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Knibbeln, kratzen, kauen Ist "Skin Picking" harmlos oder ein psychisches Problem?

Knibbeln, kratzen, kauen: Ist "Skin Picking" harmlos oder ein psychisches Problem?
© Katarina / Adobe Stock
Pickel aufkratzen, Nägel kauen – das machen viele. Aber wann wird aus einer schlechten Angewohnheit ein psychisches Problem? Skin Picking-Expertin Christina Gallinat erklärt es im Interview.

BRIGITTE: Manchmal stehe ich vor dem Spiegel und drücke an einem Pickel herum, bis es blutet. Ist das Skin Picking?

CHRISTINA GALLINAT: Man muss hier unterscheiden zwischen Skin Picking, dem Bearbeiten der eigenen Haut, und der Skin Picking-Störung, auch Dermatillomanie genannt, einer anerkannten psychischen Krankheit. Die Frage ist, ob das Verhalten, das an sich völlig normal ist, in einem belastenden Ausmaß auftritt.

Können noch andere schlechte Angewohnheiten, wie zum Beispiel an den Fingernägeln zu kauen, zur psychischen Störung werden?

Ja, denn auch solche Verhaltensweisen können extreme Ausmaße annehmen. Skin Picking und Nägelkauen sind eng verwandt und gehören zu den körperbezogenen repetitiven – also sich wiederholenden – Verhaltensweisen. Dazu zählen unter anderem auch noch Haareausreißen, Wangenkauen und Lippenbeißen. Die Betroffenen schämen sich und leiden unter Schuldgefühlen, einem niedrigen Selbstwertgefühl und unter dem beeinträchtigten Hautbild.

Ab wann werden diese Verhaltensweisen zur Krankheit?

Es gibt drei wichtige Kriterien. Erstens: Tritt das Verhalten immer wieder auf und entstehen dadurch Verletzungen? Zweitens: Ist es noch kontrollierbar – kann die Person also aufhören, wenn sie das möchte? Und das Wichtigste: Verursachen das Verhalten und seine Folgen psychisches Leid und Einschränkungen im beruflichen und sozialen Leben sowie im Alltag? Die Betroffenen schämen sich und leiden unter Schuldgefühlen, einem niedrigen Selbstwertgefühl und unter dem beeinträchtigten Hautbild.

Kann ich mir das Verhalten nicht einfach abtrainieren?

Eine Skin Picking-Störung und verwandte Störungsbilder sind nicht einfach schlechte Angewohnheiten, sondern komplexe psychische Störungen. Betroffene können nicht einfach aufhören, wie es häufig von ihnen verlangt wird. Das Verhalten tritt oft automatisch und unbewusst auf. Das kann zum Beispiel bei passiven Tätigkeiten der Fall sein, beim Arbeiten am Laptop oder Fernsehschauen. Beim Skin Picking wandert die Hand dann ins Gesicht, an den Nacken oder Rücken, sucht nach Unebenheiten und fängt an zu kratzen.

Aber warum verletze ich mich, wenn ich es gar nicht will?

Die Schäden an der Haut sind ein ungewolltes Nebenprodukt. Skin Picking erfüllt verschiedene Funktionen, vor allem im Bereich der Spannungs- und Emotionsregulation. So kommt es häufig bei Anspannung, Stress, Angst oder Unruhe zum Skin Picking. Es tritt aber auch bei Langeweile auf, hier kann das Verhalten stimulierend oder anregend wirken. Es wird als entspannend und befriedigend erlebt und hilft, auch durch Ablenkung, mit schwierigen Gefühlen umzugehen. Dazu kommt der Druck des Schönheitsideals einer makellosen Haut.

Wie und wann beginnt eine Skin Picking-Störung?

Meist in der Pubertät, oft mit einer Akne. Hier kann sich das Verhalten einschleichen. Auch mit Hauterkrankungen einhergehender Juckreiz kann dazu verleiten. Dazu kommt der Druck des Schönheitsideals einer makellosen Haut.

Welche weiteren Ursachen gibt es?

Bestimmte körperbezogene repetitive Verhaltensweisen scheinen zum Teil biologisch angelegt zu sein. Interessanterweise ist auch bei einigen Tieren unter Stress eine exzessive Fellpflege zu beobachten, die zu Wunden und offenen Stellen führt. Diese Verhaltensweisen erfüllen scheinbar eine regulative Funktion für das Nervensystem. Außerdem weisen erste Untersuchungen auch auf eine genetische Veranlagung der Skin Picking-Störung hin.

Erkranken mehr Frauen oder mehr Männer?

Es wird davon ausgegangen, dass 60 bis 90 Prozent der Betroffenen weiblich sind. Aber gleichzeitig werden psychische Erkrankungen bei Männern häufig unterschätzt, denn sie suchen nicht so oft Hilfe, nehmen seltener an Studien teil und fliegen deshalb unter dem Radar. Angenommen wird, dass insgesamt etwa fünf Prozent der Bevölkerung unter einer körperbezogenen repetitiven Verhaltensstörung leiden.

Ist es eine häufige Krankheit?

Aktuell geht man davon aus, dass etwa ein bis drei Prozent der Erwachsenen im Leben an Dermatillomanie erkranken. Selten ist es also nicht. Von Trichotillomanie, dem pathologischen Haareausreißen, sind ein bis zwei Prozent betroffen. Zum pathologischen Nägelkauen und ähnlichen Verhaltensstörungen gibt es leider keine wirklich verlässlichen Zahlen. Angenommen wird, dass insgesamt etwa fünf Prozent der Bevölkerung unter einer körperbezogenen repetitiven Verhaltensstörung leiden.

Was kann ich tun, wenn ich betroffen bin?

Viel. Vor allem: sich informieren. Verstehen, dass es anderen genauso geht, dass das Verhalten Ursachen hat. Eine Selbsthilfegruppe besuchen. Sich selbst beobachten: Wann tritt das Verhalten auf? Welche Funktionen hat es? Was sind Auslöser? Wie gehe ich mit mir und meinen Emotionen um? Man kann auch bestimmte Selbsthilfetechniken ausprobieren. Ist man durch das Verhalten psychisch belastet, sollte man aber nicht zögern, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Und was hilft, wenn das Verhalten tatsächlich nur eine schlechte Angewohnheit ist?

Erst mal das Gleiche: sich informieren und sich selbst genau beobachten, um das Verhalten zu verstehen. Dann kann man versuchen, Auslöser und Risikosituationen zu verändern. Hilfreich kann bei Skin Picking sein, das Licht im Bad zu dimmen, auf Vergrößerungsspiegel zu verzichten oder beim Arbeiten am PC dünne Baumwollhandschuhe zu tragen. Die Hände bei körperlich passiven Tätigkeiten mit Handarbeiten oder einem Antistressball zu beschäftigen, ist auch eine gute Möglichkeit. Zudem kann man üben, anders mit Anspannung umzugehen, etwa mit Entspannungs- oder Atemtechniken. Es gibt nicht die eine Lösung. Wichtig ist, dass man das findet, was zu einem passt, und die Strategien an den eigenen Bedürfnissen ausrichtet. 

Dr. Christina Gallinat ist Psychologin und forscht am Universitätsklinikum Heidelberg zu Dermatillomanie. Auf ihrer Homepage, in ihrem Podcast und ihrem Instagram-Kanal gibt es viele Infos zum Thema (skinpicking-trichotillomanie.de, @bfrb.care).

Brigitte

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