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Vergesslichkeit Darum ist es normal, Dinge zu vergessen

Frau mit geschlossenen Augen
© Uncanny Valley / Adobe Stock
Du erinnerst dich nicht an den Namen deines Lieblingslehrers? Das ist kein Grund zur Sorge, sondern dein Gehirn, das sich von Ballast befreit. Denn das Vergessen, so die Wissenschaft heute, ist kein Versagen, sondern ein aktiver, lebenserhaltender Prozess.

Wo ist bloß mein Schlüssel? Ohje, da liegt noch das Pausenbrot vom Kind. Hab ich wohl vergessen einzupacken. Und was wollte die Kollegin heute mit mir besprechen? An manchen Tagen scheint uns unser Gedächtnis völlig im Stich zu lassen. Und nicht selten denkt man dann: Ist das noch normal? Ja, sagt Professor Magdalena Sauvage. Die Neurowissenschaftlerin beschäftigt sich am Leibniz-Institut für Neurobiologie Magdeburg mit Gedächtnisbildung – und darum auch mit dem Vergessen. "Dinge zu vergessen ist sogar sehr wichtig“, sagt sie. Vor allem unser Kurzzeitgedächtnis leert seinen Speicher ständig. Nur ungefähr sieben Dinge können wir uns dort gleichzeitig merken, heißt es. Und nach spätestens 30 Sekunden wird alles gelöscht. So ist das Aktuelle immer präsent. Deshalb vergessen wir das Pausenbrot einzupacken, wenn wir in der Morgenroutine von Fragen der Familie unterbrochen werden. Die Fragen gehen rein ins Kurzzeitgedächtnis, das Pausenbrot fliegt raus.

Lange hatte das Vergessen einen schlechten Ruf, galt gar als eine Störung. Das Gehirn sollte vor allem eins tun: so viele Dinge wie möglich speichern, um sie im geeigneten Moment abzurufen. Mittlerweile belegen moderne Bildaufnahmen und aufwendige Laborstudien, dass Vergessen weniger ein Verlust von Informationen ist, sondern vielmehr der zentralen Ordnung dient: Um leistungsfähig zu bleiben, muss unser Gehirn seine Inhalte ständig umsortieren und Nützliches von Unnützem unterscheiden. "Es behält ganz selektiv nur die Informationen, die für unser persönliches Leben wirklich wichtig sind – und verwirft all das, was wir nicht brauchen“, erklärt Sauvage. Oder nimmt sie gar nicht erst bewusst wahr: Elf Millionen Sinneseindrücke verarbeitet das Gehirn pro Sekunde. Wir fühlen, riechen, sehen, hören, schmecken. Es ist ein bisschen wie mit dem gut sortierten Kleiderschrank. Da bedarf es auch regelmäßig des offenen Blicks, was noch drinhängen soll und was gehen darf. Ohne diesen Reinigungsprozess wären unsere grauen Zellen bald überfordert; Denkprozesse würden merklich an Geschwindigkeit einbüßen. Genau darum ist das Vergessen heute ein Forschungsgebiet, für das sich Wissenschaftler*innen zunehmend interessieren, um unser Gehirn besser zu verstehen.

Aber welche Inhalte bleiben am ehesten im Gedächtnis, liegen also griffbereit im Kleiderschrank? "Um eine Erinnerung wirklich dauerhaft zu formen, müssen möglichst viele synaptische Kontakte gebildet werden, etwa durch emotionale Verknüpfungen oder Wiederholungen“, so die Gedächtnisforscherin. Wie das funktioniert? Jede Nervenzelle hat viele Enden (Dendriten). Die verbinden sich mit anderen Nervenzellen über sogenannte Synapsen. Dieser Verbund reagiert gemeinsam auf Reize – und wird umso stärker, je häufiger er zusammen stimuliert wird. Wiederholungen schaffen darum besonders starke Erinnerungen, genau wie Emotionen. Der erste Kuss ist für viele unvergesslich. Der Traumurlaub. Aber eben auch der Autounfall, der uns in Angst und Schrecken versetzte. Auf der anderen Seite erklärt sich so, dass alles, was wir nur nebenbei mitbekommen oder langweilig finden, nur sehr schlecht im Gedächtnis haftet. "Starke Erinnerungen sind ein guter Hinweis auf starke Nervenverbindungen", so sagt es Professor Sauvage.

Wenn man nicht vergessen kann...

Eine Garantie aufs dauerhafte Erinnern bedeuten noch so starke Verbindungen aber auch nicht: "Sogar, wenn wir nur die Dinge erinnerten, die uns einmal bewegt haben oder wichtig waren, würde die Kapazität des Gehirns nicht reichen“, sagt Magdalena Sauvage. Deshalb räumt unser Hirn ständig auf und aus – und so vergessen wir vielleicht sogar Situationen, die uns über Jahre hinweg sehr deutlich im Gedächtnis waren. Wie es das macht? Anscheinend ist es ein Protein, das den Vorgang des Vergessens aktiv fördert und steuert: das sogenannte Musashi-Protein, das Wissenschaftler:innen der Universität Basel 2014 bei Experimenten mit Fadenwürmern entdeckten. Musashi schwächt die Verbindungen zwischen den Nervenzellen – und damit das Erinnerungsvermögen. Die Würmer, die kein Musashi hatten, weil für das Experiment das für die Produktion zuständige Gen ausgeschaltet worden war, zeigten sich im Anschluss weniger vergesslich als die Kontrollgruppe: Sie konnten nach einer Lernphase Futter deutlich besser orten.

Gegenspieler von Musashi ist Adducin, ein Eiweiß, das wiederum Verbindungen zwischen den Nervenzellen festigt. Die These der Forscher: Das Gleichgewicht zwischen diesen beiden Proteinen entscheidet, wie lange wir Informationen behalten. Na klar ging es in der Forschung erst mal um Würmer, aber womöglich ist es so: Wenn Ihnen einfach nicht mehr einfällt, wie Ihr Lieblingslehrer aus der Grundschulzeit hieß, war Ihr Musashi-Protein aktiv.

Aber wünschen Sie sich in solchen Momenten besser nicht Adducin im Überfluss oder gar ein unbestechliches, alles speicherndes Gedächtnis. Denn es ist sehr unangenehm, wenn das Vergessen nicht so richtig funktioniert. Das kann man an Menschen beobachten, bei denen Erlebnisse und Eindrücke nicht gelöscht werden. Sie haben oft ganz grundlegende Schwierigkeiten, im Leben zurechtzukommen. Personen mit einem "hyperthymestischen Syndrom", die sich durch ein extrem ausgeprägtes Gedächtnis an jeden Moment in ihrem Leben erinnern, leiden darunter, dass auch die Erinnerung an jedes unangenehme und traurige Detail niemals verblasst. Oder Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung, kurz PTBS: Sie bekommen eine Sequenz schrecklicher Sekunden oder Minuten nicht mehr aus dem Gedächtnis. Für viele ein unerträglicher Zustand, sagt Gedächtnisforscherin Sauvage: "Emotionale Kleinigkeiten holen bei ihnen das Trauma immer wieder vor. Wenn die Vögel sangen, als die Bomben fielen, erleben sie bei jedem Vogelgezwitscher einen neuen Bombenhagel."

Für PTBS-Betroffene ist aktives Vergessen Teil der Therapie: Sie lernen, mit dem Reiz, der vorher das Trauma aktivierte, etwas anderes, emotional Neutrales zu verbinden. Die alte Erinnerungsverbindung wird aufgelöst, sozusagen aktiv vergessen. In der Fachwelt heißt dies Extinktionslernen (lateinisch exstinguere = auslöschen).

Das Gehirn anregen und Platz für Neues schaffen

Egal also, ob es sich um das Vergessen oder das Erinnern dreht – immer ist das Gehirn aktiv gefordert. Neue Reize regen es an, sich wieder und wieder zu sortieren und entweder eine Erfahrung stärker im Gedächtnis zu verankern oder einen Gedächtnisinhalt loszulassen.

"Keep the machine going", empfiehlt Sauvage allen, die ihr Gehirn fit halten wollen. Denn am Ende zählt die Flexibilität. Jeder Umbau im Gehirn stärkt das gesamte System. Wenn wir eine Sprache lernen und darüber Mathe aus der Schule vergessen, haben wir trotzdem insgesamt unser Hirn gestärkt. Interessanterweise können einmal aufgebaute Nervenstrukturen später auch für andere Gedächtnisinhalte genutzt werden. Was im Kleiderschrank liegt, verändert sich also zeitlebens. Und es ist völlig okay, dass manches verschwindet. Denn nur so entsteht Raum für Neues.

Brigitte

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