Anzeige

Jung, erfolgreich, alkoholabhängig "Es war einfach normal sich abzuschießen."

Nathalie Stüben
© PR
Nathalie Stüben ist nüchtern und seitdem endlich wieder sie selbst. In ihrem Buch "Ohne Alkohol. Die beste Entscheidung meines Lebens" beschreibt sie ihren Weg aus der Alkoholabhängigkeit und räumt mit Irrtümern und falschen Grundannahmen auf.

Dieses Interview erschien erstmals im Oktober 2021.

Liebe Nathalie, Anfang Oktober ist dein Buch "Ohne Alkohol – Die beste Entscheidung meines Lebens" erschienen, in dem du über deinen Weg aus der Alkoholabhängigkeit schreibst. Wie lange hast du mittlerweile keinen Alkohol mehr angerührt?

Nathalie Stüben: Seit über fünf Jahren bin ich jetzt nüchtern.

Bist du nie wieder in Versuchung gekommen?

Doch, am Anfang schon. Am Anfang ist es einfach Gewohnheit. Es ist eine Sucht. Der ganze Geist funktioniert noch so, der Körper auch. Da hatte ich schon Abende, an denen ich nach der Arbeit nach Hause kam und dachte: Was machen Menschen eigentlich abends, wenn sie nicht trinken? Ich wusste es nicht.

Lass uns einmal zum Ursprung zurückgehen. Wie kam der Alkohol in dein Leben?

Letztlich über den Genuss. Meine Eltern sind Genuss-Trinker – das typische Glas Wein zum Essen. Das hat bei ihnen etwas total Edles. Früher haben sie den Wein auch häufiger noch dekantiert und so was. Also dieses klassische Brimborium, das hinterher viele, die ein Problem entwickeln, davon abhält, sich vom Alkohol zu lösen. Weil das so positiv aufgeladen ist. Bei mir war das auch so. Meine Eltern waren Vorbilder für mich. Ich mochte sie und sah, was für ein schönes Leben sie führen. Ich wollte so sein wie sie. Und habe das auch überhaupt nicht hinterfragt. Für mich war das klar: Wenn ich erwachsen bin, trinke ich Wein. Und so hab ich damit angefangen.

Und dann geriet dein Trinkverhalten außer Kontrolle?

Im Vergleich zu meinen Freundinnen habe ich Alkohol schon immer sehr gut vertragen. Ich musste mich zum Beispiel nie von Alkohol übergeben. Das ist übrigens ein Faktor, der mit beeinflusst, ob du süchtig wirst. Denn wenn du es gut verträgst, neigst du auch dazu, mehr zu trinken. Und wenn du mehr trinkst, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit abhängig zu werden exponentiell. Bei mir haben sich mit der Zeit dann die Abende gehäuft, an denen ich getrunken habe, bis ich nicht mehr konnte, bis mich irgendwer nach Hause getragen hat, bis ich eingeschlafen bin oder später dann auch irgendwo gelandet bin, wo man nicht landen möchte. Am Anfang war das noch eine Mischform. Da konnte ich durchaus essen gehen und nur ein Glas Wein trinken. Dann kamen diese Abstürze. Und irgendwann gab es kaum noch Restaurantbesuche, wo ich nur ein Glas Wein getrunken habe. Der Absturz war dann schon vorprogrammiert.

Hast du zwischendurch versucht, dein Trinkverhalten unter Kontrolle zu bringen und weniger zu trinken?

Oh ja. Ich habe immer wieder probiert, "normal" zu trinken. Hat auch immer mal funktioniert. Wobei ich rückblickend sagen muss: An solchen Abenden habe ich die ganze Zeit nichts anderes gedacht als: Okay, jetzt ist mein Glas schon fast leer. Warum ist das bei den anderen noch voll? Wie viel kann ich noch trinken? Wenn ich heute trinke, kann ich morgen nicht trinken usw… Solche Trinkregelspiele wie heute nur ein Glas oder nur am Wochenende, habe ich sehr lange gespielt. Und lange nicht gesehen, dass dieses "es funktioniert" immer mal Teil meines Suchtmusters war. Denn auf Dauer hat es halt nie funktioniert. Das wusste ich aber damals nicht. In meinem süchtigen Hirn kam an: Ahhh, es geht! Ich muss mich nur richtig, richtig doll anstrengen.

Woran hast du gemerkt, dass du zu viel trinkst?

Meine innere Stimme hat sich schon früh gemeldet – und auch immer wieder. Aber ich habe die dann wegargumentiert. Als ich mir mit 21 den Zeh gebrochen habe, weil ich mit dem Rad betrunken nach Hause fuhr und gestürzt bin, da habe ich mir zum Beispiel gesagt: Du bist jung, du bist wild, kann passieren. Dann habe ich mit 25 einen Zahn verloren. Da sagte ich mir dann: Ok, du hast voll übertrieben, du musst jetzt mal eine Pause machen. Aber schlussendlich hatte ich immer wieder solche Gedanken wie: Mann, was ist das mit mir? Das war so, als würde ich mit dem ersten Glas Wein einen anderen Bereich betreten, als wäre ich eine andere. Nach dem ersten Glas war alles, was ich mir vorgenommen hatte, egal. Dann ging es nur noch darum, weiterzutrinken.

Mit welchen Argumenten hast du dich noch vom Gegenteil überzeugt?

Ich trinke doch nicht täglich. Ich trinke doch keinen harten Alkohol. Ich habe noch nie morgens getrunken. Ich hab mein Studium mit Auszeichnung abgeschlossen. Ich mache Karriere. Meine Hände zittern nicht. Ich hatte ein völlig falsches Bild davon im Kopf, wie Alkoholabhängigkeit aussieht.

Warum meinst du, ist es bei Alkohol im Vergleich zu anderen Drogen so schwierig, sich das einzugestehen?

Daniel Schreiber, der Autor des wunderbaren Buchs "Nüchtern", hat einmal sinngemäß gesagt: Alkohol ist die Droge, auf die wir uns kollektiv geeinigt haben. Dadurch, dass sie so unwahrscheinlich verfügbar und präsent ist, verherrlichen wir sie automatisch. Sonst müssten wir uns als Gesellschaft ja ein riesiges Alkoholproblem eingestehen.

Wie viel hast du zu Hochzeiten getrunken?

Das kam immer auf meine Verfassung an. Es gab Abende, da war ich nach einer Flasche Wein platt und solche, an denen ich drei bis vier Flaschen getrunken habe und ein paar Longdrinks on top. Aber die Menge ist eigentlich gar nicht so relevant für die Frage, ob jemand ein Alkoholproblem hat oder nicht.

Hat sich der Alkoholkonsum nicht auf deinen Job ausgewirkt?

Bei der Arbeit habe ich immer noch gut geliefert. Das war im Grunde das Letzte, was bei mir noch funktionierte. Und daran habe ich auch alles gesetzt und den letzten Rest Energie aus mir herausgepresst. Da blieb dann hinterher auch nichts mehr übrig für das Privatleben. Das ist komplett verarmt und innerlich hat es sich auch so angefühlt.

Aber haben deine Freunde oder deine Familie nie was gesagt?

Also meine Freunde haben das meist eher so abgetan – bist halt emanzipiert, Partygirl. Meine Mutter hat schon öfter mal gefragt, ob ich jetzt wirklich noch ein Glas trinken will und das ein oder andere Date hat das auch mal kommentiert. Aber als Alkoholproblem hat mein Verhalten niemand erkannt. Es war einfach normal sich abzuschießen und solange alles andere funktioniert, ist das bei uns auch akzeptiert. Solange du die gängigen Standards eines "funktionierenden" Lebens erfüllst, schaut keiner so genau hin.

Du schreibst, der Alkohol hätte deine Persönlichkeit verändert. Wie meinst du das?

Ich bin total hart geworden, sowohl mir als auch anderen gegenüber. Ich war missgünstig und neidisch, ich konnte mich nicht mit meinen Freundinnen freuen. Ich war zynisch, reizbar und habe alles persönlich genommen. Und ich hatte auch überhaupt keinen Zugang mehr zu meinen Gefühlen. Entweder war ich abgestumpft, oder sie sind komplett außer Kontrolle geraten. Und ich war unendlich traurig.

Aber oft ist das ja der Grund, warum viele Alkohol trinken – um ihre Gefühle nicht fühlen zu müssen…

Ja, aber was viele nicht sehen, ist, dass Alkohol diese schlechten Gefühle und die Anspannung oft erst auslöst. Viele, die regelmäßig trinken, sind überhaupt erst so gestresst, weil sie trinken. Alkohol präsentiert sich zwar als Retter am Abend nach einem anstrengenden Tag, aber würde man diesen Retter nicht jeden Abend einsetzen, wäre der Tag wahrscheinlich gar nicht so stressig. Würde man nicht jeden Abend gegen die Einsamkeit antrinken, würde man sich nicht derartig einsam fühlen. Würde man nicht jeden Abend die Traurigkeit wegspülen, wäre sie mit einiger Wahrscheinlichkeit auch nicht da. Diese Erkenntnis war für mich der absolute Augenöffner. Dass Alkohol die Ursache für die meisten meiner Probleme war, das habe ich ewig nicht gesehen.

Was hat sich verändert seit du nicht mehr trinkst?

Ich mag mich jetzt. Und ich mag Menschen wieder, also so richtig. Ich kann mich wieder von Herzen mit anderen freuen. Ich fühle wieder mit und habe eine ganz neue Herangehensweise ans Leben. Ich weiß, wie ich Grenzen ziehe und was ich brauche, um gesund und zufrieden zu leben. Ich bin jetzt kein komplett anderer Mensch, aber das Level ist ein anderes. Ich habe wieder viel von dem Mädchen von früher, als alle zu mir meinten: Krass, dass du immer so gute Laune hast.

Was hat es gebraucht, damit du aufhörst, Alkohol zu trinken?

In meinem Fall: den einen Morgen zu viel. Das war im Juli 2016, da bin ich neben einem Typen aufgewacht, an dessen Namen ich mich nicht erinnern konnte. Ich weiß, dass ich Sex mit dem hatte, weil wir beide nackt waren und auf dem Boden zerfetzte Kleidung rumlag. Und ich hatte wieder so ein krasses Ziehen in der Magengegend. Das war normal, dass ich das hatte, das hatte ich schon jahrelang. Das kommt vom Wein, dachte ich. Aber an diesem Morgen spürte ich: Das ist nicht nur der Wein, das kommt aus meiner Seele, die schreit: Hör endlich auf damit! Weißt du, das war ja eigentlich alles nichts Besonderes. Ich bin so oft neben irgendwelchen Typen aufgewacht, aber irgendwas war plötzlich da, das mir sagte: Du hörst jetzt ganz auf zu trinken. Nix kontrolliert, nix Trinkregel, du hörst jetzt ganz auf. Mir war zu dem Zeitpunkt schon länger klar, dass ich ein riesengroßes Problem habe und dass ich ganz aufhören muss. Und an diesem Morgen war der Leidensdruck dann wohl so groß, dass es endlich zu dieser Entscheidung kam. Es war einfach ein Morgen zu viel, an dem ich dachte, ich muss mein Leben jetzt überstehen.

Wie hast du dich mit der Entscheidung nicht mehr zu trinken gefühlt? Hat dir das Angst gemacht?

Ja, total. Ich wusste gar nicht, wie ich das machen soll und was jetzt passiert. Ich hatte gar keine Vorstellung, wie mein Leben ohne Alkohol aussehen sollte. Aber ich fühlte auch sofort eine gewisse Erleichterung – ganz leise erst, aber als ich zur Arbeit fuhr, hatte ich das Gefühl, dass mir jemand einen tonnenschweren Rucksack abnimmt. Einfach weil ich eine Entscheidung getroffen hatte und es jetzt irgendwie weitergehen musste.

Hast du dir auf deinem Weg professionelle Hilfe gesucht?

Ich bin damals gar nicht auf die Idee gekommen, zu einer Suchtberatung zu gehen, weil ich immer dachte, das ist für die, die wirklich ein Alkoholproblem haben (lacht). Also für die, die unserem Klischeebild entsprechen. Heute weiß ich natürlich, dass sich dieses Angebot auch an mich gerichtet hätte. Aber ich habe damals dann erst mal angefangen, Podcasts zu hören, Fachliteratur zu lesen, Experteninterviews zu hören – und später auch zu führen. So wie ich das als Journalistin immer mache, wenn ich mich in ein Thema einarbeite. Am Anfang waren vor allem die US-amerikanischen Podcasts anderer Betroffener für mich sehr heilsam, weil ich mich darin so wiedergefunden habe. Und nach und nach habe ich mir dann so Trial-and-Error-mäßig mein eigenes Toolkit zusammengestellt, das für mich funktioniert.

Was hast du dann getan, um nicht rückfällig zu werden?

Ich hab meinen Alltag umgekrempelt und mir konkrete Strategien erarbeitet, mit denen ich schwierige Situationen meistern konnte. Ich bin zum Beispiel super früh schlafen gegangen, weil ich wusste: Abends wird es schwierig für mich. Oder ich bin nicht an der Station ausgestiegen, wo sofort der Supermarkt war, in dem ich immer meinen Wein gekauft habe. Ich bin dann eine Station früher ausgestiegen und einen Umweg nach Hause gelaufen. Es gibt gute Wege, sich selbst zu schützen und an die Hand zu nehmen. Klar, die Cravings kommen, aber auch da gibt es Strategien, sie zu überstehen.

Allerdings muss ich insgesamt betrachtet auch sagen, dass mir das Aufhören viel leichter fiel, als ich dachte. Die positiven Aspekte haben so krass überwogen. Ich hatte plötzlich einfach nichts mehr zu verstecken. Ich konnte in die Bahn einsteigen oder mit Kollegen reden und brauchte keine Angst mehr zu haben, dass jemand riecht, dass ich gestern getrunken habe. Ich hatte plötzlich so viel Zeit, weil ich nicht mehr andauernd Alkohol besorgen musste, Flaschen entsorgen musste, ausnüchtern musste. Und sich verkatert zur Arbeit zu schleppen geht zwar, ist aber auch nicht geil. Es war wie ein neues, viel unbeschwerteres Leben, das da anfing. Und dafür möchte ich eben auch sensibilisieren: Wenn du es lässt, hast du so viel Platz in deinem Leben plötzlich, so viel Energie für Dinge, die dir wichtig sind.

In deinem Buch schreibst du, dass Alkoholabhängigkeit viel individueller ist, als wir annehmen, und es keinesfalls damit zu tun hat, wann am Tag und wie viel oder was wir trinken. Aber wann besteht aus deiner Sicht bereits die Gefahr einer Alkoholsucht und wann sollten wir aufpassen?

Um Alkoholsucht zu diagnostizieren, gibt es ja klare Kriterien: Hast du immer wieder Cravings? Verlierst du die Kontrolle beim Trinken? Vernachlässigst du andere Interessen, um trinken zu können? Verträgst du mehr als früher? Hast du Entzugserscheinungen und trinkst du weiter, obwohl du schon merkst, dass Alkohol dir und deinem Leben schadet. Bei drei oder mehr mal ja ist es wahrscheinlich, dass du bereits abhängig bist. Ob du dich auf dem Weg dorthin befindest, kann man, finde ich – und das ist jetzt nicht wissenschaftlich fundiert – ganz gut an solchen Indikatoren erkennen wie: Googlest du immer wieder mal, wie viel noch in Ordnung ist? Oder trinkst du, um zu verändern, wie du dich fühlst? Um abzuschalten, um zu vergessen, um zu entspannen. Dann wird’s auch schon kritisch.

Aber vor allem dein letzter Punkt trifft ja vermutlich auf sehr, sehr viele Menschen zu…

Ja, das ist so. Die haben nicht alle automatisch ein Alkoholproblem, aber sie bewegen sich in einem riskanten Bereich, sie spielen mit dem Feuer. Das ist leider so. Nur weil alle es tun, macht es das nicht ungefährlicher.

Wenn ich jetzt an einem Punkt ankomme, an dem ich merke: Okay, ich hab ein Problem. Was mach ich dann?

Wenn du körperlich abhängig bist, was nur die wenigsten sind, dann bitte nicht alleine entziehen, sondern medizinische Hilfe in Anspruch nehmen. Das ist wichtig. Ansonsten rate ich immer dazu, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Und wenn jemand Hilfe in Anspruch nehmen möchte: Es gibt verschiedene Wege hinaus. Ich rate dazu, zu schauen, was für einen funktioniert. Für manche sind es die Anonymen Alkoholiker, für manche ist es eine Psychotherapie, für andere sind es meine Programme – und für manche ist es alles zusammen. Es gibt unzählige Wege. Ich möchte einfach mit auf den Weg geben: Wenn etwas nicht funktioniert, versuch etwas anderes. Don't try harder, try different.

Vielen Dank für das interessante und nette Gespräch.

Nathalie Stüben
© PR

Nathalie Stüben, geboren 1985, besuchte die Deutsche Journalistenschule in München. Sie schrieb und fotografierte u. a. für die Süddeutsche Zeitung, die dpa und verschiedene Frauenzeitschriften. Zuletzt arbeitete sie als Radio- und Fernsehjournalistin für den Bayerischen Rundfunk. Im Jahr 2019 startete sie ihren Podcast "Ohne Alkohol mit Nathalie", der auf große Resonanz stößt. 2021 startete sie einen eigenen YouTube-Kanal. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Rosenheim. 

Cover Nathalie Stüben
© PR

In ihrem Buch "Ohne Alkohol. Die beste Entscheidung meines Lebens" räumt die Journalistin nicht nur mit Irrtümern auf, sondern erzählt auch schonungslos von ihren eigenen Erfahrungen. Sie nimmt Betroffenen Scham- und Schuldgefühle und vermittelt Gefährdeten an der Grenze zur Abhängigkeit Klarheit. Vor allem aber ist es ihr Anliegen, das Thema Alkoholabhängigkeit aus der Schmuddelecke zu holen und die Art und Weise zu verändern, mit der in Deutschland über Alkohol diskutiert wird. 

Barbara

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel