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Paul Auster: Der Mann, der mit den Geistern spricht

Der amerikanische Schriftsteller Paul Auster verlässt ungern sein Haus. Und wenn man ihn dort besucht, hat man das Gefühl, dass er lieber mit seinen Romanfiguren plaudern würde als mit Menschen aus dem wirklichen Leben. Aber was ist im Kosmos von Paul Auster das wirkliche Leben?, fragt sich BRIGITTE-Autorin Beatrix Gerstberger.

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"Sehen Sie", sagt Paul Auster, "diese Geschichte hier können Sie so erzählen: Ich nahm ein Flugzeug, flog nach New York und ging zu Austers Haus, und wir haben über dies und das gesprochen. Oder Sie können sagen: Ich legte mein Aufnahmegerät auf einen Tisch. Es war ein runder Tisch, und es gab einige interessante Dinge auf diesem Tisch. Sie können all das beschreiben, alle Details, Farben, Formen, wenn Sie das Gefühl haben, es ist notwendig für eine Geschichte."

Also: Ich nahm ein Flugzeug, flog nach New York und ging zu Austers Haus. Auster wohnt in Brooklyn, und in seiner Straße sind alle Häuser braun, alle haben steile Treppen, die hoch zur Eingangstür führen. Vor seinem Haus stehen eine Linde und eine Platane, und früher lebten hier irische und italienische Einwandererfamilien, heute sind es Schriftsteller, Künstler, Regisseure, Journalisten. Manchmal hängt im Viertel ein Zettel am Baum: "Wo ist Paul Auster?", steht darauf. Nur Auster-Fans suchen so verzweifelt ihren Meister, nach kaum jemand wird im Viertel so häufig gefragt, nicht nach Dave Eggers, nicht nach Jonathan Safran Foer, den anderen berühmten amerikanischen Schriftstellern, die hier leben.

Paul Auster, das ist der selten grüßende Nachbar mit der hoch aufragenden, tannenschlanken Gattin Siri Hustvedt, die ebenfalls erfolgreiche Romane schreibt und jeden Donnerstag einen Alte-Damen-Einkaufswagen mit frischen Blumen vor sich her nach Hause schiebt, gern lilafarbene, erzählt man sich hier in Park Slope. Und geht man durchs Viertel, dann geht man durch die Straßen vieler seiner Romane, Brooklyn ist also ein Art Disneyland für Literaturreisende geworden, und Paul Auster ist Micky Maus, die Hauptattraktion. Paul Auster sagt, er habe genau 40 Minuten Zeit, und dann führt er in sein Haus, in einen Raum im Erdgeschoss mit Gemälden seiner alten Olympia, auf der er nun seit 25 Jahren schreibt, und zwei kleinen Skulpturen eben dieser Schreibmaschine auf jenem runden Tisch, auf dem mein Aufnahmegerät liegt. Das Haus, sagt er, sei ein Produkt Siris. Ihres brillanten Gespürs für Ästhetik, Harmonie und Ordnung. Im Hintergrund räumt seine Frau in der Küche umher, arrangiert Blumen, weiße und lilafarbene, und sagt: "Um fünf brauche ich aber den Raum." Paul Auster raucht Zigarillos der Marke Schimmelpennick und sagt: "Über meine Arbeit zu reden langweilt mich."

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Seine Arbeit, das sind jene erfolgreichen, mittlerweile in 35 Sprachen übersetzten Bücher, in denen sich immer weitere Bücher verstecken. Labyrinthe, in denen das Leben durch Zufälle gelenkt wird und Zufälle zum Schicksal werden. Die Menschen in diesen Büchern suchen nach den Resten ihrer zerbrochenen Seelen. Einsiedlerische Versager, Verzweifler an einem Leben, das mehr Verlust ist als Gewinn. Autobiografische Splitter finden sich in allen Büchern Austers. Und so ist es auch in seinem neuesten Roman, "Mann im Dunkel". Dort kämpft ein alter verwitweter Literaturkritiker und Journalist gegen die Trauer an. Er lebt nach einem Unfall bei seiner geschiedenen Tochter und seiner jungen trauernden Enkelin, die ihren Freund in einem Krieg verlor, den die Amerikaner führen. Die Erinnerungen überfallen ihn jede Nacht, und so denkt er sich eine Geschichte aus: über einen Zauberer aus Queens, der aufwacht und plötzlich nicht mehr weiß, wo er ist. Es ist Amerika, sein Land, das aber plötzlich, seit den Wahlen 2000, ein Land im Bürgerkrieg ist. Was ist Wirklichkeit, was nicht, wie viele parallele Welten gibt es? Er weiß es nicht. Der Leser auch nicht, es gibt keine Gewissheit. "August Brill, die Hauptperson, tauchte vor ungefähr einem Jahr in mir auf", sagt Paul Auster. "Ich konnte noch nie sagen, woher meine Figuren kommen. Sie sind plötzlich da, es ist auch für mich ein Geheimnis, sie kommen aus dem Unbewussten, ich suche sie nicht, sie finden mich."

Manchmal aber packt Paul Auster das wahre Leben unverschleiert in seine Geschichten. Seinen neuen Roman hat er David Grossmann gewidmet, dem israelischen Schriftsteller und Friedensaktivisten, dessen Sohn Uri 2006 in den Libanon-Kämpfen ermordet wurde. "Nein, er wird nicht kommen, wir werden nicht reden, werden nicht lachen", sagte David Grossmann in seiner Trauerrede. "Nein, sie sind nicht mehr, Uris unendliche Zärtlichkeit und die Ruhe, mit der er jeden Sturm ausglich." Paul Auster kannte Uri, und er kennt diese Verzweiflung. "Man kommt an einen Punkt in seinem Leben, an dem man erkennt, dass viele der Menschen, die man geliebt hat und die dich geliebt haben, tot sind. Und so gehst du umher mit diesen Geistern in dir, denn wenn du die Lebensmitte erreicht hast, dann werden die Abwesenden zu einer mächtigen Präsenz, sie sind bei dir, du denkst an sie, du sprichst innerlich mit ihnen, deinen Eltern, deinen Freunden, die Liste wächst, und in meinem Alter stirbt fast jede Woche jemand, den ich kannte." Er ist jetzt 61. Und wenn er von den Toten erzählt, sieht man es in seinen Augen kurz schwanken.

Paul Auster, der Mann, dem Gott diese dunklen schweren Augen gegeben hat, damit man gleich weiß, welcher Art seine Bücher sind, wurde in einem Hotel bei den Niagarafällen "ohne Liebe gezeugt" und 1947 in Newark geboren. Die Familie, ursprünglich aus Polen und Ostgalizien, das waren die Mutter, die sich um ihn und seine psychisch kranke jüngere Schwester kümmerte, und der Vater, der einen Werkzeugladen hatte und Immobilien verkaufte. Und die jiddische Großmutter, die 1919 ihren Mann erschoss, der sie misshandelt und betrogen hatte. Sie wurde nicht verurteilt, verließ mit ihren fünf Kindern die Stadt, und der Großvater wurde aus der Mitte der Familienbilder herausgerissen. Man klebte sie wieder zusammen und sprach nicht mehr über ihn. Eine Kindheit mit Schweigen, mit Baseball und mit Geschichten, die er schon mit neun schrieb. "Schreckliche Sachen", sagt Paul Auster. "Schlechte Gedichte und Abenteuergeschichten."

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1979 - Auster ist 32 - stirbt sein Vater, seine Frau verlässt ihn und nimmt seinen Sohn Daniel mit. Seine Arbeit interessiert nach wie vor niemanden, er hat selten Geld. Er hat das Gefühl, der Boden öffnet sich, denn nichts, an dem er hing, ist noch da. Er sitzt in einem Gefängnis, in absoluter Einsamkeit, und er beginnt, über einen Mann zu schreiben, der zeitlebens in selbst gewählter Isolation, in einer seltsamen Unsichtbarkeit lebte, seinen Vater Samuel Auster: "Das Porträt eines unsichtbaren Mannes" wird in 20 Sprachen übersetzt, man vergleicht Paul Auster nun mit Kafka. Auf einer Lesung verliebt er sich in Siri Hustvedt, eine junge Schriftstellerin, Norwegerin aus Minnesota, mit den "tiefsten, lustigsten blauen Augen, die zwischen Himmel und Hölle zu finden sind", und seitdem teilt sich seine Lebensgeschichte in die Zeit vor und die mit Siri, die "mein Leben gerettet hat". Sein Leben mit Siri ist vor allem eines mit einem für ihn absolut notwendigen Gleichmaß. Er schreibt alle seine Bücher zuerst mit der Hand vor, winzige Buchstaben dicht gedrängt und angestrengt, dann kommt die Schreibmaschine. Und ja, auch sonntags schreibt er ein wenig, damit er montags nicht völlig aus der Übung ist. Er schreibt in seinem Apartment in Brooklyn, dort sei es ruhig, sagt er, so als seien ihm die gedämpften Geräusche des Lebens in diesem stillen aufgeräumten Haus, in dem er seit 18 Jahren lebt, schon zu viel. Nur drei, vier Leute haben die Nummer des Anschlusses in seinem Apartment, und doch fällt die moderne Welt auch dort über ihn her. "Neuerdings bekomme ich Werbeanrufe", sagt er. "Da behauptet dann jemand, mein Auto brauche dringend eine Untersuchung, dabei habe ich doch keines."

Sein Leben mit Siri, der Tochter Sophie und dem Sohn Daniel gerät nur einmal wieder ins Ungleichgewicht, scheint plötzlich zu jenem aus seinen Büchern zu werden: zu einem Albtraum mit nur ein paar glücklichen Momenten. 1998 ist Austers Sohn Daniel, damals 20, in einen spektakulären Mordfall in der New Yorker Nachtszene verwickelt. Er erhält fünf Jahre auf Bewährung, nachdem er sich schuldig bekennt, 3000 Dollar vom Körper eines ermordeten Drogendealers gestohlen zu haben. Lange vor dieser Zeit hat Paul Auster einmal gesagt, dass ihn eine heftige Traurigkeit befalle, wenn er sieht, was aus vielversprechenden Kindern einmal wird.

Immer, sagt Paul Auster jetzt, sei in ihm schon dieser Zweifel, das Gefühl, alles ist nicht so gut, wie es sein sollte. Das Leben? "Nein", sagt er, "meine Bücher, wenn sie fertig sind. Ich fühle mich immer etwas enttäuscht. Du beginnst mit einer überwältigenden Idee von dem, was es sein soll, und dann wird es immer kleiner." Er sieht erschöpft aus, und man fragt sich, ob nach 60 Jahren das Universum in ihm noch Dinge findet, die er nicht schon einmal gesagt hat. "Was sollte ich sonst tun. Ich habe immer noch den Wunsch zu schreiben." Aber etwas sei anders geworden mit den Jahren: Er könne inzwischen besser vergeben als früher. Nur zwei Dinge können ihn aufregen: Inkompetenz und Faulheit. Also George W. Bush? "Ja", sagt er, "aber ich hoffe, dass sich die Dinge in diesem Land nun ändern." Obama sei ein überragend intelligenter Mann, auch wenn er neuerdings Dinge über die Todesstrafe und den Waffenbesitz sage, die ihn alarmierten. "Allerdings glaube ich auch", sagt er, "es ist der härteste Job der Welt, sich als Präsident in den USA zu bewerben, das ist ja so, als wäre ich zwei Jahre auf Lesereise, 20 Lesungen pro Tag vor tausenden Menschen, wie kann man das nur aushalten? Ich wäre ein Wrack."

Als er in die Kamera schauen soll, sieht man ihm das Unbehagen an, ein Bild von sich preiszugeben. "Ich spiegele mich in der Linse", sagt er. "Ich kann mich sehen, das mag ich nicht." Er steht auf und will die Sessel wieder zurechtrücken, die der Fotograf verschoben hat. "Der Winkel stimmt nicht", sagt er. Er schiebt und kneift die Augen zusammen und schiebt wieder, und auch die Kissen haben nicht den Ort, der ihnen zugewiesen wurde.

Es ist fünf Uhr. Siri Hustvedt braucht den Raum. Eine Personal Trainerin erscheint, ein großer Medizinball wird vor den runden Tisch gerollt, eine Gummimatte hingelegt, und dann machen sie Gymnastik. Siri Hustvedt keucht. "Jeden Tag entdecke ich etwas Neues an ihr", hat Paul Auster vor ein paar Minuten gesagt. " Zum Glück kennt man auch die Menschen, die man liebt und mit denen man lebt, niemals wirklich. Wenn man alles aufgebraucht hätte, alles wüsste voneinander, wo wäre dann der Spaß, das Leben miteinander zu teilen?" Er schweigt. "Übrigens", sagt er plötzlich, "im Internet steht angeblich, dass ich auf dem College die Bassgitarre in einer Rockband gespielt habe, das ist nun definitiv nicht wahr - ja dann, gute Heimreise."

Also: Ich nahm ein Flugzeug, flog nach New York und ging zu Austers Haus, und wir haben über dies und das gesprochen. Und ich bin sicher, er hat nach unserem Abschied noch einmal die Sessel verrückt und eine gewisse Zeit lang die endgültig richtige Position gesucht, die zum Raster seines Lebens passt. "Wenn man seine eigene Absurdität erkennen kann, so steckt darin ein befreiendes Glücksgefühl", hat Paul Auster einmal gesagt.

Text: Beatrix Gerstberger Fotos: Jürgen Frank

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