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"Der Krebs war ein Schlag ins Gesicht": Melissa Etheridge über die Angst vor dem Tod

Melissa Etheridge über die Angst vor dem Tod: Melissa Etheridge in roter Jacke
© Kris Connor / Getty Images
"I NEED TO WAKE UP" ... heißt einer ihrer größten Songs. Melissa Etheridge ist aufgewacht. Wie sich das anfühlte, verrät die amerikanische Rocksängerin im Interview.

BRIGITTE WOMAN: Frau Etheridge, ich sage es gleich vorweg: Eine Kollegin, die Sie sehr verehrt, hat mich heute zu Ihnen geschickt.

MELISSA ETHERIDGE: Oh, ein Fan?

Das ist eine Sichtweise. Meine Kollegin selbst sagt: Sie sind wie eine Freundin für sie, unbekannterweise. Durch die Offenheit in Ihren Stücken, in Ihren Interviews. Das macht Sie so nahbar für sie.

Wundert Sie das?

Ein bisschen. Nahbar zu sein bedeutet ja auch, verwundbar zu sein.

Sehe ich anders. Bei meinen ersten Auftritten als Teenager habe ich hauptsächlich Coverversionen gespielt. Und mich dann auch mal getraut, ein eigenes, sehr persönliches Stück vorzutragen. Danach kam eine Frau zu mir und sagte: Kannst du das noch einmal spielen? Ich war verblüfft: Etwas, das ich gemacht hatte, löste etwas bei einem fremden Menschen in einer Bar aus. Danach wusste ich, dass es anders nicht geht. Nein: dass ich anders nicht kann.

Ihr neues Album heißt "The Medicine Show". Ungewöhnlicher Titel.

Wissen Sie, ich bin weit über 50. Ich bin glücklich verheiratet, man könnte sagen: Ich habe den schwierigen Beziehungskram erfolgreich gemeistert. Ich bin ganz gut in meinem Job, ich habe mein Leben geregelt. Also kümmere ich mich nun um eine der wichtigsten Sachen für Menschen meines Alters.

Ich rate mal: Gesundheit?

Richtig. Die nimmt in meiner Altersklasse einen Großteil der Gedanken ein. Ich möchte ein hochwertiges Leben führen, eines, das ich mir verdient und erarbeitet habe, und Gesundheit spielt darin die vielleicht wichtigste Rolle.

Auch weil Sie nahe dran waren, sie für immer zu verlieren?

Allerdings. Vor 14 Jahren wurde bei mir Brustkrebs diagnostiziert.

Hatten Sie damals das Gefühl, Sie könnten wirklich sterben?

Nein. Und ja. Es war so: Ich fühlte mich vor der Diagnose ziemlich schlecht, ich hatte tatsächlich Angst, sterben zu können. Dann habe ich über die Sache nachgedacht und mir gesagt: Augenblick mal. Wir alle werden sterben, warum mache ich mir gerade so große Sorgen über etwas, das unabwendbar Teil meines und jedes anderen Menschen Lebens ist? Ich habe erkannt: Der Tod und die Angst vor ihm sind eigentlich nur dazu da, uns im Leben zu verankern.

Und dann kam die Diagnose Brustkrebs.

Ja, und ich hatte überraschend wenig Angst davor, die Sache nicht zu überleben. Ich wusste aber auch, dass ich damit eine Aufgabe bekommen hatte.

Welche?

Alles zu ändern, wenn ich weiterleben wollte. Meine Ernährung, mein Arbeitspensum, meine Art, Beziehungen zu führen. Ich hatte zwei üble Chemos, der Krebs war verschwunden. Aber ich war mir ganz sicher: Wenn ich mein Leben und meine Einstellung zu ihm nicht ändere, würde der Krebs zurückkommen.

Womit haben Sie angefangen?

Mit meinem Bewusstsein, mit der Frage: Wofür will ich leben? Die Antwort war: für meine Kinder. Die brauchten mich.

Und dann?

Habe ich mich gefragt, was das eigentlich bedeutet: gesund zu sein. Und wie man da hinkommt.

Was war Ihre Erkenntnis?

Dass ein großer Teil der Antwort in Pflanzen liegt. Ich bin Vegetarierin geworden, denn ich bin davon überzeugt, dass Fleisch und stark verarbeitete Lebensmittel uns krank machen. Und ich bin ein großer Anhänger von pflanzlichen Heilmitteln und Kräutern und von medizinischem Cannabis. Ich arbeite sogar gerade an einem Cannabis-Produkt, das ich zu Hause in Kalifornien auf den Markt bringen will.

Joanna McPherson und ihre Töchter

Ist das legal?

Ja, in 34 Staaten der USA ist Cannabis mittlerweile rechtlich erlaubt. Es findet gerade ein Kulturwandel in den USA in dieser Sache statt, und der wird noch sehr weite Kreise ziehen.

Inwiefern?

Weil sehr viele Menschen aus den Gefängnissen entlassen werden müssen, die wegen des Besitzes von Marihuana zu zum Teil absurd hohen Haftstrafen verurteilt worden sind. Die können ja nicht weiterhin für etwas inhaftiert sein, das inzwischen erlaubt ist. In meiner Heimat vollzieht sich gerade ein enormer Wandel, und diese Platte ist meine Art, mich damit auseinanderzusetzen.

Die auffälligste Veränderung: Seit gut zwei Jahren gibt es einen neuen Präsidenten.

Und das hat Auswirkungen auf jeden von uns. Trump hat uns verändert, er hat unsere Gesellschaft ungesünder gemacht.

Weil er das gesellschaftliche Klima vergiftet.

Stimmt. Aber das ist nicht nur schlimm. Er zwingt uns dazu, uns mit der Frage zu beschäftigen, was für ein Gemeinwesen gesund ist. Mein Job als Musikerin ist es, das zu spiegeln. Mein Album sagt: Lasst uns herausfinden, was gut für uns ist. Lasst uns besser sein!

Wir hier in Europa beobachten eher, dass die Fronten zwischen den Lagern in den USA noch nie so sichtbar und verhärtet waren wie jetzt.

Und das ist die gute Nachricht.

Warum?

Die Sache ist doch die: Uns Menschen ging es global und objektiv betrachtet im Laufe unserer Geschichte auf diesem Planeten noch nie so gut wie jetzt.

Stimmt.

Aber die Welt war auch noch nie so klein. Wohlstand und weltweite Vernetzung sind zwei Seiten derselben Medaille, und damit kommen Konservative wie Trump und seine Republikaner nicht klar. Veränderung macht ihnen Angst, diese Angst verbreiten sie. Und haben damit das Land gespalten.

Und wann kommt der gute Teil?

Ihre Angst ist der beste Beweis dafür, dass unglaublich gute Dinge passiert sind in Amerika. Sie haben Angst vor Veränderung, weil sie geschieht. Weil Homosexuelle heiraten dürfen, weil Schwarze Präsidenten werden können und Frauen immer einflussreicher werden.

Sind Sie eine Patriotin?

Oh ja, sehr. Ich liebe mein Land, es ist zu so viel Großartigem in der Lage. Wir können die Welt inspirieren, wie wir es schon getan haben. Allerdings haben wir sie in letzter Zeit auch das Fürchten gelehrt.

Die Zahl der Toten durch Schusswaffen ist erschreckend in den USA. An der Grenze wurden Flüchtlingskinder von ihren Eltern getrennt. Mal ehrlich: Was ist noch toll an Amerika?

Die Idee, die dahintersteckt. Dass jeder kommen und sein Glück machen kann, dass jeder die Freiheit hat, genau das zu werden, was er möchte. Ich bin mir sehr bewusst darüber, dass wir für die Welt gerade ein ganz anderes Bild abgeben. Deshalb ist es ja auch so wichtig, dass wir nach der Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr eine andere Geschichte erzählen können.

Sie sind in Kansas aufgewachsen. Wie war das?

Flach. Der Mittlere Westen der USA ist keine besonders aufregende Gegend, rein landschaftlich. Und auch sonst nicht.

Ich meinte eher: Wie waren Ihre Eltern?

Die waren interessant. Mein Vater war Lehrer, meine Mutter hat schon in den 60er-Jahren viel mit Computern gearbeitet. Haben Sie zufällig "Hidden Figures" gesehen?

Den Film über schwarze weibliche Programmiererinnen bei der NASA?

Genau. So etwas in der Art war meine Mutter auch, nur in weiß. Sie war eine sehr schlaue Frau und hat nie die verdiente Anerkennung bekommen. Und mein Vater war ein Mann mit großer Herzenswärme.

Und wie waren Sie?

Ich habe viel ferngesehen. Und ich liebte Musik, das fing mit den Beatles an. Irgendwann bekam ich eine Gitarre, und ich schätze mal, dass die Geschichte so ihren Lauf nahm. Sie hat mich von Kansas nach Los Angeles getragen.

Weil Sie unbedingt wegwollten?

Nein, überhaupt nicht. Es ging mir dort gut. Aber ich wusste mit 20 oder 21, dass ich Platten aufnehmen wollte, und das ging nicht in Kansas. Los Angeles ist es nur deshalb geworden, weil eine Tante von mir dort lebte und sie einen Schlafplatz auf ihrer Couch für mich hatte.

Sie haben mal gesagt, dass Ihr Vater Ihr großes Vorbild ist.

Das stimmt. Ich habe ihn geliebt. Er war freundlich, er hatte Spaß am Leben, und er hat immer an mich geglaubt. Ich meine damit: Er hat nie vorhergesagt, dass ich mal ein Star werden würde. Aber er hat auch nie gesagt, dass ich keine Chance habe. Er sagte nur: Du willst es – also tu es.

Hat er Sie unterstützt?

Sehr. Er hat mich mit dem Auto gefahren, wo immer ich als Teenager gerade aufgetreten bin. Das war das Hilfreichste, das er für mich tun konnte – Kansas ist weit und leer und die Entfernungen zwischen den Orten ziemlich groß.

Wie war es für ihn, als Sie herausfanden, dass Sie lesbisch sind?

Es war keine Überraschung für ihn. Er hat gesagt: Ich verstehe es zwar nicht, aber solange du glücklich bist …

Und für Sie?

Gute Frage. Ich hatte schon in der Schule das seltsame Gefühl, irgendwie anders zu sein. Und war ziemlich allein damit. Homosexualität war in unserer Gegend in den Siebzigern kein großes Gesprächsthema, eigentlich nicht mal ein kleines. Und dann habe ich mal einen Bericht über die Tennisspielerin Billie Jean King gesehen, die auch Frauen liebte. Und ich dachte: Könnte ich das sein? Irgendwann wusste ich: Ich war es.

Sie haben vier Kinder zusammen mit zwei Exfrauen.

Stimmt.

Sie leben also den Patchwork-Traum.

Das mit dem Traum ist ironisch gemeint, oder?

Ja. Ist ja oft genug ein Albtraum.

Allerdings. Für mich ist es hart gewesen, zweimal eine Familie zum Zerbrechen zu bringen. Ich hatte meine Gründe, und es war trotzdem bitter und voller Verletzungen. Und dann musst du das alles beiseiteschieben, obwohl du nichts wirklich wiedergutmachen kannst. Und einfach nur für die Kinder funktionieren.

Haben Sie das geschafft?

Meistens, obwohl es harte Arbeit ist, noch immer. Aber darauf bin ich wirklich stolz. Und ich sage Ihnen was: Ich bin jetzt 58. Mein Alter hilft mir dabei.

Warum?

Weil sich meine Perspektive auf das Leben dadurch verändert hat. Die Probleme, die ich mit 20, mit 30 hatte, haben mich an den Rand dessen gebracht, was ich glaubte, aushalten zu können. Im Nachhinein ist man schlauer, und ich weiß jetzt, dass ich mich nicht wegen jedem Quatsch zu stressen brauche. Denn das ist es, was dich mit Sicherheit krank macht, wenn du die 50 einmal überschritten hast.

Quatsch?

Stress. Jede Form davon. Vor allem aber der in Beziehungen. Ein Stück auf "The Medicine Show" heißt "I Know You". Und darum geht es doch in der Liebe: den anderen zu kennen, ihn zu erkennen, ihn zu lassen, sich nicht mit dem zu stressen, was an ihm anders ist. Lernt man aber auch oft erst, wenn man vorne die Fünf stehen hat.

Hat sich Ihr Frausein verändert mit den Jahren?

Ich weiß nicht, ob auch das mit dem Reifeprozess einherging oder schon mit meiner Krankheit kam, aber: ja. Ich habe gelernt, dass ich effektiv nur dann eine gute Partnerin, eine gute Mutter sein kann, wenn ich gut für mich selbst sorge. Denn ich glaube, dass Frauen damit traditionell große Schwierigkeiten haben.

Mit der Eigenliebe?

Ganz genau. Und wenn ich so drüber nachdenke: Es war wohl doch der Krebs, der mir diese Erkenntnis beschert hat. Er war der Schlag ins Gesicht, der mich aufgeweckt hat. Ich hoffe sehr, dass andere Frauen so einen Schlag nicht brauchen.

Melissa Lou Etheridge wurde 1961 in Leavenworth, Kansas geboren. Mit 13 hatte sie ihren ersten Auftritt vor Publikum, mit 21 ging sie nach Kalifornien, um Platten aufzunehmen. Ihre erste, "Melissa Etheridge", erschien 1988, ihr erster Hit für die Ewigkeit, "Bring Me Some Water", folgte ein Jahr später – und 1993 ihr Coming-out. 2004 wurde bei ihr Brustkrebs diagnostiziert. Von ihren bisher 14 Alben hat Etheridge weltweit mehr als 20 Millionen Exemplare verkauft. Ihre aktuelle Platte heißt: "The Medicine Show" (Concord Records). Gemeinsam mit ihren zwei Exfrauen hat sie vier Kinder zwischen zwölf und 22 Jahren, mit ihrer dritten Partnerin lebt sie in Los Angeles. Melissa Etheridge unterstützt die Demokratische Partei der USA und ist beinharter Fan des Footballteams Kansas City Chiefs.

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