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Wenn der Kopf schmerzt Fünf Wahrheiten über Kopfschmerzen

Kopfweh und Migräne: Frau mit Kopfschmerzen
© fizkes / Adobe Stock
Kopfschmerzen und Migräne sind DIE Krankheit unserer Zeit – aber richtig diagnostiziert und behandelt werden sie selten. Dabei gibt es bewährte Therapien und auch viele neue Weg.

Wie oft tut dir der Kopf weh? Nie oder nur, wenn du am Abend vorher zu viel getrunken hast? Herzlichen Glückwunsch, dann kannst du den nächsten Artikel anklicken. Doch halt! Eigentlich passiert genau das schon viel zu lange: Kopfschmerzen werden übergangen. Sie werden verharmlost und stigmatisiert. Es ist mehr als höchste Zeit, sich mit ihnen zu beschäftigen – und war noch nie gerechtfertigter als heute. Fünf Wahrheiten, die wir alle kennen sollten:

Alle sind betroffen – nur nicht immer direkt

Kopfschmerzen sind bei uns eine Volkskrankheit: 28 Prozent der Frauen haben regelmäßig Spannungskopfschmerzen, die zugebenermaßen selten einen hohen Leidensdruck entwickeln, genauso viele leiden an Migräne. Auch wenn diese nicht alle gleichermaßen heftig betroffen sind, zählt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Migräne zu den am stärksten behindernden Erkrankungen. 

Und Kopfschmerzen sind keine Privatsache: "Ich muss leider absagen, ich habe Kopfschmerzen", hat vielleicht nicht jede schon gesagt, aber zumindest gehört von Freund:innen, Verwandten, Kolleg:innen. Allein wegen Migräne verliert Deutschland rund 146 Milliarden Euro pro Jahr, wie das Wifor-Institut in Darmstadt bestimmt hat. Das sind 4,4 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts. 

Daten von Krankenkassen zeigen, dass es immer mehr Kopfschmerz- und Migräne-Patient:innen gibt, in Schleswig-Holstein etwa haben in zehn Jahren die Migräne-Diagnosen bei Männern um 38 Prozent zugelegt, bei Frauen um 28. "Das sehe ich allerdings nicht nur negativ, es spricht auch für mehr Aufmerksamkeit bei Ärztinnen und Ärzten und für mehr Mut, sich selbst und anderen die Erkrankung einzugestehen", sagt Professor Dagny Holle-Lee, Leiterin des Westdeutschen Kopfschmerz- und Schwindelzentrums der Universitätsmedizin Essen.

Aber es gibt eben auch diesen Aspekt: Unser Alltag voller Termindruck und permanenter Reize sowie Mangel an Schlaf und Auszeiten sind insbesondere für Menschen, die erblich bedingt zu Migräne neigen, eine permanente Belastung. Stress ist auch für spannungsbedingte Beschwerden ein Hauptrisikofaktor, Tage vor dem Bildschirm – erst recht im Homeoffice am Küchentisch – tun ihr Übriges. Vor allem immer mehr Kinder und Jugendliche sind betroffen: Schon vor ein paar Jahren gaben 40 Prozent der 9- bis 19-Jährigen an, regelmäßig Kopfschmerztabletten einzunehmen. "Dass wegen Kopfschmerzen auch der Schulbesuch zum Problem wird, ist offensichtlich häufiger geworden", sagt Privatdozentin Dr. Gudrun Gossrau, Leiterin der Kopfschmerzambulanz des Universitätsklinikums der TU Dresden. "Wahrscheinlich hat die Pandemie diesen Anstieg noch einmal verstärkt."

Das Wehwehchen-Dilemma

"Weil wir heute mehr über Kopfschmerzen und Migräne wissen, verbessert sich auch die Akzeptanz der Erkrankung", so Gudrun Gossrau. "Aber dieser Wandel dauert sehr lange. Sogar bei Kolleginnen und Kollegen gibt es leider immer noch Ressentiments und Vorurteile." Die Bagatellisierung betrifft nicht nur die Medizin: "Man sieht den Betroffenen Kopfschmerzen oder Migräne nicht an, es sind Softwarestörungen und kein gebrochenes Bein, das jeder von außen direkt sieht und als Problem erkennt", sagt Dagny Holle-Lee. "Eine Migräne kommt plötzlich und nicht planbar, häufig auch am Wochenende. Wenn dann eine Verabredung abgesagt wird, glauben immer noch viele, das sei vorgeschoben." Auch wer nach einer Attacke am nächsten Tag wieder bei der Arbeit ist, als sei nichts gewesen, erntet schon mal schiefe Blicke. 

Zur Verharmlosung neigen teilweise sogar die Betroffenen, so die Neurologin Holle-Lee: "Man will schließlich nicht immer derjenige sein, der leidet. Ich kenne das vor allem von Müttern. Trotz der starken Kopfschmerzen versuchen sie, sich vor ihrem Kind nichts anmerken zu lassen und so normal zu sein wie möglich." Sich dann keine Auszeit zu nehmen aber verschärft die Beschwerden.

Jeder Kopfschmerz ist einzigartig

Über 200 verschiedene Arten von Kopfschmerzen gibt es. Sie unterscheiden sich in Ursache, Stärke und Dauer. Und natürlich in der Therapie. "Die Versorgung ist leider immer noch nicht so, wie wir uns wünschen. Viele Patienten gehen nicht zum Arzt, erhalten keine professionelle Diagnose und dementsprechend auch keine gezielte Therapie", sagt Stefanie Förderreuther, Oberärztin an der Neurologischen Klinik der LMU München. Besonders häufig sind Irrtümer bei Migräne, die oft als Problem der Halswirbelsäule verkannt wird. Häufig würde Untersuchungen wie Kernspin oder Computertomografie würden gemacht, ohne dass dies sinnvoll sei, so die Expertin. Eine Lücke gibt es auch in Sachen Prophylaxe, die bei Spannungskopfschmerzen ab zehn Schmerztagen und bei Migräne bei mehr als drei Attacken empfohlen ist – jeweils bezogen auf einen Monat. "Patienten werden viel zu selten über vorbeugende Maßnahmen informiert und erhalten auch keine entsprechenden Therapien."

Dass eine Migräne oft nicht erkannt wird, liegt auch daran, dass sie hochgradig individuell ist. Nicht immer zeigt sich das volle Spektrum mit einseitigem Pochen, Übelkeit, Licht- und Geräuschempfindlichkeit. Genauso variabel ist die persönliche Migräne-Biografie: "Jede Schwangerschaft macht’s anders, jeder Jobwechsel, jeder neue Partner, die Verhütungsmethode, ein Wetterwechsel", sagt Dagny Holle-Lee. "Es gibt 1000 Möglichkeiten, die eine Migräne verändern können, und sie verändert sich auch von ganz allein. Jeder, selbst bei einer schweren Form, hat eine gute Chance, dass es von allein besser wird. Mit der richtigen Medikation und anderen Maßnahmen versuchen wir, schneller in diese guten Zeiten hineinzukommen."

"Damit muss man leben" war gestern

"Viele Betroffene denken, dass es normal ist, Kopfschmerzen zu haben", sagt Dagny Holle-Lee. Auch Ärzt:innen vermitteln oft noch, damit müsse man leben. "Aber das ist natürlich Quatsch: Normal ist es, keine Kopfschmerzen zu haben." Sich mit frei verkäuflichen Schmerzmitteln selbst zu behandeln, ist erst mal in Ordnung, aber regelmäßige und schwerere Beschwerden, die den Alltag beeinträchtigen, sollten auf jeden Fall abgeklärt werden. "Grundsätzlich braucht man jemanden, der sich für Schmerz interessiert. Das kann auch die Hausärztin oder der Hausarzt sein", so die Expertin. Spezialist:innen findet man auf der Seite der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (dmkg.de). 

Das Gute ist nämlich, dass sich Kopfschmerzen und Migräne immer besser behandeln lassen. Der Fächer der Therapiemöglichkeiten ist deutlich breiter geworden, auch wenn noch nicht alle aktuell bei uns verfügbar sind. Bei der Migräne etwa gibt es nach den Triptanen, den ersten Migränespezifischen Medikamenten, die vor knapp 30 Jahren die Therapie revolutionierten, seit diesem Frühjahr so-genannte Ditane. Anders als Triptane verengen sie die Gefäße nicht und sind deswegen zum Beispiel auch für Menschen, die schon mal einen Herzinfarkt hatten, geeignet. Und neben den sogenannten CGRP-Antikörpern wurde 2022 ein CGRP-Antagonist zugelassen, der zweifach wirkt: in der Attacke und zur Vorbeugung. Dagny Holle-Lee: "Im Augenblick würde ich jedem empfehlen, dem man vielleicht vor fünf oder sechs Jahren gesagt hat ‚Wir haben nichts‘, noch einmal gemeinsam mit Ärztin oder Arzt zu schauen, ob es nicht doch etwas Neues für ihn gibt."

Der Trick: zur eigenen Expertin werden

Auch jenseits von Medikamenten gibt es Entwicklungen, zum Beispiel eine App, die auf personalisierte Ernährung setzt, um Migräne vorzubeugen. Ein weiterer Ansatz kommt aus Studien unter der Leitung von Gudrun Gossrau in Kooperation mit der Riechexpertin Professor Dr. Antje Hähner des Universitätsklinikums Dresden. Ausgangspunkt war die Erfahrung vieler Betroffener, extrem sensibel gegenüber Gerüchen zu sein. Diese können nicht nur Attacken auslösen oder verstärken, sondern werden oft auch insgesamt als unangenehm empfunden.

"Was uns total überrascht hat, ist, dass das Riechvermögen entgegen dieser Wahrnehmung tatsächlich schlechter ist", sagt die Medizinerin. Geruchsreize werden zudem im Migräne-Gehirn anders verarbeitet. Wird allerdings morgens und abends regelmäßig an angenehmen Düften geschnuppert und so das Riechvermögen trainiert, steigt die Schmerzschwelle. "Natürlich muss man immer wissen, wo die Grenzen liegen. Bei Patienten, die durch die Migräne stark eingeschränkt sind, sollte ein Riechtraining nicht die alleinige Methode sein", so die Expertin. "Aber zum Beispiel bei Kindern und Jugendlichen nutzen wir diese Option oft und erfolgreich."

Grundsätzlich wichtig bei Kopfschmerz: das eigene Verhalten. "Die beste Therapie wird immer so aussehen, dass man mitarbeiten muss oder besser mitarbeiten darf", so Dagny Holle-Lee. Auf individuelle Auslöser achten, Entspannungstechniken und Sport sind wesentliche Bausteine, um vorzubeugen. "Ein Stück weit muss jeder zum Experten seiner Erkrankung werden", sagt Dagny Holle-Lee und warnt gleichzeitig: "Auch wenn man sich perfekt verhält, heißt es nicht, dass man keine Kopfschmerzen hat." Das bedeutet auch: "Niemand, der Kopfschmerzen hat, hat etwas falsch gemacht."

Diesen Vorwurf machen sich nicht nur die Betroffenen, die eine Attacke oft als eigenes Versagen werten, sie hören ihn auch aus ihrem Umfeld. "Aussagen wie ‚Warum machst du nicht dies oder jenes? Dann wäre die Migräne doch weg‘ suggerieren, man wäre schuld an seiner Erkrankung", sagt die Neurologin Dagny Holle-Lee. Die Scham und der Druck, sich zu rechtfertigen, steigen und drehen die Schmerzspirale weiter. Umgekehrt zeigen Untersuchungen: Wer sich von seinem Umfeld verstanden und unterstützt fühlt, hat weniger Beschwerden.

Letztlich bleibt es so: Einen Ausschalter gibt es nicht. Mit Kopfschmerzen müssen wir leben, aber sie trotzdem nicht einfach aushalten. Wir haben immer mehr Möglichkeiten, sie zu behandeln und vorzubeugen. Und wir alle – auch die Nicht-Betroffenen – können dazu beitragen, wenn nicht gut, dann zumindest besser mit ihnen zu leben.

Unsere Expert:innen

Prof. Dr. Dagny Holle-Lee leitet das Westdeutsche Kopfschmerz- und Schwindelzentrum der Universitätsmedizin Essen und ist Autorin, u. a. "Diagnose Kopfschmerz und Migräne" (Herbig)

Dr. Gudrun Gossrau leitet die Kopfschmerzambulanz des Uniklinikums der TU Dresden und ist Vizepräsidentin der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft

Dr. Stefanie Förderreuther ist Oberärztin an der Neurologischen Klinik der LMU München und eine der federführenden Autor:innen der aktuellen Migräne-Leitlinie

Brigitte

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