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Hilary Mantel: Besuch bei einer Unbesiegbaren

Hilary Mantel schreibt brillant, gewinnt Buchpreise und verkaufte ihren Roman "Wölfe" allein in Deuschland über 100 000 Mal - trotz schwerer Krankheit. Besuch bei einer Unbesiegbaren.

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Hilary Mantel ist dem Bösen begegnet. Sie war sieben Jahre alt und spielte im verwilderten Garten des Hauses, in dem ihre Familie in der Nähe von Manchester lebte. Auf einmal fühlte sie die Gegenwart von etwas Außergewöhnlichem: "Ich fühlte mich sehr krank, mir war kalt. Es schien meinen ganzen Körper in Besitz zu nehmen." Alles, was gut war, sickerte aus ihrem Körper, "wie Flüssigkeit aus einer Leiche". Mit größter Anstrengung drehte sie sich um und ging ins Haus zurück. Für diese Begegnung fand sie keine Worte. Sie wollte auch nicht darüber sprechen, aus Angst, das Böse würde so ins Haus kommen. "Aber die Welt hatte sich verdunkelt", sagt die Schriftstellerin und legt ihre kleinen Hände ordentlich zusammen. "Ich ging weiter zum Gottesdienst und sagte meine Gebete, doch es war nicht mehr dasselbe." Gott hatte sie nicht vor dieser Begegnung bewahrt.

Die Wintersonne lässt das Meer vor der Küste von Devon in Südengland aufblitzen, und der blaue Himmel im Fensterrahmen steht im Gegensatz zu der Dunkelheit des eben Gesagten. Hilary Mantel ist im Alter von 60 Jahren an einem Ort angekommen, der weit weg von der Düsternis ihrer Kindheit liegt. Seit zwei Jahren lebt sie in einer hellen Wohnung mit Blick aufs Meer in der Kleinstadt Budleigh Salterton. Pastellfarbene Cottages, ein reetgedecktes Heimatmuseum, Teestuben mit Chintzvorhängen. Rüstige Pensionäre führen Hunde am langen Kieselstrand spazieren. Es ist die Erfüllung eines Jugendtraums. Mit 16 war sie mit ihrer Familie das erste Mal im Urlaub, weit weg vom industriellen Norden. Um dem stickigen Wohnwagen zu entfliehen, ging Hilary über die Klippen, sah das glitzernde Wasser und die weißen Häuser und dachte, Budleigh Salterton sei der schönste Ort der Welt. "Ich war allerdings noch nie irgendwo gewesen", sagt sie, und in ihrer fast beschwörenden Stimme schwingt Amüsement mit.

Als Hilary Mantel 2011 nach Budleigh Salterton zurückkehrte, hatte sie mehr gesehen als die meisten Menschen. Sie hatte nicht nur mit ihrem Mann, einem Geologen, in Botswana und Saudi-Arabien gelebt, sondern auch die Hölle ihrer chronischen Krankheit Endometriose erfahren - und den Höhepunkt ihres schriftstellerischen Daseins: Ihr Roman "Wölfe" gewann 2009 den renommiertesten Literaturpreis der englischsprachigen Welt, den Man Booker Prize. 2012 bekam sie ihn dann für den Nachfolger "Falken" - der jetzt auf Deutsch erscheint - gleich noch einmal. Hilary Mantel ist die einzige Frau, der es bisher gelang, diesen literarischen Jackpot zweimal zu knacken. Und ihre Tudor-Bücher sind international erfolgreich. In England überholte Mantel mit "Wölfe" sogar Dan Brown, auch in Deutschland verkaufte sich der Roman bisher weit über 100 000 Mal. Dabei sind beide Werke nicht das, was man sonst unter massentauglichen Bestsellern versteht. "Wölfe" und "Falken" erzählen das Leben von Thomas Cromwell, einem engen Berater von König Heinrich VIII. Geboren als Sohn eines brutalen Schmieds, stieg er zur rechten Hand des englischen Herrschers auf. Er half Heinrich, 1533 die Scheidung von Katharina von Aragon möglich zu machen, dessen Geliebte Anne Boleyn auf den Thron zu setzen und - nachdem sie keinen Thronfolger gebar und er sich Jane Seymour zuwandte - aufs Schafott zu bringen. Mit der Enthauptung Annes endet "Falken", doch die Geschichtsbücher erzählen, wie es weiterging mit Cromwells Karriere unter seinem vollkommen unberechenbaren Herrn: 1540 verurteilte Heinrich seinen besten Mann zum Tode wegen Hochverrats. Es sind historische Romane, doch von der übertriebenen Prallheit und faktischen Ungenauigkeit einer "Wanderhure" so weit entfernt wie die Erde vom Mars. Frauen schwingen keine Schwerter, sondern müssen Thronfolger gebären, sonst werden sie entsorgt. Das war die Realität.

"Wenn man damit nicht leben kann, darf man keine historische Literatur schreiben", sagt die Autorin achselzuckend. Hilary Mantels Prosa ist präzise wie ein Skalpell. Mit geraden Schnitten legt sie in eindrücklichen Szenen das pochende Herz einer Zeit frei, die uns barbarisch vorkommen mag, die aber den Wendepunkt in der Weltgeschichte darstellt. Wegen seiner Leidenschaft für die charismatische Anne Boleyn sagt sich Heinrich von der katholischen Kirche los, es ist eine Reformation aus dubiosen Gründen - mit weitreichenden Folgen.

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Mantels Charaktere sprechen kein kauziges Pseudo-Altenglisch, auch verschwendet sie ihre Worte nicht für überbordende Ausstattungsszenen. Die Menschen ihrer Romane bewegen sich durch eine von Ständen und Religion bestimmte Welt, in der man zu jeder Zeit das Leben verlieren kann. Cromwells Frau stirbt urplötzlich an einem Fieber: Als er abends nach Hause kommt, liegt sie schon aufgebahrt. Seine kleine Tochter Grace scheidet aus der Welt, "leicht, genauso natürlich, wie sie geboren wurde". Der Tod ist allgegenwärtig, das Einzige, was zählt, ist die Macht. Dafür wird in englischen Adelsfamilien die Ehre der Töchter geopfert, und Männer vergießen ihr Blut - in der Schlacht, im Turnier und auf der Hinrichtungsstätte. Wer der Macht gefährlich wird, muss sterben. Durch Gift, das Schwert oder unendlich qualvoll auf dem Scheiterhaufen.

Ihre Jugend: genug Stoff für einen Schauerroman

Für Hilary Mantel ist es ein Leichtes, sich in einen Menschen aus dem 16. Jahrhundert hineinzuversetzen. Sie kennt vieles aus eigener Erfahrung, als Kind einer streng katholischen irischen Einwandererfamilie. Den unerschütterlichen Glauben, dass nur das Jenseits zählt. Das quälende Gefühl der Sünde. Und die Furcht vor dem Bösen. Schon vor ihrer Begegnung mit dem Unaussprechlichen fühlte das Mädchen Hilary, das Haus, in dem sie lebte, sei von Geistern bevölkert: "Was mich besonders ängstigte, war: Die Erwachsenen glaubten es ebenfalls. Ich wusste es, denn ich hatte sie darüber sprechen hören. Und ich wusste, dass sie mich daher auch nicht beschützen konnten." Es gab noch andere Gespenster in Hilarys Familienleben. Eines Tages kam der Geliebte ihrer Mutter zu Besuch und ging nicht wieder. Irgendwann zog die Mutter mit den Kindern und ihrem Geliebten einen Ort weiter, Hilarys Vater blieb zurück. Sie sah ihn nie wieder. Sie und ihre zwei kleinen Brüder bekamen den Nachnamen ihres neuen Stiefvaters - Mantel -, der biologische Vater wurde von der Mutter aus dem Familiengedächtnis getilgt, "so wie Stalin die in Ungnade gefallenen Mitglieder der Politbüros auf den Fotos ausmerzen ließ". Hilary Mantels Jugend gäbe selbst genügend Stoff für einen Schauerroman her. Vor dem Ort, in dem sie lebte, war ein tückisches Moor, "wir mussten uns das Unbekannte nicht vorstellen, es lag hinter der Türschwelle". Hilary sog die Geschichten auf über Menschen, die nie aus dem Nebel zurückkehrten, "kein schlechter Ort für eine zukünftige Schriftstellerin". Sie schärfte ihre Beobachtungsgabe, indem sie früh lernte, die Erwachsenen zu belauschen und ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. Nachdem sie den krassen Schritt der Trennung vollzogen hatte, versuchte ihre Mutter, sich und der Welt einzureden, ihre zweite Ehe sei glücklich. "Das war nicht die Wahrheit. Sie war die Hölle", sagt Mantel schlicht. Sie spricht, wie sie schreibt: in geraden Sätzen, die den Empfänger oft mit Wucht treffen.

Der biologische Vater wurde von der Mutter aus dem Familiengedächtnis getilgt, so wie Stalin die in Ungnade gefallenen Mitglieder der Politbüros auf den Fotos ausmerzen ließ.

In der Küche hört man Hilary Mantels Ehemann Gerald rumoren. Sie kennt ihn seit ihrem 16. Lebensjahr: Er stammt aus dem gleichen Ort. Nach seiner Pensionierung betreut er jetzt hauptberuflich seine erfolgreiche Frau "und ist beschäftigter als je zuvor", wie sie nicht ohne Genugtuung anmerkt. Ihre Ehe war eine von Hilarys Fluchthilfen vor dem verhassten Stiefvater und aus der Unterschicht. Die anderen waren ihre guten Noten und ein Jurastudium. Allerdings hatte keiner dem bildungshungrigen Mädchen erklärt, dass eine juristische Karriere im England der 70er Jahre nur mit Beziehungen und Geld zu schaffen war. Sie konnte die weitere Ausbildung nicht bezahlen und nahm eine Stelle als Sozialarbeiterin an. Aber ihre Gesundheit verschlechterte sich konstant. Die Ärzte hielten sie für "sensibel und überreizt", verschrieben Psychopharmaka gegen ihre Erschöpfung. "Ich sah, wie sich für mich alle Türen schlossen, und dachte: Ich muss die Kontrolle über mein Leben wiedergewinnen", erzählt Mantel. Sie nahm einen Job in einem Kaufhaus an. Und begann im Alter von 22 Jahren zu schreiben. Einen historischen Roman mit dem Namen "Brüder", über die französische Revolution. "Für einen jungen Menschen ist es nur natürlich, an Revolutionen interessiert zu sein", erklärt sie ihre ungewöhnliche Themenwahl. "Man lebt unter einem Regime der Unterdrückung und sehnt sich nach dem Aufstand."

Sie beendete das Buch in Botswana, wo sie mit Gerald, der dort als Geologe arbeitete, hinzog. Sie hätte auch auf dem Mond leben können, "einem sehr heißen, staubigen Mond", es gab kein Fernsehen, Zeitungen, selten Radio-Empfang. Kein Verlag in England wollte das Buch publizieren. "Alle dachten: Marie Antoinette, weite Röcke, hohe Perücken. Eine historische Romanze. Und niemand fing überhaupt an zu lesen." Sie gab nicht auf. Schrieb einen Gegenwartsroman, las medizinische Fachbücher in der Bibliothek, fand eine Diagnose für ihr Leiden und flog nach England. Dort bestätigten die Ärzte ihre Vermutung, dass sie an Endometriose leidet. Zellen der Gebärmutterschleimhaut sitzen an falschen Stellen des Körpers, bluten dort ebenfalls und können entsetzliche Schmerzen verursachen. Sie kam ins Krankenhaus, und als sie wieder entlassen wurde, hatte sie keine Gebärmutter und keine Eierstöcke mehr. Hilary Mantel war 27 Jahre alt.

Die Totaloperation setzte eine Kettenreaktion in Gang, ihre Schilddrüse versagte, sie nahm immer mehr Medikamente. "Mein Gewicht explodierte, dann nahm ich ab, dann wieder zu. Meine Haare fielen aus." Hilary Mantel ist nie wieder gesund geworden. Ihre Organe sind verklebt durch Narben. Ihr Aussehen ist gezeichnet von ihrer Krankheit, doch wenn man sie sich bewegen sieht, hat man das Gefühl, ihr unförmiger Körper ist nur ein Kleidungsstück, unter dem nach wie vor das magere, sich nach Erlebnissen verzehrende Mädchen steckt. Gerald fragt, ob er noch mehr Tee bringen soll. Ein gemütlicher, weißbärtiger Mann, der auf die Bemerkung seiner Frau, sie sei immerhin jetzt schon Großtante, freundlich neckend einwirft: "So groß bist du eigentlich nicht."

Hilary Mantel ist nie wieder gesund geworden. Ihre Organe sind verklebt durch Narben.

Zwei Mal haben die beiden geheiratet. Ein Thema, über das Mantel wenig spricht. Das erste Mal scheiterte ihre Ehe nach der Operation, aus vielen Gründen, wie sie sagt. Er arbeitete weiter in Afrika, sie wohnte mal hier, mal da. Die einzige Konstante in ihrem Leben war das Schreiben: "Ich hatte fast alles verloren, aber ich hing an der Vorstellung, ich würde es als Schriftstellerin schaffen." Das tat sie. Jahrelang war sie stets von der Presse hoch gelobt, blieb aber kommerziell nur moderat erfolgreich. Vielleicht, weil sich alle ihre Bücher so grundlegend voneinander unterscheiden. Es war Thomas Cromwell, der ihr Leben 2009 grundlegend veränderte. Ein von den Historikern bisher geschmähter Emporkömmling von niedriger Herkunft. "Niemand hat ihn sich mit den Augen eines Menschen des 21. Jahrhunderts angesehen. Wo es nicht um Abstammung, sondern Leistung geht. Wie hat er es geschafft, die Regeln zu brechen und so hoch aufzusteigen?", sagt Mantel, und ihr Lächeln zeigt, dass sie sich durchaus mit ihrem Protagonisten identifiziert. Auch sie ist ehrgeizig. Hilary Mantel sagt, wäre sie nicht krank gewesen, hätte sie noch viel mehr erreichen können. Man glaubt es ihr sofort - obwohl zwei Booker-Preise schon mehr sind, als bisher alle Schriftstellerinnen der Welt geschafft haben.

Ihr Vater war ein kleiner Angestellter- sie kann sich jetzt eine große Wohnung mit Panoramafenstern aufs Meer leisten. Dort, an einem kleinen Schreibtisch neben der Tür zu ihrem privaten Aufzug, arbeitet sie am dritten Teil von Cromwells Geschichte: seinem Fall. "Cromwells Todesurteil war wohl das Irrationalste, was Heinrich je getan hat", sagt Mantel. Und sofort möchte man lesen, wie sie es schafft, den letzten Akt von Cromwells Leben in Worte zu fassen. Denn Mantels Vorzug ist nicht nur, dass sie niemals irgendetwas verändert, das historisch belegt ist. Eine Kartei hilft ihr, alle Charaktere im Auge zu behalten. Jede Reise, jeder Aufenthalt ist festgehalten. "Wenn du die Fakten hast, halte dich daran", ist ihr Grundsatz. Aber kein anderer Autor besitzt ihre Gabe, die Welt durch die Augen ihrer Charaktere zu sehen. Cromwell war in seiner Jugend Söldner und Tuchhändler, er bereiste die Welt bis Italien und sprach viele Sprachen. "Wenn er die Menschen am Hof ansieht, weiß er, was ihre Kleider gekostet haben", erklärt Mantel. "Wie sich der Stoff auf der Haut anfühlt. Ob die Färbung halten wird." Cromwell kennt alle Regeln des höfischen Spiels, weil er wie seine Schöpferin ein Beobachter ist: vom Adel nicht ganz ernst genommen, aber immer einen Schritt voraus, weil er selbst die getuschelten fremdsprachlichen Bemerkungen zugereister Hofdamen versteht. Ein Mann, der klüger ist als die meisten, aber auch nicht skrupelloser als andere. Kaum vorstellbar, was Hilary Mantel ohne ihn - der in jeder Szene ihrer Bücher immer als "Er" oder "Er, Cromwell" vorkommt - anfangen wird, wenn sie ihn in sein literarisches Grab geschickt hat. Das wird frühestens 2015 sein. "Er macht mich glücklich", sagt sie und lacht. Ein Mann, der bisher von der Welt als Bösewicht bezeichnet wurde. Nur in Hilary Mantels Büchern darf er das sein, was er war: ein lebendiger Mensch.

Foto: Getty Images

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