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"Ich erzähl euch jetzt was, das wird euch die Hosen ausziehen"

Und dann legt John Irving los: erzählt BRIGITTE-Redakteurin Meike Schnitzler, die ihn zu Hause in Vermont besuchte, von seiner Vatersuche. Courtney Love. Und dem ehrlichsten Roman, den er je geschrieben hat.

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"Von hier sind sie jedenfalls nicht", sagt der grauhaarige Mann zu seiner Frau am Kamin des "Inn at Willow Pond", als wir gerade nach dem Abendessen auf den Ausgang zusteuern. Hier, das ist Vermont, irgendwo zwischen den Orten Manchester und Dorset. In dieser ländlichen Gegend von Amerika kennt jeder jeden. Und der schmale Mann, der uns soeben als Fremde entlarvt hat, ist der prominenteste Mitbürger des Landstrichs, der große Schrifststeller John Irving. "Ruhen Sie sich nur aus, wir sehen uns ja morgen", sagt er höflich, und seine Frau Janet fügt hinzu: "Und keine Angst, wenn Sie zu unserem Haus kommen: Der Hund ist sehr freundlich." Man braucht keinen Wachhund in den Bergen von Neuengland. Eine heile Welt aus weißen Holzhäusern mit Chintzgardinen, Outlet-Stores von Timberland bis Escada, Muffin-Bäckereien und Antiquitätengeschäften. Die Bürger haben Geld, und die Menschen, die danach trachten könnten, leben einige Autostunden entfernt in den Großstädten Boston oder New York. Selbst in abgelegeneren Gegenden gibt es keine hohen Zäune um die großen Anwesen, die zwischen den Hügeln verstreut sind. Die kahlen Bäume ragen in den frostklaren Himmel, und es scheint, als hätte jemand überall sorgfältig das alte Laub aus den Wäldern gefegt.

Das große Haus der Irvings liegt einsam, mit seinen grauen Holzschindeln passt es perfekt in die winterliche Natur. Schon die Auffahrt bietet einen grandiosen Blick auf die Berge, eine Aussicht, die John Irving auch von seinem Schreibtisch aus genießt – außerdem beobachtet er genau, wer sich seinem Haus nähert, wie seine Frau Janet später erzählt. Kann es sein, dass der Autor, in dessen Romanen das Leben immer mit grotesken Wendungen aufwartet, nicht der Idylle traut, die ihn umgibt? Die Tür seines Arbeitszimmers im Erdgeschoss hat er ausgehängt, damit er genau mitbekommt, was im Haus vor sich geht. Zur Begrüßung warnt er vor der Jagdsaison, die gerade beginnt: "Ich lasse zu dieser Zeit weder meinen Hund noch meinen Sohn unbeaufsichtigt hinaus – die Kugeln fliegen hunderte von Metern weit." Dann zieht er sich wieder an den Schreibtisch zurück und überlässt den Besuch erst einmal sich selbst, um in der riesigen Landhausküche bei einer Tasse Tee warm zu werden mit dem Irvingschen Leben. Dickens, eine schokoladenbraune Labradorhündin, benannt nach Irvings Lieblingsautor, wirft sich auf den Fußboden und streckt vertrauensselig den Bauch vor. Sie erinnert uns an "Kummer", den Labrador aus "Das Hotel New Hampshire", und es ist, als käme gleich auch der Rest des Irvingschen Pandämoniums aus Bären, Zwergen, Anarchisten und Prostituierten herein – aber nur das Klacken seiner Schreibmaschine durchbricht ab und an die Stille.

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Offensichtlich stört es Irving überhaupt nicht, dass wir in jeden Kochtopf gucken könnten. Er hat schließlich gerade ein Buch geschrieben, in dem er so intime Dinge wie seine Sehnsucht nach dem unbekannten Vater und seine ersten sexuellen Erfahrungen im Alter von zehn Jahren einem Millionenpublikum präsentiert. Was sind dagegen ein paar private Fotos, die wir beim Warten studieren? Janet Turnbull Irving kommt vom Tennis zurück. Sie ist eine schöne hochgewachsene Frau Anfang fünfzig. Bei einem Abendessen in Toronto verlor Irving vor knapp 20 Jahren sein Herz an die kanadische Verlegerin. "Er hat mich vollkommen überrascht, es war ein rein geschäftliches Treffen", erzählt sie. "Aber wir haben uns sehr angeregt unterhalten – unter anderem auch darüber, dass es ihn nicht interessiere, wer sein Vater sei. Was ich schon damals einfach nicht glauben konnte." Einen Monat später rief Irving einen Kollegen von Janet an und bat um ihre Adresse, weil er sich in sie verliebt habe. Jetzt arbeitet Janet als Agentin ihres Ehemannes und hat nebenher noch eine Privatschule gegründet, die auch ihr gemeinsamer 14-jähriger Sohn Everett besucht. Überall im Haus sind Fotografien von ihm zu sehen: Everett als Baby, als Kleinkind, als Heranwachsender – nebst Bildern von Janet, Freunden und Verwandten. Kein Plätzchen über oder auf den Bücherregalen und Beistelltischen, wo nicht ein gerahmtes Foto hängt und steht. In Irvings privatem Ringerstudio neben seinem Arbeitszimmer gibt es eine ganze Bilderwand von Johns erwachsenen Söhnen aus erster Ehe, die wie ihr Vater jahrelang sehr erfolgreich im Ringsport waren. Ich denke an die gespenstische Reihe leerer Bilderhaken, die er in seinem Roman "Witwe für ein Jahr" so eindrücklich schilderte. Die Fotografien wirken wie Beweise der Existenz geliebter Menschen, aber auch der eigenen: Viele Bilder von John Irving sind darunter, der Autor an der Schreibmaschine, als Ringer-Coach, Familien- und Großvater und Oscarpreisträger. Im Arbeitszimmer hängen sämtliche Cover seiner Romane gerahmt an der Wand, nebst den betreffenden "New York Times"-Bestsellerlisten.

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Im Vergleich zu den Fotos sieht der 63-Jährige schmal aus, die Wangen ein wenig eingefallen. Vor ihm auf dem Schreibtisch liegt die amerikanische Ausgabe seines neuen Romans "Bis ich dich finde". Über 1100 Seiten umfasst die Geschichte des Schauspielers Jack Burns, Sohn einer Tätowierkünstlerin und eines Organisten, der seinen Vater nicht kennt und doch immer hofft, eines Tages von ihm zu hören. Es ist ein Buch, das in Teilen so persönlich geriet, dass Irving es nach seiner Vollendung von der ersten in die dritte Erzählperson übertrug, um mehr Distanz zu seinem Helden zu gewinnen. Dass er als John Blunt Jr. auf die Welt kam und im Alter von sechs Jahren vom zweiten Ehemann seiner Mutter adoptiert wurde, war nie ein Geheimnis. Aber Irving leugnete stets, auch nach seiner Heirat mit Janet, sich Gedanken über seinen verschollenen Erzeuger zu machen. Obwohl es kaum einen Irving-Roman gibt, in dem nicht Kinder vorkommen, denen mindestens ein Elternteil fehlt: "Ich wollte eben nicht darüber reden", sagt er. "Aber jetzt, nach elf Romanen, hatte ich die ständigen Fragen nach dem autobiografischen Gehalt meiner Bücher satt. Und ich hatte einfach Lust zu sagen: Ich erzähl euch jetzt was, das wird euch die Hosen ausziehen!" Er lacht, und seine dunklen Augen leuchten auf einmal kampflustig. Als Ringer weiß Irving, wie man einen Sieg durch plötzlichen Wechsel der Taktik erringt. "Mir war von Anfang an klar, dass die Themen des Buches jeden, der auch nur ein halbes Hirn hat, darauf bringen würden, mich zu fragen, ob mir das auch passiert ist." Irving wollte es so. Er hatte sieben Jahre Zeit, sich auf diese Frage vorzubereiten, schließlich hatte er den Plot seines Romans, wie bei jedem seiner Bücher, bereits genau festgelegt, als er sich 1998 an die Schreibmaschine setzte. Er war allerdings nicht darauf vorbereitet, dass die Wirklichkeit seine Geschichte im Lauf der Jahre überholen würde.

Denn so wie Protagonist Jack Burns eines Tages erfährt, dass er eine Halbschwester hat, bekam John Irving im Jahre 2001 den Anruf, dass sich ein Halbbruder von ihm bei einer Bekannten gemeldet hätte. "Aus irgendeinem Grund habe ich nie daran gedacht, dass mein Vater auch andere Kinder haben könnte", sagt Irving. Seine Mutter hatte über den Vater so gut wie nie gesprochen. Erst 1981 übergab sie ihm kommentarlos einen Packen Briefe, die sie von John Blunt während des Zweiten Weltkrieges erhalten hatte. "Ich musste erst...", er rechnet kurz auf dem Papier nach, "ich bin kein Mathegenie... 39 Jahre alt werden, bis sie mich für alt genug hielt, um sie zu lesen", sagt Irving. Der Tenor der Briefe, die John Blunt aus der Kriegsgefangenschaft in Indien und China schrieb, war: Er könne nicht mit Johns Mutter zusammensein, aber er würde gern Kontakt zu seinem Kind haben. Irving hatte stets angenommen, sein Vater habe einfach kein Interesse an ihm gehabt. In seinem nächsten Roman "Gottes Werk und Teufels Beitrag" verwendete Irving daraufhin Passagen aus den Briefen – ein verstecktes Signal an den Vater, sich doch wenigstens jetzt zu melden. Aber nichts geschah. Vielleicht wusste John Blunt nicht, dass John Irving sein Sohn war? "Ich habe mir natürlich immer vorgestellt, dass er es wusste, und so war er immer für mich der wichtigste Leser, den ich hatte." Nach außen kultivierte Irving weiter seine trotzige Haltung: "Wenn mich Leute fragten, warum ich nicht einfach selbst versuchen würde, meinen Vater zu finden, antwortete ich: Ich habe schon einen Vater!" Bis heute hat Irving ein sehr enges Verhältnis zu seinem Stiefvater, der jetzt seine schwerkranke Mutter pflegt, und er zeigt uns in einem Gästezimmer das Hochzeitsfoto der beiden: ein strahlendes Paar, in der linken Ecke das runde Gesicht des sechsjährigen kleinen John. "Das war der Tag, an dem ich John Irving wurde", sagt der Schriftsteller. Ein glücklicher Tag: "Endlich hieß ich nach jemandem, den ich auch sehen konnte." Einen Menschen sehen, abbilden, Erinnerungen aufbewahren. Das ist Irving wichtig. Zurück im Arbeitszimmer nimmt er ein anderes Foto in die Hand – ein Kind, das neben seinem Stiefvater am Strand von Cape Cod in die Sonne blinzelt: "Hier bin ich zehn, so alt wie Jack im Buch, als ihm das Gleiche widerfährt." Das Gleiche, das ist Sex mit einer älteren Frau. John war elf, es passierte mehrmals. Es war eine Frau, "die meine Familie kannte und der wir vertrauten".

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Er hat dieses Erlebnis literarisch verarbeitet, es fällt ihm nicht mehr schwer, darüber zu sprechen: "Ich fühlte mich damals nicht missbraucht, aber später merkte ich, dass ich kein normales Verhältnis zu älteren Frauen hatte." Einerseits habe er sich zu ihnen hingezogen gefühlt, andererseits stieß ihn diese Faszination ab. "Und ich hatte als Jugendlicher das Gefühl, dass diese Frauen es mir ansehen konnten, auch wenn ich überhaupt nichts tat. Bis in meine Zwanziger fühlte ich mich wie ein Elfjähriger, wenn sie sich mir näherten. Ich konnte ihnen nicht widerstehen", sagt Irving. Eine Therapie hat er nie gemacht, ein Weg, mit seinen widersprüchlichen Gefühlen fertig zu werden, war das Ringen: "Man übt keine Kampfsportart so besessen aus, wenn es da nicht einen tieferen Grund gäbe", sagt er, lehnt sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und verschränkt die Arme hinter dem Kopf. Auf seinem Unterarm leuchtet die Tätowierung, die er sich während der Recherche zu seinem Roman hat stechen lassen: ein Kreis mit einem Balken darin, er stellt die Markierung dar, in dem die Gegner auf der Matte ihren Ringkampf beginnen. Die Fotografin betritt den Raum, und Irving wechselt unvermittelt das Thema und macht sie auf ein Bild an der Wand aufmerksam, das bei der Oscar-Verleihung 2000 aufgenommen wurde. "Haben Sie das Foto von Courtney Love gesehen, auf dem man ihre Unterwäsche sieht? Das hat mein Sohn Brendan gemacht. Ich habe zu ihm gesagt, so etwas tut man nicht, aber er bemerkte treffend: Das Besondere an dem Bild ist, dass sie überhaupt Unterwäsche anhat!"

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Der Erzähler John Irving weiß, wie man sein Publikum unterhält. Auch sein Buch ist keine tränenreiche Beichte, sondern schwankt in typisch Irvingscher Manier zwischen Komik und Tragik. Keinesfalls will er sein Leben wahrheitsgetreu in die Literatur übertragen: "Bloß weil Erfahrungen einen selbst traumatisieren, geben sie nicht unbedingt die besten Einzelheiten für ein Buch ab. In einem Roman kann man alles noch schlimmer darstellen – was besser für die Geschichte ist", sagt er. "Die Frau, mit der ich Sex hatte, war vergleichsweise jung, nicht wie die über 40-jährige Mrs. Machado im Roman, die sogar selbst Kinder hat. Auch meine Mutter war nicht wie die von Jack." Diese manipuliert Jacks Kindheitserinnerungen und stilisiert den Vater zu einem frauenverschlingenden Monster hoch, dessen unselige Gene Jack in sich zu tragen scheint. "Aber ich hatte in dem Buch tatsächlich die Wahrheit vorhergesehen", sagt Irving. "So wie Jacks Vater am Ende doch kein Teufel ist, war es meiner auch nicht. Auch wenn ich das Schweigen meiner Mutter immer so interpretiert hatte." Nachdem John Irving 2001 den Anruf bekam, es habe sich jemand namens Chris Blunt gemeldet, löste sich endlich das Rätsel um seinen Vater. "Ich rief Chris an, ich glaube, wir sprachen zwei Stunden lang. Währenddessen saß Janet mir gegenüber, gestikulierte und schrieb Zettel, auf denen stand: Lebt er noch? Aber ich stellte diese Frage nicht. Je länger wir sprachen, um so deutlicher wurde, dass mein Halbbruder es nicht übers Herz bringen konnte, mir zu sagen, dass unser Vater tot war." John Blunt war im Alter von 77 Jahren gestorben, zwei Jahre, bevor John Irving seinen Roman zu schreiben begann. Er hatte noch dreimal geheiratet und vier weitere Kinder gezeugt, drei Söhne und eine Tochter. Drei seiner Halbgeschwister hat Irving mittlerweile kennen gelernt. "Er war ein guter Mann und ein guter Vater in den Augen seiner anderen Kinder", sagt er und begradigt einen Stapel Blätter auf seinem außergewöhnlich ordentlichen Schreibtisch. Warum der Vater keinen Kontakt zu seinem erstgeborenen Sohn aufnahm, auch als dieser erwachsen war – dieses Geheimnis kann nicht mehr geklärt werden. "Aber ich bin froh, dass meine Familie mich gefunden hat", sagt Irving und lächelt, was ihn auf einmal sehr viel jünger erscheinen lässt. "Das ist sehr wichtig für mich." Er arbeitet wieder an einem neuen Buch. Darin geht es um einen Vater und einen Sohn, die Mutter ist gestorben. John Irving ringt weiter mit dem Thema. Aber ist entspannter bei der Arbeit als früher. "Mein Sohn Everett sagte in letzter Zeit mehrmals zu mir: Es fühlt sich an, als ob du überhaupt nicht schreiben würdest. Ich dachte nur: Das arme Kind, sieben Jahre habe ich an diesem Buch gesessen, in seiner bewussten Erinnerung habe ich eigentlich nur diesen Roman geschrieben. Und das zeigt mir, dass ich wohl die ganze Zeit unter einer Wolke gelebt hatte."

Hinter den Fenstern des Arbeitszimmers hat sich die Dunkelheit auf die Berge gelegt. Irving wird unruhig, es ist Freitagabend, und den möchte er auf gewohnte Weise mit Janet und Everett verbringen. Er wird eine Pizza backen, und sie werden zu dritt einen Film anschauen. Eine ganz normale amerikanische Familie. An der Tür sagt er zum Abschied: "Seien Sie vorsichtig, wenn Sie im Dunkeln fahren. Hier sind überall Hirsche. Da gab es schon böse Unfälle." John Irving kann nicht anders, als wachsam zu bleiben.

John Irving über seinen Roman

John Irving erzählt Ihnen, warum er den gesamten Roman - nachdem er ihn schon bei seinem Verlag abgeliefert hatte - zurückrief und komplett von der ersten Erzählperson in die dritte Person übertrug.

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John Irving: "Bis ich dich finde" (Ü: Dirk van Gunsteren und Nikolaus Stingl, 1152 S., 24,90 Euro, Diogenes), erscheint am 24. Januar

Fotos: Hannah Thomson BRIGITTE Heft 03/2006

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