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Die Verwandlung

Die Komödie "Frau Rettich, die Czerni und ich" war als Buch und Film ein Riesenerfolg. Die Autorin hieß Simone Borowiak. Jetzt gibt es einen wunderbaren neuen Roman. Der Autor heißt Simon Borowiak. Was war da inzwischen los?

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Autoren-Pappen schmücken das Wohn- und Arbeitszimmer von Simon Borowiak. Das sind mehrfarbige handgeschriebene Übersichten der Personen und Handlungen seiner beiden aktuellen Bücher: "Wer Wem Wen", Borowiaks glänzender neuer Roman, und das nächste Buch, das er heute oder morgen beginnen wird. Borowiaks Autoren-Pappen sehen aus wie abstrakte Gemälde, weniger wie Notizen. Kräftige Farben und breite Pfeile markieren Entwicklungen, Zusammenhänge und Konflikte.

Wenn man das Leben eines realen Menschen mit Hilfe einer Borowiakschen Autoren-Pappe darstellen wollte, müsste man stark vereinfachen. Simon Borowiaks eigenes Leben sähe auf einer Autoren-Pappe, von links nach rechts gelesen, in etwa so aus: Über dem linken Drittel stünde "Simone", und dieses Drittel wäre vielfarbig, nach rechts aber immer düsterer. Über dem mittleren Drittel stünde "Umzingelt von Deppen, Arschlöchern und Saboteuren", es wäre plakativ schwarz oder dunkelbraun; und über dem rechten stünde "Simon", und es würde zur Seite hin rapide heller und bunter, da, wo die Gegenwart ist.

Simone Borowiak galt einmal als "einzige lebende deutsche Satirikerin" (so vor Jahren die "Frankfurter Rundschau"), sie war Redakteurin bei der damals noch legendären Satire-Zeitschrift "Titanic", Autorin des viel geliebten komischen Klassikers "Frau Rettich, die Czerni und ich". 1999 veröffentlichte Simone Borowiak dann einen zwar humorvollen, aber grundsätzlich ernsten Internats-Roman namens "Pawlows Kinder", der von der Kritik humorlos und ernsthaft verrissen wurde. Sie schrieb einige wunderbare Texte für BRIGITTE, über peinliche Feiern im Kreise der Verwandtschaft oder über den Schmerz der Kinder, wenn die Familie umzieht. Bis sie nicht mehr ans Telefon ging, nicht mehr auf Mails antwortete und von der Bildfläche verschwand. "Von Ende 1999 bis Anfang 2006 war es, als wenn ich nicht da gewesen wäre", sagt Borowiak heute. Es gab Gerüchte in dieser Zeit, erst: Krankheit, dann: was mit Alkohol, dann: Psychiatrie. Bis, für Außenstehende aus heiterem, für Borowiak aus nicht ganz so heiterem Himmel, Anfang 2006 das Buch "Alk - Fast ein medizinisches Sachbuch" erschien, Autor: Simon Borowiak. "Ein Wunder an Komik, Recherche und Weisheit", nannte der "Spiegel" das Buch. Von dieser zutreffenden Beurteilung abgesehen, lieferte einem das Buch zwei weitere Erkenntnisse: Borowiak ist jetzt ein Mann (siehe Autorenzeile) und hat gesoffen wie nichts Gutes (siehe Rest des Buches).

Simon Borowiak ist 43, er lebt im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel in einer behaglichen 40-Quadratmeter-Wohung, ruhige Seitenstraße, intakte Nachbarschaft, raucht steuerbegünstigte Filter-Zigarillos und kauft Süßigkeiten "wie ein Hamster". Im Wohn- und Arbeitszimmer steht der Computer, an dem Borowiak seinen Roman "Wer Wem Wen" geschrieben hat, diese Geschichte über die große Freundschaft zweier ehemaliger Psychiatrie-Insassen und ihr verhängnisvolles Wochenende in den Bergen. Im Schlafzimmer steht ein Klavier, das man auf stumm schalten und mit Kopfhörer spielen kann.

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Weil Borowiak ein Nachtmensch ist und auf diese Weise "auch morgens um zwei noch virtuell die Bude zerlegen" kann, wie Borowiak sagt. Sein Favorit ist und bleibt Beethoven, die Sonaten. "Es gibt Sachen, die habe ich tausende Male gespielt, und sie sind jedes Mal neu. Neuer Blickwinkel, neuer Klang. In dem Augenblick, in dem sich der Mensch, der vor dem Klavier sitzt, auch nur ein Jota verändert, verändern sich die Wahrnehmung und der Ausdruck."

Ob und wie Simon Borowiak sich verändert hat, ist für einen Außenstehenden wohl kaum zu beurteilen. Fest steht, dass er in den Jahren seiner öffentlichen Abwesenheit einiges erlebt hat, darunter: verschiedene Schattierungen von Alkoholmissbrauch bis hin zum Versuch, sich "totzusaufen", Ergebnis: chronischer Alkoholismus; längere Aufenthalte in der Psychiatrie; und eine über viele Jahre mühsam erkämpfte Identitätsanpassung von Simone zu Simon.

Früher sagte man umgangssprachlich "Geschlechtsumwandlung", tatsächlich geht es nicht darum, das biologische Geschlecht eines Menschen "umzuwandeln", sondern das biologische Geschlecht gewissermaßen der subjektiv empfundenen Identität anzupassen, mit Hormonen und Operationen. Voraussetzung ist ein jahrelanger Entscheidungsprozess mit Entscheidungen, die der so genannte Transidentiker über sich und seine Identität treffen muss und die dann von psychiatrischen Gutachtern bestätigt werden müssen. Eine aufwändige, schwierige Sache, oder, in Borowiaks Worten: "Bei Obi gibt's das noch nicht!"

Borowiak wuchs auf in Oberhessen und Frankfurt, kam mit zwölf zum Klavierspielen aufs Konservatorium. Fleißig und talentiert, aber zunehmend unfähig, öffentlich aufzutreten: die Nerven. Er besuchte eine katholische Mädchenschule, die er verlassen musste wegen "sozialistischer Wertmaßstäbe": "Ich war immer äußerst unsicher und schüchtern, ich war nie auf Krawall aus, aber komischerweise habe ich Krawall immer angezogen." Wenn die Klassenlehrerin "knallhart chauvi" erklärte, die Engländer hätten Indien kolonisiert, um den Eingeborenen "die Kultur zu bringen", fragte Borowiak, "ob es nicht auch wirtschaftliche Gründe gegeben haben könnte". Wenn der Schulpfarrer gegen Kommunismus und Sozialismus wetterte und den Schülerinnen sagte, alles, was auf "ismus" ende, sei abzulehnen, rutschte Borowiak "Katechismus" raus. Derlei Vorfälle reichten noch Anfang der achtziger Jahre aus, um eine katholische Schule verlassen zu müssen. "Ich wollte nicht weg, ich würde ja auch jederzeit wieder auf eine Mädchenschule gehen, nur dass die mich heute nicht mehr nehmen würden. Aber angenehm fand ich das. Nur die Erwachsenen hätten nicht dabei sein dürfen." Simon Borowiak lacht viel und herzlich, wenn er von dieser Zeit erzählt.

Der "zweite heftige Schlag" kam, als er das Konservatorium abbrechen musste, weil ihm klar wurde, dass er mit seinem Lampenfieber nie würde Solist werden können. "Ich hätte Musiklehrer werden können, aber das kam für mich nicht in Frage. Dann lieber gar nichts. Und daraufhin habe ich mit 19 aufgehört. Von einem Tag auf den anderen habe ich kein Klavier mehr angefasst. Und ich konnte keine Klavierklänge mehr hören. Ich habe sofort geheult."

Drei Jahre nach dem Abschied vom Klavier beschloss Borowiak, "das komische Schreiben zum Beruf zu machen". Er kam zur Satire-Zeitschrift "Titanic", bekam dort "alle Möglichkeiten und Freiheiten" und wurde unterstützt von Menschen wie Robert Gernhardt, dem Dichter, Schriftsteller und "Titanic"- Mitbegründer: "Das kann nur einem Glückspilz widerfahren." Sogar mit dem Klavierspielen konnte er wieder anfangen. Die Rolle des Alkohols in den Jahren bei und nach "Titanic" nennt er "konstant". Borowiak sagt stets "Alk", als rufe er einen engen Bekannten bei seinem Spitznamen. "Ich habe es nie geschafft, auch nur mit einem halben Glas Wein zu schreiben. Ich muss zum Schreiben wirklich stocknüchtern sein. Das hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet, denn sonst hätte ich bruchlos durchgesoffen. Aber so gab es die klaren Schreibphasen, und zum Feierabend dann: abschießen." Zur Trunksucht kam das, was Borowiak "das Existenzielle" nennt: das Suchen und Finden der eigenen Identität. Ab etwa 1998 gab es nichts außer diesem Thema: "Ich konnte gar nichts anderes mehr machen." Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich nach jahrelangen Zweifeln entschieden, die so genannten "geschlechtsangleichenden Maßnahmen" vornehmen zu lassen, eine Entscheidung, die in seinem allerengsten Umfeld auf Desinteresse und Abwehr stieß. Zwei Menschen unterstützten ihn in den folgenden Jahren: seine Lektorin und Dirk Bach, der Komiker und Schauspieler, Freund seit 1994. Borowiak nennt ihn "Dicki", wie er den Alkohol "Alk" nennt. "Dicki Bach ist immer am Ball geblieben, auch wenn ich mich nicht gemeldet habe. Eines Abends kam er zu Besuch, und ich habe zu ihm gesagt: ,Dicki, du musst jetzt sehr tapfer sein - so fange ich jeden Satz an, wenn irgendwas Schwerwiegendes kommt -, ich bin Transidentiker.' Er hat mich angeguckt, und plötzlich hat er gelächelt, ein liebevolles Lächeln, ein Groschen-gefallen-Erleichterungslächeln. Wir hatten ja vorher schon ellenlange Gespräche geführt über mich und mein Leben. Und er hat gesagt: ,Also weißt du, Schatz, da hätten wir auch schon früher drauf kommen können!' So was gibt einem Kraft."

Vier, fünf Jahre lang steht seine mühsam und schmerzvoll getroffene Entscheidung fest, aber von denen, die ihm hätten helfen sollen, wird sie nicht respektiert. Er wird hingehalten von den zuständigen Fachleuten, und immer wieder heißt es: Krieg erst mal den Alk in den Griff. Der Tiefpunkt ist erreicht, als er sich in der Psychiatrie einer Entgiftung unterzieht und dort erfährt, dass eine gute Freundin interveniert und den Beginn seiner Behandlung verhindert hat. Obwohl er schon den Termin für die ersehnte erste Spritze mit dem Männlichkeitshormon Testosteron hatte. "Ich fühlte mich umzingelt von Deppen, Arschlöchern und Saboteuren. Und dann habe ich angefangen, suizidal zu trinken."

All dies hat ein im weitesten Sinne gutes Ende genommen, sonst säße Borowiak jetzt nicht hier, und sonst hätte er in "Wer Wem Wen" seine Psychiatrie-Erfahrungen nicht mit zornigem Humor aufblitzen lassen können. Er zog nach Hamburg um, und am Universitätsklinikum Eppendorf bekam er die Unterstützung und schließlich die Behandlung, um die er jahrelang gekämpft hatte. Alle vier Monate gibt es eine "Testo- Spritze": "Ich gehe da jedes Mal raus und denke: vier Monate! Das kann mir keine Gutachterin aus dem Körper holen. Wieder für vier Monate sicher!" Die Veränderungen kämen "so peu à peu, aber die Depressionen und die Panikattacken waren sofort weg." Und er sagt sehr ruhig, bilanzierend: "Das Leben überhaupt ist jetzt wieder gut geworden. So gut, wie's in Kinderzeiten war." Das sieht dann zum Beispiel so aus, dass er mit seinem besten Freund Fritz "für siebzig Euro ein Tandem schießt", und damit fahren die beiden über den Ohlsdorfer Friedhof, Borowiak lenkt, weil Fritz blind ist, und auf dem Friedhof geraten sie in Streit darüber, wo das Grab des Schauspielers Gustaf Gründgens ist, "und Fritz hat darauf bestanden, noch aus sehenden Zeiten zu wissen, es müsse jetzt hier links sein, und ich habe gebrüllt, da ist nur Rhododendron!, und dann lagen wir schon drin. Enorm ist das, ganz wunderbar." Und was zum Beispiel diese Freundschaft angehe, sei er mal wieder "der Chefglückspilz".

An der Wand von Simon Borowiaks Wohnund Arbeitszimmer steht handgeschrieben ein Goethe-Zitat, so groß, dass es den Raum dominieren würde, wäre es nicht in blassroter Schrift geschrieben, an der Grenze zur Unlesbarkeit. "Ich weiß, daß mir nichts angehört,/ nur der Gedanke, der ungestört/ aus meiner Seele will fließen/ und jeder günstige Augenblick,/ den mich ein liebendes Geschick/ von Grund auf lässt genießen." Simon Borowiak sagt: "Das bringt's genau auf den Punkt. Das Einzige, worauf ich mich verlassen kann, ist mein Hirnkastl und das, was mir an Glück von außen beschert wird. Ansonsten... ", er macht eine Pause, "... nada. Nichts." Das Zitat ist sein "Lieblings-Ding", sagt er. Er schreibt es seit Jahren in jeder neuen Wohnung an die Wand.

Das Buch

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Simon Borowiaks neuer Roman "Wer Wem Wen" handelt von einem Ski-Wochenende, das in einem Desaster endet. Der Erzähler und sein bester Freund kennen sich aus der Psychiatrie, eigentlich sind sie nicht gesellschaftsfähig. Ihre Mitreisenden (eine naive junge Journalistin sowie ein verlogener Paartherapeut und seine Frau) versuchen um jeden Preis, den Schein von Normalität und Urlaubsglück zu wahren. Dazu stößt überraschend eine geheimnisvolle Freundin, die schonungslos eine Lebenslüge nach der anderen enttarnt. Borowiak beschreibt diese Kleingruppen-Katastrophe mit großem Sprachwitz: Tiefe Tragik und noch tiefere Albernheit liegen ganz dicht beieinander - ein großer Unterhaltungsroman (Eichborn, 184 S., 14,95 Euro).

BRIGITTE Heft 02/08 Text: Till Raether Fotos: Fabian Bimmer

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