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Tilda Swinton: Die Kino-Queen

Androgyn und aristokratisch: Souverän regiert Tilda Swinton im Land des Kunstfilms, aber auch Hollywood ist ihr untertan. Jetzt kommt ihr neuer Film "Julia" in unsere Kinos.

Sie hat studiert, sie ist ein Filmstar, sie darf sich Oscar-Preisträgerin nennen. Aber das alles hilft Tilda Swinton wenig, wenn sie Fragen beantworten soll wie: "Kann man auf Wolken springen, wenn man tot ist?" Oder: "Wie schmecken Würmer?" Oder: "Wie fühlt sich ein nasses Lamm an?" Solche Fragen stellen ihr ihre Zwillinge Xavier und Honor, und das sind noch nicht die schwierigsten. Wie sie selber sagt: Mit ein wenig Forschergeist lassen sich zumindest auf die beiden letzteren passable Antworten finden.

Doch weder Geschmackssinn noch Tastsinn bringen einen weiter, wenn Xavier, mittlerweile zehn, damals achteinhalb, kurz vor dem Einschlafen fragt: "Wovon haben die Menschen eigentlich geträumt, ehe das Kino erfunden wurde?" Diese Frage hat Tilda Swinton so sehr bewegt, dass sie vor zwei Jahren auf dem San Francisco Film Festival eine lange, kluge und von Herzen kommende Rede darüber gehalten hat mit dem Titel "A Letter To A Boy From His Mother", also "Ein Brief an einen Jungen von seiner Mutter". Darüber, "was das Kino ist und warum wir es brauchen und warum es sich lohnt, darum zu kämpfen. Und warum keine Revolution, weder eine digitale noch sonst eine, deine Generation um die Existenz des Kinos betrügen kann. Und warum ich voller Hoffnung bin, dass das Kino niemals verschwinden wird".

Denn Kino, nicht das narrative, "theaterhafte" mit seinem perfekten Timing und seinen korsetthaften Strukturen, sondern eines, in dem "nicht viel passiert, aber alles möglich ist, sogar Sprachlosigkeit sogar Versagen, sogar Chaos", in dem es den weiten Blick gibt, die lange Einstellung und die Lücken dazwischen - dieses Kino ist die Leidenschaft von Tilda Swinton. Auch wenn sie längst ohne mit der Wimper zu zucken ebenso ins Korsett des Mainstream-Kinos schlüpft, wie sie Independent-Filme voller Lücken dazwischen dreht.

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Die Zeiten, als sie die Muse des britischen Kunstfilmers Derek Jarman war und die Zeitungen sie einen Underground-Star nannten, sind lange vorbei. Als sie dieses Jahr zur Berlinale kam, in farbenfrohen Designer-Seidenroben, das rote Haar mittlerweile kurz geschnitten, sehnsüchtig erwartet von Organisatoren und Publikum, war die 47-Jährige definitiv keine Avantgarde-Königin, sondern ganz schlicht: eine Königin. In Berlin hat Tilda Swinton ihren neuen Film "Julia" vorgestellt, der eine einzige Huldigung an sie und ihre große Schauspielkunst ist und der am 19. Juni bei uns in die Kinos kommt.

Kaum eine Einstellung kommt ohne sie aus, fast 140 Minuten lang beherrscht sie atemberaubend die Leinwand. In dem Film des französischen Regisseurs Erick Zonca spielt sie eine Alkoholikerin, ebenso schlagfertig wie zynisch, ordinär, selbstzerstörerisch und unberechenbar. Diese Julia lässt sich auf eine wahnwitzige Kindesentführung ein und begibt sich mit ihrem Opfer auf eine Reise, nach der sie nicht mehr dieselbe sein wird.

Swintons Mentor Jarman, mit dem sie von ihrem Debüt 1986 bis zu seinem frühen Aids-Tod im Jahr 1994 sieben Filme drehte, hatte von ihr immer vor allem eins gefordert: "No acting. Be yourself." Spiele nicht, sei du selbst. Doch in "Julia" musste sie spielen wie vielleicht noch nie: "Ich habe nicht ein Quäntchen Persönliches entdeckt, das ich herausfischen und vergrößern könnte." Das beginnt schon damit, dass sie selbst überhaupt keinen Alkohol trinkt, weil sie ihn einfach nicht verträgt.

"Erick Zonca hat mich dazu gebracht, in eine völlig andere Energie einzutauchen, die wirklich nicht in mir drin ist." Das tut sie unfassbar überzeugend: Wenn ihre Julia nach durchzechten Nächten mit einem kläglichen Schmatzen der trockenen Lippen aufwacht, mag man einfach nicht glauben, dass diese Schauspielerin nicht aus eigener Erfahrung weiß, wie sich ein handfester Kater anfühlt.

Obwohl als eine der Favoritinnen gehandelt, fuhr Swinton nach der Berlinale ohne Preis nach Hause. Und gewann kurz darauf völlig überraschend den Oscar für die beste Nebenrolle. Da hatten alle auf Cate Blanchett und ihren Auftritt als Bob Dylan in "I'm not there" getippt, aber dann ging der Preis an die große rothaarige Frau in der asymmetrischen schwarzen Robe - Tilda Swinton. Für ihre Rolle als Anwältin im Justizdrama "Michael Clayton" mit George Clooney. In dem Film ist es Clooney, der für die Rettung des guten Amerikaners zu sorgen hat - und Tilda Swinton diejenige, die über Leichen geht.

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Als sie da auf der Bühne stand, die goldene Statuette in Händen, scherzte sie, dieser Oscar sehe genauso aus wie ihr amerikanischer Agent, "wirklich, er ist sein Ebenbild, die gleiche Kopfform, sogar der gleiche Hintern!" Nach der Verleihung von uns per E-Mail gefragt, was der Oscar ihr denn bedeute, antwortet sie prompt: Damit habe sie nie im Leben gerechnet, und leider seien die ersten vierzig Minuten nach Aufruf ihres Namens ("And the Oscar goes to ...") wie aus ihrem Gedächtnis gelöscht.

"Ich bekam eine Panikattacke, weil ich gleich vor drei Millionen Menschen würde sprechen müssen", schreibt sie. Und weiter, mit trockenem Swinton- Humor: "Dann bin ich zum Glück von Außerirdischen entführt worden." Die ihr einflüsterten, dass dieser Preis den gleichen Popo wie ihr Agent habe - charmante Aliens. Auf amerikanischen Boden hatte sich Swinton, zumindest zum Arbeiten, erst nach dem Tod ihres Entdeckers und Freundes Jarman gewagt. Seit 2000 hat die einstige Königin des Kunstkinos allerlei Mainstreamiges in den USA gedreht, erst "The Beach" mit Leonardo DiCaprio, im Jahr darauf "Vanilla Sky" mit Tom Cruise, 2005 den Science-Fiction-Reißer "Constantine" mit Keanu Reeves und den ersten Teil der "Chroniken von Narnia"-Verfilmungen, in denen sie die Weiße Hexe gibt. Teil zwei kommt Ende Juli in die Kinos.

"Tilda Light" nennt Swinton mit heiterer Selbstironie diese Werke in ihrer Filmografie: "Es war nicht meine Idee. Nicht ich bin nach Hollywood gegangen, Hollywood kam zu mir, wie der Berg zum Propheten." Eine "Studio- Spionin" nennt sie sich scherzhaft: eine, die sich gründlich in den großen Hollywoodstudios umschaut, um herauszubekommen, was diese fremde Welt am Laufen hält.

Natürlich liegt zwischen diesen Ausflügen in die Welt der Blockbuster auch jede Menge Traum-Kino im besten Swintonschen Sinne, der feministische Schocker "Female Perversions" über alle denkbaren weiblichen sexuellen Fantasien etwa, ihre erste Kinoarbeit nach Jarmans Tod. Oder das schräge "Adaptation" (2002) und eine kleine Rolle in "Broken Flowers" von Jim Jarmusch, mit dem sie demnächst wieder zusammenarbeiten wird. Sie schlüpft von einem Charakter in den anderen, wie Kollegen die Kostüme wechseln - wobei auch und gerade der Kostümwechsel eines ihrer großen Vergnügen ist.

Am stets familiären Set der Jarman-Filme tat sich die Darstellerin Swinton gern mit dem Ausstatter zusammen, schleppte Arme voller Flohmarktklamotten aus eigenen Beständen an. Da passt es ganz wunderbar, dass der Film, der sie wirklich bekannt machte, ein wahres Festival des Kleidertauschs war: Sally Potters "Orlando" von 1992. In der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Virginia Woolf spielt Swinton einen englischen Edelmann, der weder altern noch sterben kann, 400 Jahre lang die unterschiedlichsten Identitäten und Beziehungen ausprobiert und am Ende sogar vom Mann zur Frau wird. Damit hatte die 1,79 Meter große, sehr schlanke Swinton endgültig das Label "androgyn" weg. Denn nicht nur als Orlando schlüpfte sie in die Haut eines Mannes. Auf der Bühne war sie "Mozart" in Puschkins "Mozart und Salieri", und in "Man to Man" von 1992 gibt sie eine Arbeiterin, die während des Zweiten Weltkriegs die Identität ihres Mannes annimmt.

Manchmal werde sie an der Sicherheits-Schleuse auf Flughäfen nicht wie andere weibliche Fluggäste von einer weiblichen Mitarbeiterin gecheckt, erzählt Swinton belustigt, und auf der Straße schon mal mit "Sir" angesprochen: "Das liegt sicher daran, dass ich so groß bin, kaum Lippenstift trage. Die Leute können sich wohl einfach nicht vorstellen, dass ich, so wie ich aussehe, eine Frau bin."

Das andere A-Wort neben "androgyn", das im Zusammenhang mit Swinton immer wieder auftaucht, ist "aristokratisch": "Fast schämt man sich, dass einem nur das naheliegende Wort aristokratisch in den Sinn kommt", schrieb die "Zeit". Dabei drängt sich die Bezeichnung nicht nur wegen ihrer Gestalt auf: Katherine Matilda Swinton entstammt tatsächlich einer schottischen Adelsfamilie, die im 9. Jahrhundert zum ersten Mal erwähnt wird. "Alle Familien sind alt", hat sie dazu lakonisch bemerkt. Ihre Herkunft ist nicht gerade Swintons Lieblingsthema. Als junges Mädchen saß sie auf einem englischen Elite- Internat in einer Klasse mit einer gewissen Diana Spencer, die später Lady Di wurde. Danach hat sie in Cambridge studiert, erst Politik und Sozialwissenschaften, dann entschied sie sich um und machte ihren Abschluss in englischer Literatur.

Denn Tilda Swinton hat schon immer getan, was sie wollte. Nach dem College-Abschluss entschied sie sich für Schauspiel und die Royal Shakespeare Company, ließ sich dann aber von Jarman zum Film holen und gab für ihr Debüt in "Caravaggio" eine kleine Prostituierte mit der Aura einer Maria Magdalena. Nach Jarmans Tod trauerte sie auf ihre eigene Weise um ihn: Eine Woche lang, acht Stunden täglich, legte sie sich in der Londoner Serpentine Gallery - später noch einmal in Rom - als lebende Installation in einen gläsernen Sarg. "Matilda Swinton (1960 - )" war auf einer kleinen Plakette unterhalb des Glaskastens zu lesen.

Keine Kompromisse - auch in ihrem Privatleben. Auf Reisen begleitet sie seit vier Jahren der 30-jährige Maler Sandro Knopp, den sie am Set zu "Die Chroniken von Narnia" kennen gelernt hat. Auch bei der Oscar-Verleihung war er an ihrer Seite. Zu Hause in den schottischen Highlands lebt sie zurückgezogen mit dem 68-jährigen Maler und Drehbuchautor John Byrne und den gemeinsamen Zwillingen Honor und Xavier. Und, siehe oben, deren Fragen ans Leben. Als Nächstes wird Tilda Swintons porzellanweißes Gesicht beim Filmfestival von Venedig auf der Leinwand erstrahlen: Sie spielt in "Burn after Reading", dem neuen Werk der Coen- Brüder nach deren sensationellem Erfolg mit "No Country for Old Men"; der Film eröffnet die Festspiele. Und bringt Tilda Swinton nach "Michael Clayton" wieder mit George Clooney zusammen. Anfang Januar kommt sie an der Seite von Brad Pitt mit dem neuen Film von David Fincher ins Kino, mit Erick Zonca ist schon die nächste Zusammenarbeit geplant. Kurz: Die Größten des Independent-Kinos stehen Schlange vor der Tür von Königin Tilda. Weil sie unbestritten eine der besten Darstellerinnen ist, die derzeit zu haben sind. Und einer der schönsten Träume, die das Kino träumen kann.

Trailer zum Film "Julia"

BRIGITTE Heft: 14/08 Text: Stephanie Hentschel, Marli Feldvoss

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