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Kopfkarussell Sind wir alle Gesundheitsapostel – und wenn ja, ist das noch gesund?

Kopfkarussell: Sind wir alle Gesundheitsapostel – und wenn ja, ist das noch gesund?
© Luna Vandoorne / Shutterstock
Vollkorn statt Popcorn, Mozzarella statt Nutella, Gehirnjogging statt Ecstasy. Kein Zucker, aber dafür umso mehr Sport. Macht das Leben eigentlich auch Spaß, oder ist alles nur noch Selbstkontrolle?

Ungefähr so wie den Fitness-Platz an der Hamburger Alster stelle ich mir die Vorhölle des Homo Optimus vor: An Geräten, die mittelalterlichen Folterinstrumenten wie Streckleiter und Spanischer Bock nachempfunden sind, herrscht kollektives Schuften und Stöhnen. Diszipliniert bis zum Anschlag absolvieren durchtrainierte Menschen hängend und hopsend masochistische Fitness-Choreografien. Vielleicht macht ihnen Spaß, was sie da tun, aber für mich sieht es nicht danach aus.

Sind wir noch gesundheitsbewusst oder schon zu bedauern?

Kann es sein, dass wir immer mehr von unserem Leben auf dem Altar der Gesundheitsgötter opfern – vom Workout, der jedes Mal das Schlachten eines Schweinehunds erfordert, bis zum alljährlichen Fasten? Und wer isst noch Süßes ohne Skrupel? Solche Menschen sind zumindest in meiner Welt so rar wie jene, die aus Freude an der Bewegung joggen. Wir schwitzen nicht, weil wir uns wohlig in der Sonne aalen (Achtung, UV-Strahlung!), sondern beim Strampeln für die Fitness-Götter - ausgestattet mit Gerätschaften, die unsere Körperfunktionen tracken, als wären wir Verbrennungsmotoren und keine Wesen aus Fleisch und Blut.

Sind wir noch gesundheitsbewusst oder schon zu bedauern? Ich jedenfalls tue mir den Stress an und presse dreimal wöchentlich Sport in meinen Alltag. Ich verzichte auf Süßes und Fettiges oder schlinge es schnell im Dunkeln hinunter, im albernen Versuch, die Kalorien an meinem Körper vorbeizumogeln, bevor er was davon mitkriegt. Und ich fühle mich schlecht, wenn ich Alkohol trinke, der ja nun auch als krebserregend entlarvt wurde. Wie schön und leider vergangen die Zeiten, in denen uns eingeredet wurde, dass „ein gutes Glas Wein“ noch niemandem geschadet habe. 

Wo bleiben Euphorie und Ausschweifung?

Selbstdisziplin, Selbstkasteiung, Naschskrupel - das geben wir auch den Kindern mit. Mein 16-Jähriger sitzt in den Sommerferien am Computer, informiert sich über gesunde Ernährung und notiert seine Erkenntnisse auf Post-its, die er als Reminder über seinen Schreibtisch klebt. Er ist fast komplett runter von Süßigkeiten, von Fleisch sowieso. Alkohol lehnt er ab, Rauchen auch, und darüber bin ich sehr froh. Aber in einem Alter, in dem ich am Tag eine halbe Packung Zigaretten durchgezogen habe und meine Mutter zum Mittagessen eine Ravioli-Dose öffnete, weil das modern und zeitsparend war (die gewonnene Zeit konnte man für Unterhaltsameres als fürs Kochen nutzen), sagt mein Sohn: Für mich keine Cola, die ist ungesund. Und nein, er ist kein Weirdo, er ist ganz normal und hat Freunde. Aber hat er auch Spaß? Und wer hat den eigentlich noch? Auch, wenn das Schöne im Leben nicht an Zucker und Zigaretten hängt: Wo bleibt das Ausprobieren, der Überschwang, die Euphorie, die Grenzüberschreitung? 

Andererseits kein Wunder, dass schon Kinder zu Gesundheitsaposteln werden, die sich ihre Lust auf Cola verkneifen, wenn sie von speckigen Babybeinchen an die Zuckerwarnungen ihrer Eltern hören und später von Influencer:innen Buddha Bowls und Bulgurburger serviert bekommen. Selbst in Kaugummiautomaten, diesen rostigen Relikten aus kulinarisch sorgloseren Zeiten, finden sie heute keine bunten Chemiekugeln mehr, sondern zumindest in unserem Viertel: Bienenblumensamen. 

Bedenken überall - wo kommen wir da hin?

All diese Entwicklungen, die uns zu gesundheitsbewussten Menschen machen, sind gut, oder sagen wir besser: gesund. Aber wir sollten schauen, dass wir bei der ganzen Arbeit an unseren Optimierungsleibern nicht die Lebensfreude verlieren. Zumal Corona nochmal dazu beigetragen hat, die Selbstkontrolle hochzufahren und alles Ausschweifende im Keim zu ersticken. Mehr denn je haben wir die letzten eineinhalb Jahre zu spüren bekommen, was es heißt, aus Angst vor dem Tod auf Leben zu verzichten. Die Philosophin Thea Dorn sagte dazu: „Wir begeben uns zunehmend in einen Imperativ, alles zu tun, um möglichst lange gesund zu leben“, und stellte die spannende Frage:

Wenn wir uns die ganze Zeit in Acht nehmen, was bleibt dann noch übrig von dem, was unser Leben wertvoll und sinnvoll macht?

Ja, was bleibt dann noch übrig? Vielleicht nicht viel, denn auch die Wissenschaftlerin Barbara Vinken diagnostiziert eine „dysphorische Zeit.“ Wo früher Lebenslust war, machten sich zunehmend Bedenken breit. Deshalb zögen wir etwa auch den Badeanzug dem Bikini vor: „Wir haben Angst vor der Sonne, wir haben Angst vor den Blicken des anderen." Ich möchte hinzufügen: Wir haben Angst vor Zecken, Zucker, Wein und Weißmehl. Doch die Fixierung auf das scheinbar Schädliche macht uns nicht froh - und vielleicht sogar krank. Außerdem haben selbst wir superprivilegierten Europäer:innen mit Klimakatastrophe und Pandemie inzwischen genug echte Probleme, dass uns der Weißmehlgehalt der Waffeln beim Schulfest so egal sein kann, wie er ist.

Wer noch weitere Argumente für mehr Waffeln und Lebensfreude braucht: Schon im 19. Jahrhundert beschäftigte sich die Wissenschaft damit, wie unsere Körper leistungsfähiger werden, damit wir produktiver arbeiten können, wissen Historikerinnen wie Yvonne Robel zu berichten. Im Zuge dessen haben sie auch die Kalorie erfunden. Gut für den Hinterkopf: Unsere freudlosen Gesundheitsbestrebungen dienen immer auch ökonomischen Interessen.

Quellen: heute journal, Deutschlandfunk, WHO Europa

Brigitte

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