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Matthias Brandt: "Die Familie ist Schutz vor allem, was da draußen ist"

Matthias Brandt
© Hannes Magerstaedt / Getty Images
Tschechows "Möwe" hat ihn zum Schauspieler gemacht. Davor war Matthias Brandt nur der Sohn vom großen Willy. Mit dem Grimme-Preis ist er jetzt ganz oben.

Ein Mann ist 45 Jahre alt. Er hat im vergangenen Jahr den Bayerischen Fernsehpreis für "In Sachen Kaminski" bekommen und gerade eben den Grimme- Preis für seinen Auftritt im TV-Psychokrimi "Arnies Welt". Der Mann sagt, er sei froh, dass der Erfolg nicht so früh in seinem Leben gekommen sei. Er wäre bestimmten Dingen früher gar nicht gewachsen gewesen. Er sei ein unheimlich langsamer Mensch, er habe wahnsinnig lange gebraucht, sich diesen Beruf wirklich anzueignen. Darunter habe er von Anfang an gelitten.

Er hatte immer das Gefühl, eigentlich müsste ich ja ganz anders sein. Irgendwann habe er aufgehört, sich die Frage zu stellen, warum das, was er sucht, sich so viel Zeit nimmt, gefunden zu werden. Und warum er all die Jahre vor allem den Medien immer als das eine galt: der Sohn von Willy Brandt.

Der Sohn hat einen Wunsch. Er möchte Schauspieler werden. Er weiß nicht, wie das geht. Er hat als Kind nicht im Schultheater gespielt, er hatte keines dieser Erlebnisse, die andere später eine "Erweckung" nennen, er spürt nur, dass er einen Ort suchen muss für ein anderes Leben, ein Abenteuer, das er "eine wie auch immer geartete Normalität" nennt. Er ist 19. Er wohnt in Bonn. Er schreibt dem Arbeitsamt. Das schickt ihm eine Liste mit Schauspielschulen, und er meldet sich für eine Aufnahmeprüfung an. In Hannover. Er schaut in einem Schauspielführer nach, was man so vorträgt bei der Prüfung. Er wählt den Kostja aus der "Möwe" von Anton Tschechow. Auch, weil er den Autor mag, "aber eigentlich", sagt er später, "hatte ich keine besondere Affinität, es war Teil meiner Ratlosigkeit".

Er beginnt seine Rolle einzustudieren. Er schließt die Tür zu seinem Zimmer, er flüstert die Rolle wieder und wieder. Er will nicht gehört werden. Seine Eltern sollen nicht wissen, was er da macht.

Sein Leben war bisher ein öffentliches. Er hat es nicht gemocht. Jetzt sucht er aus eigenem Antrieb ein anderes öffentliches Leben. Warum? Der Sohn kann sich selbst diese Frage nicht beantworten. Er flüstert sich durch die Prüfung - das laute Sprechen gelingt ihm nicht. Er wird trotzdem genommen. Er weiß nicht, ob er die Fähigkeit besessen hätte, nach einer ersten Absage weiterzumachen. Aber er weiß, dass er endlich das gefunden hat, nach dem er gesucht hat: "Luft unter den Flügeln", sagt er.

Und so kann man das Leben des Matthias Brandt eigentlich in die Tage vor dem heiseren Flüstern in seinem Zimmer und die Tage danach einteilen.

Die Tage davor, die Tage dieser "seltsamen Kindheit", sind niemals wirklich nur allein seine: Sicherheitsbeamte begleiten ihn zum Fußballtraining, in die Schule, sitzen neben ihm im Kino. Der Vater war für die eine Hälfte der Republik der Held, für die andere ein Feindbild, "das wurde auch auf uns Kinder übertragen", sagt er. "Er hat unglaublich viel Hass auf sich gezogen, ich habe Aggressionen zu spüren bekommen, deren Ursprung ich nicht kannte." Gegenüber vom Gymnasium hatte jemand auf die Mauer geschrieben: "Brandt an die Wand".

"Die Kindheit, das war aber auch eine große Freiheit", sagt er. "Was auch damit zu tun hat, dass meine Eltern mit anderen Dingen beschäftigt waren." Die Brüder sind zehn und 13 Jahre älter, er schafft sich in dieser Familie seinen eigenen Raum: "Man will da auch nicht behelligt werden." Der Rücktritt seines Vater war dem 12-Jährigen egal: "Wir haben ja eigentlich nur das Haus gewechselt, da gab es immer noch Sicherheitsmaßnahmen. Die Befreiung", sagt er, "die kam eigentlich aus mir, die war nicht an äußere Dinge gekoppelt, das musste bei mir sehr klar und massiv passieren, ich habe mich distanziert." Der Sohn, den die Presse als den sanftmütigsten vereinnahmt hatte, der sich selbst als Nachhippie bezeichnete - der aber den nötigen Hunger mit sich brachte, den eigenen Weg einzuschlagen, weil er sich nicht wirklich wahrgenommen fühlte, sich nicht mehr ausschließlich über seinen Vater definieren lassen wollte.

Er zieht aus. Nach Hannover. "Diese räumliche Distanz habe ich mir sehr klar behauptet, habe gesagt, das ist jetzt meins, möchte nicht, dass man mir da reinredet nach diesem Leben, das dadurch bestimmt war, was für ein Bild geben wir nach außen ab." Schauspieler - er hat mit niemandem über diese Entscheidung gesprochen. "Meinem Vater war das eher fremd", sagt er, "der hat sich auch nicht getraut, mir da reinzuquatschen, wir hatten kein besonders inniges Verhältnis. Er ließ nur wenige Menschen an sich heran. Und meine Mutter zeigte die typische Elternreaktion, sie fand das erst merkwürdig, und als ich die Prüfung bestanden hatte, setzte der Stolz ein."

Trotzdem hat er Skrupel. Er ist angenommen, aber kann er das, zur Verfügung stehen mit allem, was er in sich trägt und was er ist und was in ihm arbeitet? Er weiß, dass er ein schüchternes Kind gewesen ist, ein schüchterner Jugendlicher, dass ihm das auch niemand zutraut und er nicht mit einem eisernen Ego ausgestattet ist. Aber er entwickelt eine große Beharrlichkeit: "Ich hatte das Gefühl, ich habe auf diesem Weg etwas zu erzählen." 15 Jahre lang spielte er in festen Engagements am Theater. Es war ein Erfolg ohne öffentliche Wahrnehmung, aber einer, von dem er sagt, dass es ihm damit gut ging. Aufsehen erregt er erst 2003, als er in dem Film "Im Schatten der Macht" ausgerechnet Günter Guillaume spielt, den Spion, der seinen Vater verriet. Es war die Figur, die ihn reizte, sagt er, nicht die Nähe zu seiner eigenen Geschichte.

"Seine Figuren haben häufig so einen gewissen Punkt der Verlorenheit", sagt der Regisseur Oliver Storz über ihn. Als Selbsteinschätzung wäre ihm das eher peinlich, sagt Matthias Brandt. Er ist schmal und hat helle warme Augen in einem konzentrierten Gesicht, einem, das man leise nennen könnte. Er überlegt, bevor er eine Frage beantwortet, überdenkt seine Formulierungen immer wieder. Präzise, mühsam, das sind die Wörter, die sich durch seine Antworten ziehen. Und wenn er dann antwortet, bewegt sich das Gesicht kaum, es zuckt nur etwas auf, das andeutet, dass dieses Thema wichtiger sein mag als ein anderes, und genauso spielt er: ohne große Mimik und doch gleichzeitig mit der ganzen Zerrissenheit der Figur im Gesicht, und das hat oft etwas Weiches und gleichzeitig Karges.

Er ist der Meinung, in deutschen Filmen wird zu viel geredet. "Im positivsten Fall verzahnen sich Gestik, Mimik und Sprache." Er findet es interessanter, "sich mit den Dingen zu beschäftigen, die nicht ausgesprochen werden", sagt er. Und so nähert er sich auch seinen Rollen. "Es ist wie bei zwei Menschen, die sich gerade erst kennen lernen, die Gefallen aneinander finden, aber dennoch nicht alle Farben des anderen erfassen können: Sie brauchen Zeit, um einander wirklich zu fühlen."

Er wird zur Zeit als bester deutscher TV-Darsteller gefeiert, er fühlt sich wohl in seiner Haut, sagt er und hat das Gefühl, "dass ich mir nicht mehr allzu viel vormache". Manchmal wird er auch auf der Straße erkannt, sagt er, "aber ich bin ja kein Rockstar". Als er einmal im Fußballstadion war, kurz nachdem ein "Tatort" mit ihm als Mörder ausgestrahlt worden war, da rief die Fankurve plötzlich freundlich: "Hey, Mörder", und er fand sich in Umarmungen und vor den Handykameras wieder. "Aber das war auch irgendwie nett."

Er lebt jetzt eine andere Freiheit, sagt Matthias Brandt. Ein Leben, das kein glamouröses ist. Wenn er zu Hause ist, holt er das Kind von der Schule, und er ist gern faul, sitzt oft nur so rum und denkt an nichts. Er kann nicht sagen, ob er da ist, wohin er wollte. Er empfindet Berlin als seine Heimat, weil er da lebt, in einem Haus mit Garten, zusammen mit seiner Frau Sofia, einer Schauspielerin, und seiner siebenjährigen Tochter Naima. "Die Familie", sagt er, "ist Schutz vor allem, was da draußen ist." Aber er fühlt sich in Berlin nicht verwurzelt, er wäre auch verpflanzbar.

In Essen hat er einmal in einer Sozialbauwohnung gedreht, es regnete draußen ununterbrochen, alles war grau, 20 Menschen standen eng gedrängt in einem Raum. Da hat er plötzlich diesen Gedanken gedacht, der einen manchmal unvermutet überfällt: Und wenn dies nun mein Leben wäre?

Er hat ein klares Verständnis davon, was man als Vater zu leisten hat, was man dem Kind ins Leben mitgeben sollte. Er will, dass sein Vatersein sich auf dieses Kind bezieht und nicht, dass er nur etwas anders machen will als seine Eltern, als sein Vater, den er einmal einen "emotional Behinderten" nannte. "Herzliche Sprachlosigkeit", so hat Matthias Brandt das Verhältnis zwischen ihm und seinem Vater bezeichnet.

"Ich habe mir grundsätzliche Gedanken dazu gemacht, bevor meine Tochter auf die Welt kam", sagt er. "Weil ich ständig über meine Eltern definiert wurde, darauf reagieren musste, was andere mir über meine Eltern meinten mitteilen zu müssen - auch in einem Alter, in dem es mir unangemessen vorkam. Besonders zu meinem Vater wurde ich von den Medien und im normalen Alltag in einer Art und Weise in Beziehung gesetzt, die meinem persönlichen Empfinden überhaupt nicht entsprach. Wenn die Menschen meiner habhaft werden konnten, glaubten sie, sie kriegen einen Zipfel von ihm zu fassen. Aber mein Vater ist nur Teil meiner Geschichte, das bin ja nicht nur ich, ich bin es nur unter anderem."

Und wenn er ist, wie er nun mal ist, ein Lachen in sich trägt neben allem, dann ist es, sagt er, weil da seine Mutter Rut Brandt war mit ihrem Humor, ihrer Offenheit, ihrer großen Zugewandtheit zu den Menschen. Er mochte das sehr, auch wenn er das vielleicht nicht in der Weise geerbt hat, glaubt er. Seine Mutter, die mal von sich erzählte, dass sie sich in ihrer Ehe mit Willy Brandt vor den Spiegel gestellt und gesagt habe: "Ich bin ich, bin ich." Niemand frage ihn eigentlich nach ihr, sagt er. Obwohl sie doch der wesentlich prägendere Mensch für ihn gewesen sei. "Wir haben sehr viel miteinander gelacht." Und dann gab es das, was er die bedingungslose Liebe nennt. "Das habe ich bei ihr gespürt, diese Liebe, und das soll auch mein Kind wissen, dass es nichts dafür leisten muss, geliebt zu werden." Und was sind die Dinge im Leben, von denen ein Kind wissen sollte und denen man sich zu stellen hat? "Abschied nehmen", sagt er, "auch wenn man Ansätze fühlt, dem zu entfliehen."

In einer Dokumentation hat er vom Sterben des Vaters erzählt: Willy Brandt hat begonnen, wohlgesetzte, fast offizielle Sätze aufzusagen, als der Sohn ihn unterbricht: "Ich habe dich doch lieb." Der Vater hält inne und weint. Der Sohn nimmt ihn in den Arm. "Er weinte in meinen Armen. Das war gut so, dass er das getan hat."

Vielleicht ist es so mit der Sprachlosigkeit. Man muss sie gefühlt, gelebt haben, dann bekommt sie im besten Fall einen ganz eigenen Klang. Und einen eigenen Wert. Vielleicht lehrt sie dann auch eine andere Geduld mit dem eigenen Tempo und eine Aufmerksamkeit für Nebensätze: Sein bester Freund ist der Schauspieler Jan-Gregor Kremp, sagt Matthias Brandt. "Weil der keine überflüssigen Worte macht."

Weiß er eigentlich, dass er fast nie von sich in der ersten Person spricht? "In einem öffentlichen Rahmen rede ich in dieser Form, weil ich die Augen der anderen bei jeder Antwort schon mitdenke." Es gibt ein Gedicht von Rilke, man liest es und denkt: Das ist es doch - die ganze Geschichte, wie jemand nicht mit Worten hausieren gehen und wie er sich zeigen mag, im Spiel und im Leben:

"Ich möchte werden wie die ganz Geheimen: Nicht auf der Stirne die Gedanken denken, nur eine Sehnsucht reichen in den Reimen, mit allen Blicken nur ein leises Keimen, mit meinem Schweigen nur ein Schauern schenken."

Text: Beatrix Gerstenberger BRIGITTE Heft 09/2007

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