich fühle mich tief glücklich, nach dieser Musik, in dieser Stadt, unsichtbar umgeben von Menschen, die ähnlich empfinden, empfunden haben wie ich selbst.

Reise-Infos Opernreisen

Nach Mailand in die Scala, nach Vendig oder nach Madrid - Opernreisen veranstalten zum Beispiel www.opernreisen.net, www.orpheusopernreisen.de, www.klassikreisen.de/ und www.opern-reisen.de.

Text: Elke HeidenreichFotos: Tom KrauszBRIGITTE 07/05

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