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Dr. Oksana Havryliv Fluchen gehört zur Kultur

Dr. Oksana Havryliv: Rückaufnahme einer Frau, die ihre Hände hochreißt und sich über etwas ärgert vor einem blauen Hintergrund
© Chanita Chokchaikul / Shutterstock
Jetzt gibt’s Schimpfe: aus verschiedenen Kulturen und Zeiten, garantiert unzensiert und nicht jugendfrei. Und zwar von einer Frau, die das Fluchen akademisch erforscht.

Barbara: Frau Havryliv, Sie sind Germanistin und Expertin für aggressive Sprechakte und Schimpfworte in der deutschen Sprache. Welches ist denn Ihr liebstes?

Dr. Havryliv: "Scheiße" – das gebrauche ich so oft, dass weder ich noch meine Familie es mehr als Schimpfwort wahrnehmen. Als meine Mutter mal die Haustür nicht öffnen konnte, weil die klemmte, meinte mein kleiner Sohn: "Du musst Scheiße sagen. Das sagt Mama immer, und dann geht die Tür auf."

Was sind die häufigsten Beschimpfungen?

In zwei Umfragen mit rund 1000 Personen, die ich vor einigen Jahren machte, wurden am häufigsten Trottel, Arschloch, Idiot genannt. In der Reihenfolge. Ich glaube nicht, dass sich bis heute viel verändert hat. In Österreich sind bei den aggressiven Aufforderungen "Schleich di" und "Geh scheißen" beliebt, der Deutsche sagt im selben Zusammenhang "Verpiss dich".

Klingt fast etwas antiquiert …

Na ja, in einer Konfliktsituation oder im Affekt haben Sie keine Zeit, etwas Neues zu kreieren. Sie greifen auf Bekanntes zurück, gerne auch im Dialekt, weil der uns in emotionalen Situationen näher ist. Ein bayerischer und österreichischer Klassiker: "Bist du deppert!" Der Dialekt hat mich übrigens erst dazu gebracht, mich mit Schimpfwörtern zu befassen.

Wie das?

Als die Ukraine 1991 unabhängig wurde, kamen erstmals westliche Gastdozenten an die Uni, darunter der renommierte österreichische Germanist Peter Wiesinger. Er hat einen Vortrag über das österreichische Deutsch gehalten, der mich so verunsichert wie fasziniert hat. Verunsichert, weil ich Germanistik studierte und überhaupt nichts verstand. Fasziniert hat mich dagegen die Wucht der Expressivität der Ausdrücke, die bei allen Dialekten drin ist. 1994 bin ich dann das erste Mal nach Wien gekommen, und als ich Kommilitonen erzählte, wie beeindruckt ich von den vielen Schimpfwörtern sei, sagte jemand zu mir: Du suchst doch ein unerforschtes und lebendiges Thema für deine Promotion – was Besseres findest du nicht. Also habe ich meine Doktorarbeit über Schimpfwörter gemacht.

Gibt es etwas typisch Deutsches beim Fluchen?

Das Deutsche ist sehr in der fäkal-analen Schimpfkultur verankert, genauso wie das Ukrainische, meine Muttersprache. Im Russischen, Englischen und Serbischen hat man eine sehr sexuelle Schimpfkultur.

Warum das denn?

Das sind die Tabus der Kulturen. Beim Schimpfen gibt es immer den Tabubruch. Nationen, die ursprünglich eher keusch und prüde sind, kennen deshalb stark sexualisierte Schimpfwörter. Deutsche gelten international als besonders ordentliche und reinliche Nation, also wird alles Gegenteilige davon abwertend gebraucht. Auf dem Balkan oder im Nahen Osten ist Familie sehr wichtig, die Mutter steht über allem, daher finden wir in diesen Sprachen Flüche wie "Ich fick deine Mutter".

Das ist mittlerweile auch im Deutschen etabliert.

Ja, das ist in seiner Häufigkeit mit "Scheiße" vergleichbar – und ein gutes Beispiel dafür, dass diese Worte keine direkte Bedeutung mehr haben. Man kann sie auch aus Verwunderung oder Freude rufen.

Das müssen Sie erklären.

Die häufigste und wichtigste Funktion von Flüchen und Schimpfwörtern ist die kathartische Funktion, man reagiert damit sich und starke Emotionen ab. Meist negative, aber eben auch positive, etwa so: "Scheiße, ist das gut!" Bei Jugendlichen spielt dazu die provozierende Funktion eine sehr wichtige Rolle. Außerdem grenzen sie sich damit von Erwachsenen und anderen Gruppen ab. Und sie gebrauchen sie zur Selbstdarstellung, je gröber, desto besser: "Ich bin cool, ich bin abgebrüht, was geht, Motherfucker?"

Pöbelt die Jugend also immer internationaler?

Es gibt weiterhin Ausdrücke wie Schlappschwanz, Perversling, Lutscher. Bis vor etwa zehn Jahren waren englischsprachige Einflüsse bei den Schimpfwörtern sehr groß, geblieben sind davon "fuck" oder "shit". In den letzten Jahren beobachten wir viel den Gebrauch von Ausdrücken aus Sprachen der Minderheiten im Land, verbreitet von sozialen Medien. Etwa "AMK"– die Abkürzung für Amina Koyim, Türkisch für "Ich fick dich". Oder "Sippi" aus dem Arabischen. Das bedeutet Schwanz. Und dann gibt es noch den Schrecken aller Eltern: den Rapper Capital Bra. Der hat ukrainisch-russische Wurzeln und benutzt viele Schimpfwörter aus seinen Muttersprachen, die begeistert aufgenommen werden. Diese Wörter werden oft auch gebraucht, um einem Gespräch Rhythmus zu verleihen. "Suka Bljad" zum Beispiel ist ein sehr hartes Schimpfwort, man kann es vielleicht mit "Hündin-Hure" übersetzen.

Eine ganz schlimme Bitch?

Nein, bei den Schimpfwörtern spielt der Kontext eine wichtige Rolle, Bitch ist ja kein Schimpfwort mehr. Es kann von Mädchen und Frauen mittlerweile wie eine Auszeichnung benutzt werden. Die Jungs wurden enteignet und das Wort aufgewertet. Das ist ein Zeichen von Emanzipation durch Sprache.

Die Begeisterung für Kraftausdrücke fängt schon bei kleinen Kindern an, woran liegt das?

Kinder saugen diese Worte auf, weil sie merken, der Ausdruck hat große emotionale Bedeutung. Dann sagen sie zu Hause "Arschloch" und stellen fest – oh, das wirkt aber toll! Mein jüngster Sohn kam, wenn er sich über mich ärgerte, mit dem Spruch: "Mama ist blöd." Ich habe gesagt: So ärgert man sich nicht. Wenn man sich ärgert, sagt man: "Ach du liebes Mamilein!" Das hat eine Zeit lang wirklich funktioniert. Er hat als Knirps mit dem Fuß aufgestampft, geweint und gebrüllt: "Ach du liebes Mamilein!" Das war sehr lustig.

Wer flucht in Ihren Ohren denn besonders schön?

Ich mag im Wienerischen die Verwünschungen: "Geh in’ Arsch, in’ Himmel kommst eh net", "Rutsch mir den Buckel runter und brems mit der Zunge". Vieles davon steht unter dem Einfluss von jiddischen Verwünschungen. Das Jiddische hat beim Thema Verwünschung eine lange Tradition und eine unglaubliche Kreativität: "Du sollst Krätze am Arsch kriegen und zu kurze Arme, um dich zu kratzen", "Alle Zähne sollen dir ausfallen, bis auf einen, damit du weißt, was Zahnschmerzen sind". Bei besonders heimtückischen Verwünschungen wird im ersten Teil etwas Gutes gewünscht, das sich dann im zweiten Teil gegen einen wendet: "Du sollst ein Haus mit zehn Zimmern haben. In jedem soll ein Bett stehen, und das Fieber treibt dich von einem Bett ins nächste", "Du sollst eine Million Euro gewinnen, und alle deine Freunde sollen es erfahren".

Das ist in der Tat kreativ. Gibt es eine Kultur, die sich nicht beschimpft?

Ich glaube, geschimpft wird überall. Ich habe von einer Sprache in Asien gelesen, da gibt es angeblich keine Schimpfwörter. Das Härteste dort ist: grüner Affe. Aber vielleicht ist ein grüner Affe dort etwas ganz Schlimmes, wer weiß. Wir können das bei einer anderen Kultur schlecht beurteilen. Wenn Sie einem Ukrainer wörtlich "Arschloch" übersetzen, kann der damit nichts anfangen. Das ist für ihn ein anatomischer Vulgarismus. Ich übersetze "Arschloch" deswegen mit dem ukrainischen Wort für "Hodensack", einer dort sehr häufigen und ebenso derben universalen Beschimpfung. Das trifft den richtigen Ton. Im Ukrainischen haben wir übrigens eine ganze Reihe von Wörtern für korrupte Personen, die ich nicht ins Deutsche übersetzt bekomme. Für Vorschläge bin ich offen!

Dr. Oksana Havryliv lehrt und forscht an der Uni Wien – auch zu Intention und Folgen verbaler Aggression.

Barbara

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