Wie viele Leben können in einem einzigen stecken? Jenny Erpenbeck hat ihren neuen Roman kühn konstruiert: Sie lässt ihre Heldin gleich fünfmal sterben (240 S., 19,99 Euro, Knaus; auch als eBook) Jetzt bestellen
Als Kind in Galizien, als junge Frau in Wien, als Verratene im Gulag, als verdiente Berliner Genossin, zuletzt im Altenheim: Fünfmal stirbt dieselbe Frau in diesem Buch, immer geht die Geschichte weiter, erzählt als Möglichkeit eines anderen Lebens. Was wäre passiert, wenn der Mutter eingefallen wäre, das Kind mit einer Handvoll Schnee zu retten? Was, wenn die junge Frau eine andere Straße genommen hätte? Jenny Erpenbeck erzählt in "Aller Tage Abend" von den großen Fragen des Lebens.
BRIGITTE: Wie kamen Sie auf die Idee, Ihre Hauptfigur fünfmal in den Tod zu schicken? Jenny Erpenbeck: Jemand, der mir sehr nahestand, ist vor einigen Jahren plötzlich und vollkommen unerwartet gestorben. Dieser Schnitt mitten durch ein Leben hat mich viele Dinge anders sehen lassen. Eine ganze Biografie bekommt sozusagen eine Überschrift. Und diese Überschrift macht der Tod. Indem ich die Frau in meinem Buch mehrfach sterben lasse, erzähle ich im Grunde davon, wie viele Leben in einem einzigen stecken können.
In Ihrem Buch hängt vieles von Zufällen ab. Glauben Sie nicht an Schicksal?
Schicksal ist für mich ein zutiefst fragwürdiger Begriff, weil er jemanden voraussetzt, der "das Schicksal" vorherbestimmt. Und daran glaube ich nicht. Ich sehe eher ein bewegliches Geflecht, in das unser Leben eingebettet ist und in dem eigene Entschlüsse, aber ebenso Entscheidungen von anderen Menschen und eine unendliche Zahl anderer Umstände eine Rolle spielen. Warum geht man diese Straße entlang und nicht jene? In jeder Sekunde entscheidet sich immer wieder alles.
Wenn man so viel über den Tod nachdenkt wie Sie, ändert sich dann etwas im Leben?
Es relativiert vieles. Kleinlichkeit, Streitereien, Anstrengungen, die einer unternimmt, um zu gefallen oder irgendwem das Leben schwer zu machen - all das wirkt, wenn man es gegen die große universelle Leere aufrechnet, auf einmal recht lächerlich.