Anzeige

Liza Minnelli: Die Trümmerfrau

Es scheint, als würde Liza Minnelli die Hürden in ihrem Leben brauchen, um am Ende besonders fulminante Auftritte hinzulegen. BRIGITTE-Redakteurin Andrea Hacke traf die Künstlerin vor ihrer Tournee in Europa zum Mittagessen in New York.

"Diese verdammten Knie!" Das sind die ersten Worte, die von Weltstar Liza Minnelli zu hören sind. Sie beißt die Zähne zusammen, während sie sich mit beiden Händen am Geländer festhält und langsam die drei, vier Stufen hinabsteigt in das New Yorker Restaurant "Lumi", 963 Lexington Road/ 70th Street, in der Nähe des Central Park. Ab dem 12. Juni wird die Entertainerin auf ihrer Europa-Tournee auch wieder über deutsche Bühnen tanzen, auch wenn sie heute kaum richtig gehen kann.

Bei jeder anderen Künstlerin würde man nach dieser Beobachtung denken: am besten keine Karte kaufen - wer weiß, ob das Konzert überhaupt stattfindet. Bei ihr gilt der Umkehrschluss: am besten sofort eine Karte besorgen, um sich davon zu überzeugen, dass ihre Kunst und ihre Hingabe größer sind als körperliche Gebrechen.

Natürlich sind ihre Auftritte heute nicht mit ihrer Darbietung als Revue-Tänzerin Sally Bowles in "Cabaret" zu vergleichen, für die Minnelli 1973 einen Oscar gewann, aber bei den Dreharbeiten damals war sie auch geschmeidige 26. Heute ist sie 63, unterhalb der Hüfte längst nicht mehr so beweglich, wie sie es gern wäre; doch was bleibt, ist die Leidenschaft, mit der sie ihren Beruf ausübt. Wie charmant sie in einer Show versucht, das Publikum zu gewinnen - mit alten Hits, kleinen Geschichten, neuen Songs und vor allem mit Humor. Und dann singt sie, so kräftig wie früher und begeistert, wenn sie fühlt: Die Show läuft, die Zuschauer gehen mit. Ab diesem Punkt strahlt sie über das ganze Gesicht.

In New York bereitet sie ihre Tournee gerade vor. "Gestern hatte ich eine Probe", sagt sie zur Entschuldigung für ihren schweren Gang. "Stellen Sie sich vor, Sie wollen einen Artikel schreiben, und dann haut ein Magenvirus Sie um. So ungefähr geht es mir gerade." Liza Minnelli macht eine abfällige Handbewegung und geht zum Tisch. "Setzen Sie sich, Schätzchen." Spätestens nach den Interview-Ausschnitten mit ihr auf YouTube hatte ich mit einer amerikanisch-überdrehten Frau gerechnet, die auf Kommando ihr Show-Licht anschaltet und eine Vorstellung abliefert. Eine Dame, die den Glamour lebt, sobald sie Publikum hat, auch wenn das nur aus einer Person besteht. Aber da sitzt sie nun, fast ungeschminkt, sie trägt eine alte Kapuzenjacke, und ihre Füße stecken in breiten Boots.

Nichts deutet äußerlich darauf hin, dass sie zur obersten Liga in Hollywood gehört. Sie erhielt als einer der ganz wenigen Stars aus der Showbranche alle vier bedeutenden Auszeichnungen Amerikas: den Tony als beste Musical- Darstellerin, den Oscar als beste Schauspielerin, den Emmy als Fernsehstar und den Grammy für ihre musikalische Leistung. Beim Blick in die Speisekarte sagt Liza Minnelli in normaler Lautstärke: "Hier schmeckt alles großartig!", dann flüstert sie: "Außer dem Salat, den nicht bestellen!" Sie zwinkert mir zu.

"Lassen Sie uns etwas Gesundes tun und draußen eine rauchen!"

Seitdem sie mit 13 Jahren zum ersten Mal eine Broadway-Show gesehen hatte, war ihr klar: Da wollte sie hin. Noch heute spricht sie "Broadway" aus, als würde sie "Wow!" sagen - mit ganz viel Atem. "Der glücklichste Moment als Künstlerin war, als ich mit 16 Jahren meinen ersten eigenen Job bekam. Ich durfte auf der Bühne endlich tanzen. Zwar nur in einer kleinen Rolle, aber ich war so glücklich, dass ich hätte sterben können. Seitdem lebe ich dafür. Auf der Bühne zählt kein Gestern und kein Morgen, nur dieser Moment. Das Gefühl ist sagenhaft."

Minnelli erzählt lebhaft, mit Armen und Händen, mit rollenden Augen, und ab und zu zieht sie eine Schnute. Es ist ein nettes, aber merkwürdiges Gespräch: Manchmal passt die Antwort überhaupt nicht zur Frage. Oder die Sätze sind viel zu belanglos für die Frau, die sie sagt. Vielleicht war Minnelli zu lange damit beschäftigt, nur Dinge zu äußern, die unverfänglich sind. Doch nachdem wir gerade bestellt haben, steht sie schon wieder auf: "Lassen Sie uns etwas Gesundes tun und draußen eine rauchen gehen!" Sie grinst. Ihre Art ist immer noch sehr mädchenhaft und erfrischend.

Das Interview auf dem Bürgersteig vor dem Restaurant weiterzuführen ist nicht möglich. Immer wieder halten eilige New Yorkerinnen an, berühren Minnelli am Arm und sagen: "Mach so weiter, Liza! Es ist wichtig, dass es dich gibt." Minnelli bedankt sich und sagt zwischen zwei Fans zu mir: "Süß, oder? Das erlebt man nur, wenn man sich nichts darauf einbildet, im Showgeschäft zu sein. Man muss normal bleiben, nicht verrückt werden."

image

Im Restaurant wird das Essen serviert. "Oh, das muss ich probieren!", ruft Minnelli, als sie mein Nudelgericht sieht, nimmt ihre (noch saubere) Gabel und stochert in meinem Essen herum. Erst als sie die volle Gabel in ihrem Mund hat, guckt sie wieder in meine Augen und wirft ertappt ihre Hand vor den Mund. Ihr Körper wackelt unter dem glucksenden Lachen.

Vielleicht hängt ihr entspannter Umgang mit dem Ruhm gerade mit ihrer Herkunft zusammen: 1946 wurde sie als Tochter der berühmten Judy Garland ("Der Zauberer von Oz") und des Filmregisseurs Vincente Minnelli ganz oben in die Welt der Stars hineingeboren. Hollywood war für sie nie eine Elitegruppe, Hollywood war das Einzige, was sie kannte. Andere Stars waren für sie keine anbetungswürdigen Wesen, sondern Nachbarn oder Mütter von Spielgefährten. Minnelli wuchs auf mit Frank Sinatra, Bing Crosby oder Elizabeth Taylor. Gibt es eine berühmte Person, die sie noch nicht kennt? "Ja. Ich würde gern Debbie Harry von Blondie treffen", sagt Minnelli, die privat am liebsten Rockmusik hört. Dann nimmt sie sich ein Stück Butter und quetscht es unter ihre Kartoffeln.

Obwohl Minnelli seit Jahrzehnten die gleichen Lieder singt, füllt sie weltweit pro Jahr locker 80 Konzerthallen. "Das funktioniert, weil ich einen Song jedes Mal anders präsentiere", erklärt sie. "Würde ich das nicht tun, wäre mein Auftritt irgendwann abgestumpft, ich könnte die Zuschauer gar nicht mehr erreichen." Für jeden Song denkt sie sich deshalb vorab immer eine Figur aus, die das Lied singt. Sie fragt sich, wie diese Person wohl aussieht, wo sie lebt, was ihr passiert ist und wie sie sich fühlt. Schon deshalb sieht Minnelli sich immer als Schauspielerin, nicht als Sängerin. Jeden Morgen tanzt sie zwei Stunden, danach ist ihr Tag voll verplant. Sie geht ihre Show durch, kümmert sich um Nachwuchstalente in Hollywood, setzt sich ein für hirngeschädigte und krebskranke Kinder oder schreibt als Co-Autorin an einem Drehbuch für einen Film. Außerdem hat sie 18 Patenkinder. Es macht ihr nichts aus, zu viel zu tun zu haben.

Anonym bin ich nur bei den anonymen Alkoholikern

Vielleicht fällt es ihr so sogar leichter, die Hände vom Alkohol zu lassen. Nach vielen Exzessen und mehreren Aufenthalten in der Betty-Ford-Klinik gehört sie nun seit sechs Jahren zu der Gruppe der Anonymen Alkoholiker. "Der erste Ort, an dem ich mal anonym bin", sagt sie und lacht laut, lässt sich nach hinten in den Sitz fallen. "Alkohol ist eine ernste Krankheit. Wer davon keine Ahnung hat, glaubt, es ginge hier um reine Entscheidungskraft. Das ist falsch. Ich habe einen wirklich großen Willen, all meine Preise hätte ich sonst nicht bekommen. Wenn man dies mit dem eigenen Willen ändern könnte, glauben Sie, ich wäre noch alkoholkrank? Es kostet mich die meiste Disziplin, nicht zu trinken." Ich zitiere die Erzählungen anderer Alkoholiker, die beschreiben, dass fünf Tage nach Entzugsbeginn die Farben ins Leben zurückkehren und sich selbst die eigenen Augen im Spiegelbild verändern. "Oh ja", stimmt Minnelli zu, nickt und schweigt. Sie hört aufmerksam zu, aber die meiste Zeit blickt sie bei diesem Thema auf ihren Teller, fast, als schäme sie sich dafür, dass es gerade bei der starken Liza Minnelli einen so wunden Punkt gibt.

Dabei ist sie nie liegen geblieben, egal, wie weit nach unten der Sturz auch ging. Als ich das sage, blickt sie wieder auf. "Sicher", sagt sie. Sie trinkt mit zwei Strohhalmen an ihrer Cola, dann ruft sie: "Wer sich am meisten über mich empört, geht danach eh nach Hause und macht sich ein Bier auf!" Die negativen Seiten des Showbusiness hat sie früh kennen gelernt, und sie wusste, bevor ihre Karriere begann, wie die Presse funktioniert. Als Minnelli nach der Scheidung ihrer Eltern bei der Mutter lebte, endete ihre Kindheit sehr rasch. Sie lebten im New Yorker "Plaza Hotel", und in einem Interview sagte Minnelli einmal: Eins der ersten Dinge, die sie gelernt habe, war, die Nummer des Zimmerservice anzurufen, denn sonst wäre sie verhungert. Minnelli hörte sich die Sorgen ihrer Mutter an, verscheuchte Fotografen, wenn Mama unpässlich war, und holte Hilfe, wenn ihre Mutter einen ihrer Selbstmordversuche unternommen hatte. "Bis zu ihrem Tod 1969 habe ich diese Versuche nie ernst genommen", sagt Minnelli. "Es war ihre Methode, Aufmerksamkeit zu bekommen. Man zieht nicht sein schönstes Nachhemd an, richtet seine Haare und legt falsche Wimpern an, wenn man ernsthaft daran denkt, sich umzubringen, oder?" Trotzdem: Als Kind wird sie kaum so reflektiert gedacht haben. Was haben diese Erlebnisse in ihr angerichtet? "Hollywood ist Hollywood", sagt Minnelli. "Jeder trägt selbst die Verantwortung für sein Leben. Meine Mutter war eines der Hollywood- Kinder, die sehr früh berühmt waren. Und fast alle Hollywood-Kinder sind leider sehr früh dem Tod geweiht. Sie war trotzdem eine wundervolle Mutter."

Zu dem letzten Satz kommt Minnelli wahrscheinlich, weil sie in ihrem Leben irgendwann beschlossen hat, aus einer schlechten Erinnerung einfach eine gute zu machen. "Das, was du bestimmen kannst, ist deine Sicht auf die Dinge", sagt Minnelli. "Ich hatte irgendwann genug von den traurigen Fragen nach meiner Vergangenheit. Heute sage ich: Es war gut."

Ich habe genug von den traurigen Fragen nach meiner Vergangenheit

Vier ihrer Ehen scheiterten, dreimal erlitt Minnelli eine Fehlgeburt, über Jahre gehörten Operationen oder Krankheiten zu ihrem Alltag: Sie brach sich ihr Knie, wurde am Rücken operiert und an den Stimmbändern, hatte eine doppelseitige Lungenentzündung, erhielt zwei neue Hüftgelenke und bekam im Jahr 2000 nach einem Moskitostich eine Hirnhautentzündung, nach der sie das Sprechen und Gehen im Grunde neu erlernen musste. "Damals sagten mir die Ärzte, es könnte sein, dass ich nie mehr auf die Beine komme", erinnert sie sich. "Ich wollte laut 'Bullshit!' rufen, aber es kam nichts aus meinem Mund heraus. Und dann habe ich da gelegen, Tage um Tage, und das ABC vor mich hingemurmelt. Immer wieder, allein für mich. Ich wusste: Wenn ich nur will, kann ich das schaffen!" Diesen Optimismus hatte in ihrem Umfeld niemand. Ihr Pressesprecher dachte, da käme sie nie mehr raus, ihr Tanzlehrer Luigi weinte, als er sie in dem Zustand sah. Nur Minnelli dachte nicht ans Aufgeben, kam zurück und wurde in Amerika wie eine Auferstandene gefeiert. Was blieb, ist eine etwas unverständlichere Aussprache, der Rest grenzt an ein Wunder. Ihre Tournee nannte sie damals "Liza's Back".

"Ich bin ein Tiger", sagt sie in Anlehnung an ihren "Cabaret"-Song. "Ich kämpfe! Wenn jemand einem meiner Freunde etwas tut, wirst du den Tiger kommen sehen." Es ist bekannt, dass sie für ihre Freunde da ist, wenn diese sie brauchen. Als ihr erster Ex- Mann Peter Allen tödlich erkrankte, tat sie alles, um ihm zu helfen. Ihre Patentante Kay Thompson lebte die letzten Jahre ihres Lebens mit in Minnellis Apartment. "Es war mir ein Vergnügen", sagt Minnelli über die Zeit. "Zum Glück sind die talentiertesten Menschen oft auch die nettesten."

Wenn Freunde Minnelli beschreiben, fallen am häufigsten die Worte "liebenswürdig" und "verletzlich". Wenn ihre Feinde sie beschreiben, ist "Tiger" noch ein sehr, sehr nettes Wort. Ihr letzter Ehemann verklagte sie nach der Trennung auf zehn Millionen Dollar Schadenersatz, weil sie ihm im Streit die Haarverpflanzung vom Kopf gerissen haben soll. Auch der Chauffeur beschuldigte sie der Körperverletzung. Minnelli scheint alles mit Leidenschaft auszuleben. Heute habe sie ihre Wut unter Kontrolle: "In einer brenzligen Situation gehe ich einfach weg." Ich entscheide mich trotzdem, sie nicht auf ihren letzten Ehemann anzusprechen. Man weiß ja nie.

Als ihre Assistentin mit dem Wagen vorfährt, sagt sie zum Abschluss: "Ich kann den Deutschen eins versprechen: Wer zu mir kommt, wird das Beste erleben, was ich imstande bin zu geben. Darunter mache ich keine Show. Nie konnte ich mich auf dem ausruhen, was ich bereits geleistet habe. Es zählt immer der neue Abend." Macht sie sich gar keine Sorgen, ob ihr Körper die Tour schafft? Entschieden sagt sie: "Nein! Es findet sich immer ein Weg."

Text: Andrea Hacke Fotos: Rick Day Ein Artikel aus der BRIGITTE 12/09

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel