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Autismus: Das etwas andere Glück

Der Staubsauger zu laut, der Pulli zu kratzig, die Sonne zu hell: Was bedeutet es, wenn in einer Familie beide Kinder autistisch sind? Eine Mutter erzählt.

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Der vergangene Sommer stand bei uns im Zeichen der Meerestiere: Hummer, Langusten und Krebse. Unser Sechsjähriger gab dieses Interessengebiet vor, und zwar mit leidenschaftlicher Intensität. Sein kleiner Bruder, damals drei Jahre alt, hatte ein anderes Spezialthema: Vulkane.

Unsere Söhne haben ein beachtliches Wissen zu diesen Gebieten, und auch wir, ihre Eltern, wissen jetzt sehr viel darüber. Wir wissen aber auch, dass solche eng umschriebenen Sonderinteressen unserer Söhne ein Teil ihres Problems sind: Der Sechsjährige hat frühkindlichen Autismus. Zur Wahrung der Anonymität nenne ich ihn hier den "Hummer". Der Vierjährige hat das Asperger-Syndrom, er ist der "Vulkan".

Die Namen passen im Übrigen ganz gut: Der Hummer hat in manchem dasselbe Tempo wie sein im Wasser lebender Freund - es ist die Entdeckung der Langsamkeit. Der Vulkan zeichnet sich durch eruptive Stimmungsäußerungen aus, die uns, seine Familie, die an den Hängen des Ätna lebt, permanent in Atmen halten. Wahrscheinlich sind wir als Familie nicht ganz normal. Aber wir sind das, was man glücklich nennt. Wie sieht dieses Glück aus? Drei Antwortversuche.

Glück ist, wenn der Schmerz nachlässt

Wer einmal das zweifelhafte Vergnügen hatte, unter Ohrenschmerzen, Bauchkrämpfen oder Migräne zu leiden, wird wissen, was ich meine: ein Glück, wenn der Schmerz nachlässt! Ganz am Anfang waren unsere Schmerzen besonders schlimm. Es tat weh zu erkennen, dass der Hummer sich nicht so entwickelte wie seine Altersgenossen.

An dem Tag, an dem wir ein Fest feierten, weil der Hummer mit fast zwei Jahren endlich laufen konnte, hatte sein gleichaltriger Kumpel zum ersten Mal sein großes Geschäft auf der Toilette erledigt. Andere Zweijährige bildeten erste kleine Sätze und begannen, einander als Spielkameraden zu entdecken.

Der Hummer war entweder für sich allein, oder er drosch auf die anderen Kinder ein. Er hatte einen riesigen Wortschatz angehäuft, aber er kombinierte die Wörter nicht zu Sätzen mit kommunikativer Funktion. Dafür echote er alles, was er hörte, und er verarbeitete diese Fragmente zu einem dadaistischen Sprachbrei. Mit größtem Vergnügen und ganz für sich allein.

Die Wurstscheibe klatschte mein Sohn vor Wut auf die frisch polierte Theke

Wir sorgten uns um unseren Hummer. Seine Zähigkeit und sein Überlebenswille in einer Welt, die offensichtlich nicht sein Element war, nötigten uns Bewunderung ab. Wir sahen, wie schwer er es hatte. Das machte uns traurig. Was andere einfach hinnahmen, wurde für den Hummer zur täglichen Qual: das Etikett im Pullover, die Falte in der Tischdecke, ein verschobener Teller, das Staubsaugergeräusch. Ein Raum voller Menschen, Wind auf der Haut, die Sonne im Gesicht. Kaufhausgedudel und Radio.

Das Leben wurde unerträglich. Fast alles, was es draußen zu sehen und zu hören gab, machte dem Hummer Angst oder brachte ihn in Rage: Hunde, Puppen, Luftballons, selbst wohlmeinende Mitmenschen. Zum Beispiel die Verkäuferin an der Wursttheke, die nett sein wollte und dem Kind eine Wurstscheibe schenkte. Das Kind fand das aber nicht nett, sondern eine Zumutung - und klatschte die Wurst vor Wut auf die frisch polierte Theke. Das Lächeln im Gesicht der Verkäuferin gefror, und mein Mann schob hastig mit dem schreienden Kind im Buggy ab.

Kurz vor dem dritten Geburtstag des Hummers wurde es so schlimm, dass wir Hilfe suchten. Als wir die Diagnose erfuhren, waren wir schockiert. Sicher, wir hatten geahnt, dass mit dem Hummer etwas nicht stimmte. Aber Autismus? Das klang endgültig. Wie alle Eltern hatten wir für unser Kind eine glückliche und unbeschwerte Zukunft vor Augen. Sich von diesem Bild zu verabschieden tat weh.

Aber es gab auch die andere Seite: Unser Schmerz hatte jetzt einen Namen. Wir konnten ihn erforschen und therapieren. Das Wort "Autismus" verlor seinen düsteren Klang. Der Hummer, den das Wort diagnostizierte, war noch derselbe. Nur dass wir ihm jetzt vielleicht helfen konnten. Das machte Mut.

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Mit dem Vulkan war es nicht anders. Schon kurz nach seiner Geburt war er permanent ausgebrochen. Ein hochgradiges Schreikind, immer auf Suche nach Gehirnfutter, ganz und gar auf Objekte bezogen und vielleicht noch auf seine Mutter, die er aber nicht als Gegenüber wahrnahm, sondern als Maschine zur Befriedigung seiner Bedürfnisse. Als wir umzogen - der Vulkan war da anderthalb -, stürzte er in eine tiefe Depression, die ein halbes Jahr andauerte. Ein Jahr später dann die Diagnose: auch der Vulkan ein Autist. Seitdem wissen wir, was Veränderungen für ihn bedeuten, und wir stellen uns darauf ein.

Wenn wir nicht an Gott glaubten, könnten wir auf den Gedanken kommen, dass in unserer Familie der Blitz zweimal eingeschlagen hat. Wenn ich aber vier Jahre Vulkan und sechs Jahre Hummer rekapituliere, bin ich vor allem dankbar. Meine Söhne und ich haben jetzt weniger Schmerzen als zuvor. Der Hummer lernt, seiner Angst ins Auge zu sehen. Der Vulkan bekommt seine Ausbrüche immer öfter unter Kontrolle. Und unser Schmerz lässt langsam nach.

Glück ist, eine Liste zu führen

Seit Hummer und Vulkan in unser Leben getreten sind, gehen wir ein hohes Tempo. Alles ist ständig in Bewegung. Die Schuhe vom letzten Winter sind zu klein, der Erziehungsratgeber veraltet, die schwierige Phase passé, eine neue steht schon bevor. Geht das immer so weiter?

Manchmal wünschen wir uns eine Pause oder ein anderes Leben. Aber das ist natürlich Quatsch. Wenn ich es mir recht überlege, will ich mein Leben genauso, wie es ist. Dafür gibt es innere und äußere Gründe. Die inneren verschweige ich an dieser Stelle, die äußeren liste ich auf:

Seit Hummer und Vulkan in unser Leben getreten sind, gehen wir ein hohes Tempo.

Würde der Vulkan sich nicht für Astrophysik interessieren, wüsste ich nicht, dass es im 18. Jahrhundert eine weibliche Astronomin namens Caroline Herschel gab, die Sternennebel entdeckt und katalogisiert hat. Würde der Hummer sich nicht für Meerestiere interessieren, wüsste ich nicht, dass es tief unten im Meer leuchtende Garnelen gibt, die bei Gefahr Lichtblitze spucken.

Hätten unsere Kinder nicht ihre Sonderinteressen, hätten wir viele Tierparks garantiert nicht kennen gelernt. Hätte ich nicht die Erfahrung gemacht, dass es sich lohnt, an die Fähigkeiten eines Kindes zu glauben, würde mir vielleicht das Verständnis für manche meiner Schüler fehlen. Hätten wir durch die Behinderung unserer Kinder nicht einen so hohen Bedarf an alltäglicher Beratung und Unterstützung, hätten wir viele freundliche Menschen nicht kennen gelernt.

Wären wir nicht wegen der Lärmempfindlichkeit unserer Kinder an den Stadtrand gezogen, hätten wir heute keinen Blick auf den Wald. Würden uns unsere Kinder nicht jeden Tag neu herausfordern, würden wir vielleicht geistig einrosten. Was für ein Glück, solch eine Liste zu führen!

Glück ist, in seinem Element zu sein

Im Wasser ist der Hummer in seinem Element. Das Element des Vulkans ist Feuer. Mein Element sind Bücher, für meinen Mann ist es die Welt von Web 2.0. Wasser, Feuer, Papier und Pixel - das Familienglück hängt stark davon ab, dass wir es schaffen, alle in unserem eigenen Element und doch zusammen zu sein. Es wäre leicht, um unsere Söhne einen Kokon zu spinnen. Dieser Gedanke ist verführerisch und wird genährt vom Mythos des einsamen autistischen Genies, der von Hollywood kolportiert wird. Aber wir haben uns für den Weg der Mitte entschieden, für die Suche nach dem gemeinsamen Element.

Wir schätzen und fördern die schrägen Interessen unserer Söhne. Im letzten Sommer sah das so aus: Mit dem Vulkan bauten wir Vulkane aus Sand, Matsch, Knete oder Pappe, liehen stapelweise Vulkanbücher aus, fachsimpelten über Magma, Lavabomben, tektonische Platten und Hot Spots. Dem Hummer erzählten wir Hummergeschichten, buken Hefeteighummer und hörten uns stundenlang seine Erzählungen an, die unter der Wasseroberfläche spielten und in denen Tiefseegarnelen Blitzwolken spuckten.

Der Hummer mag solche Fragen nicht, er will lieber die Tiefseegarnele sehen.

Aber wir wollten noch mehr. Auf Anraten von Fachleuten besuchten wir einen Workshop in Hannover. Dort lernten wir eine verhaltenstherapeutische Methode (ABA) kennen, mit der wir zu Hause trainieren können, was unseren Kindern durch den Autismus schwerfällt: Kommunikation, Interaktion, Flexibilität, Planung, Zusammenhänge, Emotionen.

Ein Beispiel, um das Prinzip deutlich zu machen: Wir schauen ein Bilderbuch über Meerestiere an. Der Hummer und sein Thema erfahren meine ungeteilte Aufmerksamkeit. In der Sprache der Verhaltenstherapie ist das eine verstärkende Aktivität, die ich nutze, um den Hummer sprachlich zu fördern. Ich frage zum Beispiel: Welche Meerestiere kennst du noch? Das hilft, Kategorien zu bilden und Zusammenhänge zu erkennen. Aber der Hummer mag solche Fragen nicht, er will lieber zum tausendsten Mal auf der nächsten Seite die Tiefseegarnele sehen, die Lichtblitze spuckt. Ich verlange ihm die geistige Anstrengung ab, bestehe auf einer Antwort und belohne diese, indem ich mit ihm umblättere und mich der bewussten Garnele widme. Der Hummer hat etwas gelernt und bekommt meine Aufmerksamkeit - ein Moment echter Gegenseitigkeit.

Ein weiteres Beispiel: Die Brüder spielen im Wohnzimmer. Manchmal klappt es mit der Vereinigung der Elemente, manchmal nicht. Dann sind die beiden wie Feuer und Wasser. Der Hummer fährt seine Scheren aus, der Vulkan explodiert. Es ist laut, schrill und gefährlich. Keiner weicht zurück. Jetzt ist Multitasking angesagt: dem Hummer die Scheren lösen, den Vulkan an weiteren Ausbrüchen hindern, die Streithähne trennen, an die Regel erinnern, eine positive Aufforderung geben, das erwünschte Verhalten verstärken, das unerwünschte mit Konsequenzen belegen, letzte Deeskalation per Auszeit. Manchmal helfen diese Maßnahmen. Und dann erleben wir, wie sich die Elemente wieder versöhnen: Zwei Spezialisten, vereint in ihrer Leidenschaft für die Sache, tauschen sich über ihre Forschungsschwerpunkte aus. Das zu verpassen wäre ein Jammer, und deshalb lohnt es, an der Versöhnung zu arbeiten.

Seit einigen Monaten gehen der Hummer und ich zur Schule: er in die erste Klasse und ich auf das Gymnasium in der Nähe, wo ich Deutsch und Latein unterrichte. Das ist für den Hummer nicht leicht. Wenn ich von der Schule komme, zeigt er mir oft die kalte Schulter. Vom Vulkan hingegen, der sein Interesse auf Raketen, Fontänen und Geysire verlagert hat, werde ich rücksichtslos für seine Projekte eingespannt. Im Moment experimentieren wir mit Diät- Cola und Mentos. Wir produzieren Fontänen und versuchen, eine Rakete zu bauen. Das macht Spaß. Wenn es dann noch gelingt, den Hummer mit einzubeziehen, ist alles gut. So etwas nenne ich Glück.

Info: Autismus und Asperger-Syndrom

Unter Autismus stellt man sich spektakuläre Fälle vor: Menschen, die kaum mit anderen kommunizieren, aber Aufsehen erregende Sonderbegabungen haben. Autismus ist aber vor allem eine angeborene Störung der Informationsverarbeitung im Gehirn, die es den Betroffenen schwer macht, soziale Interaktion zu verstehen und daran teilzunehmen. Weniger bekannt als der frühkindliche Autismus, weniger auffällig und deshalb oft erst später erkannt wird das Asperger-Syndrom (oder die Autismus- Spektrum-Störung), ein Sammelbegriff für verschiedene Störungen. Die Angaben darüber, wie viele Kinder betroffen sind, schwanken, die Zahlen steigen, möglicherweise auch aufgrund einer besseren Diagnostik: Danach hat heute etwa eins von 200 Kindern eine autistische Störung, darunter mehr Jungen als Mädchen.

Die Früherkennung: Beim Asperger-Syndrom ist sie ab dem dritten Lebensjahr möglich, beim frühkindlichen Autismus schon früher. Eine frühe Diagnose ist die wichtigste Voraussetzung für eine angemessene Förderung der Kinder. In einer Spezialambulanz in Marburg werden Kinder aus dem ganzen Bundesgebiet mit ihren Eltern gemeinsam untersucht und beraten. Kontakt: Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie am Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Spezialambulanz für Autismus-Spektrum-Störungen, Schützenstraße 49, 35039 Marburg, Telefon 064 21/586 64 69, kjp@med.uni-marburg.de

Die Förderung: Autismus ist nicht heilbar, doch durch gezielte Beratung und Therapie sind große Entwicklungs- und Lernfortschritte möglich. Eine in Deutschland noch junge Methode zur Förderung autistischer Kinder heißt ABA (Applied Behavior Analysis) und stammt aus den USA. Bei dem in Deutschland vertretenen Ansatz lernen die Eltern der betroffenen Kinder, wie sie durch ABA Verhaltensweisen unterstützen können, die Menschen mit Autismus und Asperger-Syndrom schwerfallen. So wird möglichst das gesamte Umfeld der Kinder (Familie, Kindergarten, Schule) für ihre besonderen Lernanforderungen geschult. Die Kosten für ABA-Workshops und intensive häusliche Beratung können einige tausend Euro pro Jahr ausmachen. Sie werden in vielen Fällen vom Jugend- oder Sozialamt übernommen, doch darum müssen Eltern oft erst kämpfen.

Mehr Infos zu ABA finden Sie im Internet unter www.aba-eltern.de und www.knospe-aba.com

Kontakt: Institut Knospe-ABA, Lange Reege 5, 31693 Hespe, Tel. 057 21/93 83 49, Mail: knospeaba@yahoo.com

Text: Christina Müller Fotos: Andrea Diefenbach Fachliche Beratung: Dr. Inge Kamp-Becker

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