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Seltene Krankheiten Zusammen sind es viele, trotzdem ist jeder allein

Seltene Krankheiten: Zusammen sind es viele, trotzdem ist jeder allein
© Gumpanat / Shutterstock
Seltene Krankheiten sorgen nicht nur bei Betroffenen, sondern oft auch bei Ärzten für Ratlosigkeit. Drei Frauen berichten von ihrer Odyssee durch Praxen und Kliniken.

Inhaltsverzeichnis

Morbus Fabry: "Sie werden irre als Patientin"

Helene Kolwe*, 48, hat immer ein gutes Gefühl für ihren Körper gehabt. Sie war lange Leistungssportlerin: Bis Mitte 30 fuhr sie Radrennen, später wurde sie Trainerin für Sommerski. Umso erstaunter war sie, als sie bemerkte, dass sie plötzlich nicht mehr so leistungsfähig war, immer wieder wurde ihr schwindelig. Aus heiterem Himmel bekam sie eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse, ohne jedoch die Schmerzen zu haben, die für diese Krankheit typisch sind.

Irgendwann kam ihr Puls nach dem Sport gar nicht mehr zur Ruhe. Ihr Herz schlug oft wie wild, sie rang nach Luft. Sie ging zum Internisten, der vermutete, es könnten die ersten Anzeichen der Wechseljahre sein. "Dann kippte ich beim Training plötzlich einfach um. So als hätte mir jemand den Boden unter den Füßen weggezogen", erzählt Helene Kolwe. "Danach konnte ich meine Arme nicht mehr richtig heben."

Es ist der Beginn einer jahrelangen Odyssee, der Suche nach einer Antwort auf die Frage, was mit ihr los ist. Drei Jahre später wird ein Bandscheibenvorfall diagnostiziert, sie wird operiert - und ist glücklich: "Endlich hatte ich eine Erklärung für meine Beschwerden." Doch in der Reha begannen plötzlich ihre Muskeln im ganzen Körper zu zucken, ein Arm war noch immer gänzlich ohne Kraft. Ein befreundeter Arzt maß schließlich die Leitgeschwindigkeit ihrer Nerven. Und tatsächlich: Etwas stimmte nicht.

Sie machte einen Termin an einer Uniklinik, drei Monate musste sie darauf warten. "Als ich endlich vor dem Neurologen saß, sah er mich kaum an, blätterte nur flüchtig in meinem Ordner voller Unterlagen", sagt Helene Kolwe. Sie berichtete ihm von ihrer Atemnot und den Herzrhythmusstörungen, die nicht in den Griff zu kriegen sind. "Nach wenigen Sätzen hatte der Arzt die Diagnose parat: Das sei psychoorganisch, ich hätte Panikattacken. Ich war sprachlos vor Ärger."

Noch häufiger wird sie monatelang auf Termine warten, auf Ärzte treffen, die sich schon eine feste Meinung gebildet haben, bevor sie überhaupt mit ihr gesprochen haben. Immer wieder wird sie auch auf blanke Ratlosigkeit stoßen und weiter verwiesen werden. Immer wieder wird sie bei null stehen.

Schließlich verhalf ihr eine Magnetresonanztomografie zu einer ersten Spur: Die Bilder zeigten eine Arterienerweiterung, die auf einen Teil ihres Gehirns drückt. Als Helene Kolwe operiert wird, entdeckt der Chirurg, dass die Arterie sich vergrößert und gedreht hat und auf einer Strecke von zehn Zentimetern in den Hirnstamm hineingewachsen ist. Lösen kann man sie nicht.

Nach Monaten bekommt sie die Nachricht: Verdacht auf Morbus Fabry

Ihre Arbeit als Palliativfachkraft hat Helene Kolwe inzwischen aufgeben müssen, es fehlt ihr an Kraft dafür. Nachts im Schlaf krampft ihr ganzer Körper, manchmal über Stunden. "Ich lasse mich nicht unterkriegen, ich habe immer schon eine Pferdenatur gehabt", sagt sie. "Aber meinen Mann nimmt meine Krankheit sehr mit."

Über einen Selbsthilfeverband findet Helene Kolwe endlich einen Experten, der sich zusammen mit anderen Ärzten ihres Falls annimmt. Nach Monaten bekommt sie per E-Mail die Nachricht: Verdacht auf Morbus Fabry, eine seltene Stoffwechselstörung. Es könnte ihr ein Botenstoff fehlen, der die Gefäße zusammenhält, daher die Wucherung im Gehirn. Im Morbus-Fabry-Zentrum in Münster lässt sie einen Gentest machen; endlich liegt ihr das Ergebnis vor.

Sie hat eine Spielart, die wiederum nur bei fünf Prozent aller Morbus-Fabry-Kranken vorkommt. Unter Fachleuten ist jedoch umstritten, ob dieser Gendefekt nicht eine eigene Krankheit sein könnte - oder ob er überhaupt krankheitsauslösend sei. Diese Diagnose ist so vage, wie vieles, was sie in den vergangenen Jahren gehört hat. "Sie werden irre als Patientin", sagt Helene Kolwe. "Man hat irgendetwas, aber irgendwie auch nicht." Eine Therapie gibt es für sie ohnehin nicht; einzig Physiotherapie tut ihr gut.

Die Suche geht jedenfalls weiter. Die Frage ist, ob vielleicht noch eine andere Erkrankung ihre Symptome verursachen könnte. Helene Kolwe ist voller Hoffnung: Sie hat inzwischen einen Arzt getroffen, der sich wirklich für ihren Fall interessiert. "Vielleicht kann er alle Spuren zusammenfügen."

*Name von der Redaktion geändert

Guillain-Barré-Syndrom: "Von einem Tag auf den anderen war ich ausgeknockt"

Was Sibylle Voelker erlebt hat, sieht man ihr nicht mehr an. Man könnte sich höchstens über Kleinigkeiten wundern, etwa, dass jedes Mal, wenn sie gähnt, ihr linkes Auge zugeht. Vor fünf Jahren erkrankte die 43-jährige Sängerin an einem sehr seltenen entzündlichen Nervenleiden, dessen genaue Ursache unbekannt ist, das aber vermutlich von einer banalen Erkältung ausgelöst werden kann oder auch von einer Impfung oder einem Magen-Darm-Infekt - und das jeden von uns treffen kann.

Drei Wochen lag sie auf der Intensivstation; ihre alte Kraft hat sie immer noch nicht ganz wiedergefunden. "Es begann an den Weihnachtstagen mit einem Kribbeln in Füßen und Händen. Von den Füßen stieg mir Kälte in die Beine", sagt Sybille Voelker. "Ich dachte, das hätte mit dem Stress vor den Feiertagen und meinem geschwächten Immunsystem zu tun." Zu dieser Zeit hatte sie ein fünf Monate altes Baby und eine dreijährige Tochter, die ständig irgendwelche Infekte aus dem Kindergarten mit nach Hause brachte.

Innerhalb von Tagen verschlechterte sich ihr Zustand, Lähmungen traten auf. "Ich konnte nicht mehr gehen, nur noch robben. Mein Baby konnte ich nicht mehr zum Stillen halten", berichtet sie. Ihr Mann brachte sie in die Notaufnahme. Und sie hatte Glück.

Denn obwohl statistisch gesehen nur ein bis zwei Menschen pro Jahr unter 100.000 Einwohnern daran erkranken, diagnostizierten die Ärzte schnell, was sie hatte: das Guillain-Barré-Syndrom. Eine Krankheit, bei der die Schutzschicht der Nerven vom körpereigenen Immunsystem angegriffen und zerstört wird. Da auch die Atemmuskulatur von der Lähmung betroffen sein kann, wird Sibylle Voelker auf die Intensivstation gebracht. Wenige Stunden später war die Hälfte ihres Gesichts gelähmt, sie konnte nur noch lallen. "Ich war von einem Tag auf den anderen ausgeknockt", sagt sie.

Drei Wochen lang wird sie ihre Töchter nicht mehr sehen, sie hat große Schmerzen entlang des Rückenmarks, kann kaum schlafen. Alle halbe Stunde muss sie gedreht werden. Geduld hieße das Zauberwort, sagen die Ärzte ihr ständig. Doch die Medikamente helfen ihr. Und mühsam beginnt sie, wieder Laufen zu lernen: In der Reha kämpft sie sich vom Rollstuhl über einen Rollator zu Gehstöcken.

Ich habe eineinhalb Jahre fast nur auf der Couch gelegen.

Als sie nach knapp drei Monaten aus der Klinik nach Hause kommt, fehlt ihr noch jede Kraft. "Ich habe eineinhalb Jahre fast nur auf der Couch gelegen", sagt Sibylle Voelker. "Dabei war ich immer so ein aktiver Mensch." Anfangs schläft sie zwölf Stunden am Tag. Eine Haushaltshilfe unterstützt sie in der ersten Zeit, vor allem aber helfen ihr Freunde, Verwandte und ihr Mann.

Auch wenn sich die meisten GBS-Patienten nach und nach wieder erholen, können Lähmungserscheinungen und Gefühlsstörungen zurückbleiben. Sibylle Voelker hat Glück gehabt. Ihre Erkrankung ist ausgeheilt, auch weil die Diagnose so früh gestellt wurde, hat man ihr gesagt. Und doch musste sie ihr Leben umkrempeln, vieles absagen, was sie sonst immer geschafft hat. Abends ist ihr Akku leer, sie fängt noch heute an zu stottern oder spürt ein Kribbeln in den Füßen, wenn sie gestresst ist.

Immer an Weihnachten kehren die Erinnerungen, die Ängste wieder, dass sie noch einmal so aus der Bahn geworfen werden könnte. Auch ihre ältere Tochter hat das Erlebnis lange nicht überwunden. Doch Sibylle Voelker weiß: "Im Grunde kann ich dankbar sein, dass ich wieder so gut im Leben stehe."

Ullrich-Turner-Syndrom: "Ich führe ein normales Leben"

Wenn man Inge Feiner*, 40, fragt, ob sie das Gefühl habe, krank zu sein, muss sie einen Moment überlegen. Nein, sagt sie dann. "Es ist einfach nur eine kleine Besonderheit." Für ihren Beruf als Buchhalterin habe diese Besonderheit gar keine Bedeutung, sagt sie. Ihr Arbeitgeber wisse nichts davon. Inge Feiner ist ein wenig kleiner als andere Menschen, 147 Zentimeter, ihr Gewebe ist weniger fest, ihr Körper produziert zu viel Lymphflüssigkeit, deswegen muss sie regelmäßig zur Lymphdrainage und wegen der vielen Leberflecken zur Kontrolle zum Hautarzt. Leber- und Nierenwerte lässt sie regelmäßig prüfen. "Ich habe ein paar mehr Arztgänge", sagt sie, "aber sonst ein normales Leben." Sie will auch keinen Schwerbehindertenausweis, wie andere Betroffene ihn haben.

Offensichtlich ist Inge Feiners Besonderheit nicht. Es ist eine Besonderheit ihrer Chromosomen. Anstelle zweier X-Chromosomen hat sie in manchen Zellen nur ein X, in anderen auch Teile eines Y - verursacht durch eine Laune der Natur. Das Ullrich-Turner-Syndrom ist die häufigste Chromosomenstörung bei weiblichen Embryonen. 98 Prozent sterben früh im Mutterleib.

Ein Teil der Schwangeren entscheidet sich für eine Abtreibung, wenn sie die Diagnose erfahren. So wird schätzungsweise nur eines von 2500 Mädchen mit Turner-Syndrom geboren. Wie stark dieses Syndrom ausgeprägt ist, ist bei jedem unterschiedlich. Die meisten Betroffenen haben nicht entwickelte Eierstöcke und ein höheres Risiko für Schilddrüsen- und Herzerkrankungen sowie Diabetes. Ihre Lebenserwartung ist jedoch statistisch allenfalls gering vermindert.

Die anderen wurden reifer, und ich habe gemerkt, dass ich anders bin

Inge Feiner war schon als Kind immer eine der Kleinsten. Da aber auch ihre Eltern nicht groß sind, hat sich niemand darüber gewundert. Mit 15 ließ die Regel noch auf sich warten, der konsultierte Arzt riet zur Geduld. "Die anderen wurden reifer, und ich habe gemerkt, dass ich anders bin", sagt Inge Feiner. Als sie 18 war, brachte ihr eine genetische Untersuchung Klarheit. "Für mich brach eine Welt zusammen", sagt sie. "Ich hatte mir schon gewünscht, einmal Kinder zu bekommen." Ihre Mutter nahm sie in den Arm, zu Hause wird aber kaum über die Diagnose gesprochen.

Der Arzt verschreibt ihr die Hormone, die ihr Körper nicht produziert, in einem Jahr durchlebt sie die Pubertät. Bis zu den Wechseljahren muss sie täglich eine Tablette schlucken. Sie verliebt sich, führt Beziehungen, heiratet. Mit ihrem Mann plant sie die Adoption eines Kindes, doch als die Ehe scheitert, gibt sie den Traum schweren Herzens auf. Was sie stärkt, sind Frauen aus einer Selbsthilfegruppe. Darüber freut sie sich. "Diese Freundinnen hätte ich sonst nie getroffen."

*Name von der Redaktion geändert

Was sind seltene Krankheiten?

Als selten gilt eine Erkrankung, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen in der Europäischen Union davon betroffen sind. In Deutschland leben geschätzt vier Millionen Menschen mit einer seltenen Krankheit. In ihrer Gesamtheit kommen die seltenen damit so häufig vor wie eine der großen Volkskrankheiten.

7000 bis 8000 Krankheiten werden als selten eingestuft. Sie haben oft wenig miteinander gemein: Sehr spezielle Stoffwechsel- und rheumatische Erkrankungen fallen ebenso darunter wie Brandverletzungen und Krebs bei Kindern. Die meisten dieser Krankheiten verlaufen chronisch, häufig sind sie schwerwiegend und gehen mit einer eingeschränkten Lebenserwartung einher. Etwa 80 Prozent sind genetisch bedingt.

Eines der größten Probleme für Betroffene ist es, Ärzt:innen zu finden, die sich mit ihrem Leiden auskennen. Die Diagnose wird im Durchschnitt erst nach sieben Jahren gestellt. Medikamente, sofern es sie überhaupt gibt, sind oft für diese speziellen Fälle nicht zugelassen.

Für die meisten Betroffenen gibt es keine heilende Therapie. "Doch es ist entscheidend für sie, eine Diagnose zu bekommen", sagt Dr. Christine Mundlos, die als Ärztin für die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE e.V.) arbeitet. "Die Diagnose schafft Klarheit und fördert die Akzeptanz für den Betroffenen und sein soziales Umfeld." Wer eine Diagnose hat, kann sein Leben aktiv in die Hand nehmen, nach Experten und möglichen Therapien suchen, sich mit anderen Betroffenen austauschen - und sich so etwas weniger allein fühlen.

Hier findet ihr Informationen und Hilfe

Die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE e.V.) ist ein Zusammenschluss von 120 Patientenorganisationen. Hilfe und Information bietet auch das Orphanet, eine Datenbank zum Thema seltene Krankheiten, in der unter anderem Informationen über Arzneimittel gesucht werden können, außerdem Forschungsprojekte, Studien, Leitlinien, Selbsthilfeorganisationen und Fachleute.

Text: Natalie Rösner Ein Artikel aus BRIGITTE woman Brigitte

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