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Sind wir alle eingebildete Kranke?

Sind wir alle eingebildete Kranke?
© iStock/Thinkstock
Viele Menschen meiden bestimmte Lebensmittel. Leiden sie wirklich an Unverträglichkeiten oder sind sie hysterisch? Ein Vermittlungsversuch.

Bevor wir auf den Bauch hören, beginnen wir mit den Zahlen: 20 bis 40 Prozent der Deutschen glauben, allergisch auf Lebensmittel zu reagieren; bei nur drei bis vier Prozent der Erwachsenen ist dies tatsächlich diagnostiziert. Gut, mancher verwechselt vielleicht Allergie und Unverträglichkeiten - und letztere sind teilweise tatsächlich etwas häufiger.

Der Konsum gluten- und laktosefreier Produkte aber ist geradezu explodiert: 54,2 Millionen wurden hierzulande 2012 für glutenfreie Waren ausgegeben, gut 14 Millionen mehr als 2010, in den USA essen bereits 28 Prozent der Erwachsenen kaum oder kein Gluten mehr; an einer Glutenunverträglichkeit (Zöliakie) leiden aber nur bis zu ein Prozent. 2007 kauften 6,5 Prozent der deutschen Haushalte laktosefreie Erzeugnisse, fünf Jahre später knapp 18 Prozent, allein 2012 stieg der Umsatz um 20 Prozent; der Anteil der Bevölkerung, der Milchzucker (Laktose) nicht verdauen kann, ist dagegen seit Jahrhunderten konstant.

Sind wir also alle hysterisch? "Insgesamt kann man sagen: Die subjektiven Einschätzungen, dass ich Unverträglichkeiten habe, sind viermal so hoch wie das, was Mediziner diagnostizieren", so der Ernährungspsychologe Christoph Klotter, Professor an der Hochschule Fulda. Wenn wir Sätze hören wie "Ich vertrage XY nicht (mehr)" oder "Seit ich XY weglasse, geht es mir viel besser", ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie keine objektive Grundlage haben, also größer, als dass sie wirklich zutreffen. Warum das so ist? Drei Antworten.

1. Beschwerden gibt es auch ohne Diagnose

Nahrungsmittel können viele Probleme machen: Es gibt Allergien, Pseudoallergien, Unverträglichkeiten, Autoimmunkrankheiten (siehe unten). Noch größer ist das Heer potenzieller Auslöser: Unsere Ernährung ist vielfältig, immer wieder kommen neue exotische Speisen hinzu, in vielen industriell verarbeiteten Produkten lauern zudem Zusatzstoffe.

Ein medizinischer Test findet aber nur das, wonach er sucht. Manche Auslöser lassen sich tatsächlich nur durch langwieriges Protokollieren von Ernährung und Beschwerden einkreisen. Die Symptome sind außerdem oft diffus, individuell unterschiedlich (Hautunreinheiten, Kopfschmerzen, Übelkeit, Müdigkeit, Durchfall etc.) oder treten erst verzögert auf. Noch komplizierter wird die Diagnostik, weil auch unser aktuelles Ernährungsverhalten Einfluss nimmt.

Wer bereits auf Gluten verzichtet, bei dem kann Zöliakie unter Umständen gar nicht mehr sicher festgestellt werden. Und wer längere Zeit laktosefreie Produkte zu sich nimmt, entwickelt eventuell gar eine Intoleranz, weil sich die Darmflora verändert. "Mit dem Urteil, dass Menschen sich Unverträglichkeiten einbilden, sollte man immer vorsichtig sein", sagt Psychologe Klotter. "Es kann ja sogar sein, dass der medizinische Fortschritt irgendwann noch andere Unverträglichkeiten feststellt."

Aktuell wird etwa über FODMAPs geforscht, das sind Zuckermoleküle. Offensichtlich vertragen manche Menschen mit Reizdarmsyndrom genau diese Moleküle nicht; zumindest geht es ihnen besser, wenn sie auf FODMAPs verzichten. Ein Test existiert dafür aber bisher nicht. Und ob es neben der echten Zöliakie auch eine so genannte Gluten-Sensitivität gibt, wird aktuell in Fachkreisen diskutiert.

Für die Ernährungstherapeutin Imke Reese ist die Frage, ob es immer schwarz auf weiß eine Diagnose für die Beschwerden gibt, nicht die wichtigste. Entscheidender sei, dass es den Menschen besser gehe. In ihrer Münchener Praxis arbeitet sie deswegen vor allem symptomorientiert. "Häufig haben die Menschen nämlich gar keine Krankheit. Ihre Verdauung funktioniert eigentlich gut bzw. sie würde es, wenn denn das Essverhalten stimmt", sagt sie. Mit Tagebüchern kommt Reese typischen Ernährungsfehlern oft schnell auf die Spur: Zu wenig Fett, zu wenig Ballaststoffe oder zu viel Obst etwa bereiten selbst dem tolerantesten Darm Probleme.

Weil viele Betroffene aber meinen, sich gerade auf diese Weise besonders gesund zu ernähren, führen sie ihre Beschwerden dann fälschlicherweise auf bestimmte Stoffe in der Nahrung zurück. "Selbstdiagnosen sind der Versuch, den vorhandenen Beschwerden einen Namen zu geben und eine Richtung zu bestimmen, um aktiv etwas tun zu können", erklärt Reese.

Fazit: Dass bisher keine Diagnose gestellt werden konnte, heißt nicht, dass es keine gibt. Und selbst ohne Unverträglichkeit kann ein verändertes Essverhalten die Lösung des Problems sein.

2. Bauchschmerz ist Bauchschmerz

Im April 2014 wurden in Hamburg gut 30 Gymnasiasten mit Übelkeit, Kopfschmerzen und Schwindel ins Krankenhaus eingeliefert - angeblich hatten ältere Schüler ihnen während des Abi-Streichs Alkohol in die Getränke gemischt. Allerdings fanden Ärzte dann gar nichts im Blut der Kinder, sondern diagnostizierten eine Massenhysterie, vermutlich ausgelöst durch die Durchsage der Schulleitung, man habe Alkohol und Drogen gefunden.

Was das bedeutet? Erstens: Die Kindern bildeten sich nicht ein, dass ihnen übel war, ihnen war übel. Zweitens: Beschwerden sind ansteckend. Wenn es anderen schlecht geht, werde ich sensibler, und Aufmerksamkeit oder gar Angst verstärken mein Empfinden. Solche Nocebo-Effekte spielen auch beim Essen eine Rolle. Forscher aus Italien konnten nachweisen, dass schon Traubenzucker, den Versuchspersonen für Milchzucker hielten, Blähungen auslösen kann. Die Symptome sind für die Betroffenen immer real.

Schmerzen werden weniger, wenn wir uns ablenken, und nicht, indem wir ihnen immer weiter nachfühlen.

Nicht korrekt ist lediglich die Diagnose, die sie sich selbst geben. "Die Medien berichten so viel über Beschwerden, da ist es doch logisch, dass ich auch mal in mich hineinspüre", sagt Reese. Hineinspüren, Achtsamkeit - das ist ja eh gerade angesagt. Dabei ist auch das Gegenteil manchmal ganz gesund: Schmerzen werden weniger, wenn wir uns ablenken, und nicht, indem wir ihnen immer weiter nachfühlen. Begleitet wird der Trend zur Innerlichkeit natürlich vom Wunsch, den Körper zu optimieren. Bauchweh oder Blähungen sind nichts, was wir hinnehmen oder uns wie zu Luthers Zeiten sogar gönnen.

Jede Abweichung wird registriert, pathologisiert und nach Möglichkeit kontrolliert. Dass wir immer weicher werden, ist also nur die halbe Wahrheit: weicher in unserer Empfindsamkeit, ja, aber gleichzeitig härter darin, diese Empfindungen zu dulden - also gegen uns selbst. Und wenn man dann etwas vom Speiseplan streicht?

Oft geht es uns nun schon deshalb besser, weil wir uns so bewusster, gesünder und nicht zuletzt maßvoller ernähren. Und wiederum unterstützen Placebo-Effekte das Wohlbefinden. In einer Untersuchung nahmen die Beschwerden von Menschen bereits ab, wenn sie nur glaubten, glutenfrei zu essen. Hat man doch so das Gefühl, sich etwas Gutes zu tun. Ein Leben ohne Gluten oder Laktose ist sicher nicht per se gesünder. Aber seit auch immer mehr Promis wie Gwyneth Paltrow oder Lady Gaga von ihrer "life-changing diet" schwärmen, sind die Heilserwartungen enorm. Wer seinem Star nahe sein will, dessen Körper ist sicher schlau genug, die passenden Empfindungen - "auch mir geht es seitdem viel besser" - zu liefern.

Fazit: Niemand bildet sich Beschwerden ein. Nur bezüglich ihrer Ursache können wir uns (und anderen) etwas vormachen. Aber wenn es jemandem damit bessergeht - warum nicht?

Die häufigsten Ernährungskrankheiten

3. Ich esse, also bin ich

Wenn man die Geschichte der Menschheit als Ganzes betrachtet, leben wir im Paradies: Wir haben hierzulande immer genug zu essen. "Deswegen können wir zum ersten Mal wirklich darauf achten, was genau wir eigentlich essen", so Prof. Klotter. "Damit betritt das Individuum die Bühne."

Wir essen nicht mehr, um satt zu werden - das sind wir eh -, wir arbeiten an unserem Selbstbild, wir individualisieren, wir inszenieren uns. "Ich bin Veganer, Aprikosen tun mir nicht gut, wenn ich nach 18 Uhr Graubrot esse, kann ich nicht schlafen - das alles gehört zur Darstellung meines Ichs in der Öffentlichkeit", so Klotter. Natürlich definieren wir uns in Zeiten des Überflusses besonders trennscharf über den Verzicht - und der hat als quasi schicksalhafte Unverträglichkeit ungleich mehr Gewicht denn als selbst gewählte geschmackliche Vorliebe.

Beim Essen geht es immer auch um die Vorstellung vom guten und richtigen Leben.

"Die Essmoral ist der Ursprung aller Moral", sagt Soziologin Eva Barlösius. "Beim Essen geht es immer auch um die Vorstellung vom guten und richtigen Leben." In diesem Sinne ist "Ich esse XY nicht" niemals nur eine persönliche Aussage, sondern immer auch eine über die, die XY essen. Die, die alles vertragen, die gedankenlos alles in sich hineinschaufeln, Fressmaschinen. "Ich selbst kann in Sachen Unverträglichkeit mit nichts aufwarten", erzählt Klotter. "Da fühlt man sich auf eine ungewöhnliche Weise normal. Als wäre man nicht nur beim Essen, sondern insgesamt völlig undifferenziert."

Eine Nahrungsmittel-Unverträglichkeit ist da wie ein Kleid, das man überstreift, um die eigene Empfindsamkeit zu demonstrieren und sich abzugrenzen gegenüber der unsensiblen Masse. Aber ist es nicht schlicht narzisstisch, sich ständig mit dem eigenen Essverhalten zu beschäftigen? Nein die Selbstbezogenheit steht eher für eine verzweifelte Rettungsaktion. "Es ist die Antwort auf eine unübersichtliche Welt", sagt Klotter. "Wenn wir aufhören, die Welt zu verstehen, müssen wir uns auf unseren übersichtlichen Körper zurückbesinnen. Er ist die letzte Bastion, von der wir hoffen, sie kontrollieren zu können."

Je schwerer es fällt, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, desto tröstlicher kann es sein, zumindest laktosehaltig eindeutig von laktosefrei zu trennen - vorausgesetzt natürlich, man misst dieser Differenzierung eine ähnliche Bedeutung bei. Aus der Psychologie ist bekannt, wie wichtig das Gefühl von Kontrolle für unser Wohlbefinden ist. Insofern sind Menschen, die für sich herausgefunden haben, was sie vertragen und was nicht - egal, ob das im medizinischen Sinne stimmt - am Ende vielleicht sogar glücklicher als andere. Und was wäre daran schlimm, wenn es ihnen deswegen schließlich auch körperlich bessergeht, weil es - Laktose hin oder her - nämlich einfach guttut, etwas in den Griff bekommen zu haben?

Problematisch werden natürlich Extreme: wenn wir die Aufmerksamkeit, die wir für uns selbst haben, auch von anderen einfordern und gleichzeitig unaufmerksam werden gegenüber anderen. Vom Aufschrei "Ihr wisst doch, dass ich XY nicht mehr vertrage!", der das gemeinsame Essen sprengt, sind die Tischnachbarn darum völlig zu Recht genervt. Außerdem kann das Bedürfnis nach Kontrolle zum Wahn werden. Wer nicht anerkennt, dass wir unsere Gesundheit und unseren Körper nie komplett im Griff haben können, wird auch ernste Krankheiten stets als persönlichen Fehler werten. Doch nur wer sie akzeptiert, kann auch mit ihnen gut leben. Und natürlich kann die Kontrolle uns selbst kontrollieren. Es gibt Menschen, für die entscheidet, was sie essen oder nicht, über Leben und Tod. Ihnen bleibt keine andere Wahl, als genau zu selektieren, was ihnen auf den Teller kommt. Natürlich hat darüber hinaus prinzipiell jeder das Recht auf jede persönliche Essregel. Aber wenn wir uns für zu viel Kontrolle entscheiden, werden wir nicht unbedingt glücklicher, sondern vor allem unfrei.

Fazit: Was wir (nicht) essen, ist Teil unseres Selbstbilds und unserer Auseinandersetzung mit der Welt. Allerdings wird unser Zusammenleben dadurch nicht einfacher. Aber was spricht eigentlich gegen ein bisschen mehr Toleranz - wenn nicht auf dem eigenen Teller, dann zumindest untereinander?

Text: Antje Kunstmann BRIGITTE 17/2014

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