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Na super, wieder verbockt

Wenn wir in Beziehungen, im Job oder unter Freunden scheitern, suchen wir häufig die Schuld bei uns. Sich nicht mit Selbsthass zu quälen, sondern bei sich selbst gut aufgehoben zu fühlen ist eine verlockende Idee, der Weg dahin keine Kurzstrecke, aber machbar. Der Psychotherapeut Michael Lehofer über das Geheimnis von Selbstliebe.

BRIGITTE: Dieses Dossier hat den Titel "Ich gegen mich". Ein recht typisches Frauenthema, oder?
MICHAEL LEHOFER: Ja, den Eindruck habe ich auch. Männer lösen das Problem offensichtlich anders.

Wie denn?
Es ist nicht so, dass Männer keine Selbstwertprobleme hätten oder nicht an mangelnder Selbstliebe leiden würden. Aber sie neigen etwa dazu, das zu überkompensieren, zum Beispiel mit Wichtigmacherei. Männer haben trotz aller gesellschaftlichen Veränderungen noch immer mehr Spielraum, sich im Außen zu beweisen und so Anerkennung zu bekommen. Aber es gibt noch einen zweiten Punkt: Frauen haben eine höhere Identifikation mit ihrer Familie, und wenn da Defizite sind, neigen sie mehr dazu, diese Defizite ausgleichen zu wollen und sich auszubeuten.

Sie meinen, sich schuldig zu fühlen für Dinge, für die sie nichts können?
Ja, genau. Frauen übernehmen gerne Verantwortung für etwas, das sie gar nicht verantworten können. Und daraus entsteht dann dieser Kampf gegen sich selbst. Das Gegenteil von Selbstliebe.

Wo liegt der Unterschied zwischen Selbstbewusstsein und Selbstliebe?
Selbstliebe ist etwas, das im Innen stattfindet. Es ist die Verbundenheit mit sich selbst. Sie sind sich total nah und nehmen daher Ihre eigenen Bedürfnisse unmittelbar wahr.

Und Selbstbewusstsein?
Ist im besten Fall die Konsequenz von Selbstliebe. Aber nicht jeder, der selbstbewusst auftritt, beherrscht die Selbstliebe. Das Pseudoselbstbewusstsein ist stark verbreitet und ist immer mit Außenwirkung verknüpft. Häufig haben gerade selbstbewusst wirkende Menschen sehr viele Ängste und Zweifel. 

Selbstliebe bedeutet also: Ich habe in schwierigen Situationen einen klaren inneren Kompass und lasse mich nicht von anderen ablenken oder manipulieren?
Ganz genau. Wir neigen zum Beispiel in Krisen – sei es in Liebesbeziehungen oder am Arbeitsplatz – dazu, uns von uns selbst zu entfremden. Das bedeutet: Wir spüren uns nicht mehr und spielen irgendeine Rolle oder richten uns nach den Erwartungen anderer, weil wir gefallen und die Situation so lösen wollen. Ein selbstliebender Mensch behält das Gespür für sich. Seine innere Orientierung, seinen Kompass. Er ist unabhängig. Nicht nur unabhängig, er ist frei.

Sie schreiben in Ihrem Buch*: "Alle Beziehungen scheitern an mangelnder Selbstliebe". Können Sie das erklären? 
Eine Beziehung, die nicht aus Selbstliebe gespeist ist, wird meistens aus Bedürftigkeit eingegangen. Bedürftigkeit wiederum löst unangemessene Erwartungen aus und führt uns in Beziehungen, die nicht gut für uns sind. Am Ende killt Bedürftigkeit jede Beziehung, beziehungsweise lässt uns in unbefriedigenden Beziehungen verharren.

Und aus der Bedürftigkeit heraus entsteht dann der Selbsthass?
Ganz genau so ist es. Sich selbst niederzumachen ist häufig ein Versuch, die schlechte Beziehung zu stabilisieren.

Inwiefern?
Nehmen wir einmal an, Sie merken, dass die Beziehung nicht läuft, weil Ihr Partner Ihnen keine Intimität anbietet. Es gibt zum Beispiel wenig Kontakt und Zärtlichkeit. Sie fürchten aber, wenn Sie ihn wirklich damit konfrontieren würden, könnte es zu einem Bruch kommen. Wenn Sie sich aber selbst niedermachen, übernehmen Sie quasi die Schuld und versuchen so unbewusst, alles im Lot zu halten. Sie handeln aus einer Verlustangst heraus, die wiederum aus mangelnder Selbstliebe entsteht.

Aber wirkliche Selbstliebe scheint mir eine sehr rare Währung zu sein. Hat man sie, lernt man sie?
Erst mal ist sie in uns allen, auch wenn wir vielleicht eine schlechte Ausgangsposition hatten. Damit meine ich zum Beispiel Eltern, die wenig selbstliebend waren. Es ist zudem naheliegend, dass Liebeserfahrungen, die man macht – also Erfahrungen der Nähe und der Verbundenheit – eine wichtige Rolle spielen. Gelungene Liebesbeziehungen, in denen wir wahrgenommen werden, wie wir sind, fördern natürlich unsere Selbstliebe. Es ist nur leider so, dass wir permanent alles tun, um diese innere Verbundenheit nicht zu spüren. Unser Ego arbeitet oft sehr stark gegen die Stimme des Herzens an. Man kann es als die Stimme unseres erworbenen Selbst bezeichnen, das sich durch die Impulse des Herzens bedroht fühlt.

Wie also lerne ich Selbstliebe?
Ich formuliere in meinem Buch mehrere sogenannte Anregungen, ich nenne sie "Ermutigungen". Eine davon heißt: sich selbst in Ruhe zu lassen. Man muss bereit sein, in aller Ruhe zu sehen, wer man ist. Dazu gehört auch, ausreichend mit sich allein zu sein und sich nicht dauernd abzulenken. Eine weitere Ermutigung ist die zur Gelassenheit.
Sich nicht immer anspornen und denken, man muss das Leben im Griff haben. Mangelnde Gelassenheit führt dazu, sich selbst nicht zu spüren.

Auch ein typisches Frauen­thema: immer alles perfekt zu machen. Ist Perfektionismus ein echter Selbstliebe-­Killer?
Ich bin dafür, alles perfekt zu machen, aber gegen das Perfektionieren. Nach dem Motto: Ich tue mein Bestes, aber das, was dann dabei herauskommt, ist demütig anzunehmen.

Also Menschen, die permanent alles perfekt machen wollen, nehmen sich selbst überhaupt nicht wahr?
Ja, genau so ist es.

Sie schreiben an einer Stelle: Selbstliebe ist die Grundlage für Lebendigkeit. Wie meinen Sie das?
Ich werde manchmal gefragt: "Was ist der Sinn des Lebens?" Ich antworte dann: Der Sinn des Lebens ist dann gegeben, wenn man sich nicht nach dem Sinn des Lebens fragen kann.

Ganz schlau.
Ja, denn wann stellen mir die Menschen diese Frage? Nicht, wenn sie im positiven Sinn vom Leben vereinnahmt sind, wenn sie sinnlich leben. Der Sinn des Lebens ist aber, sinnlich zu leben. Dann fühlen Sie sich lebendig.

Aber kann ich mich nicht auch in einem totalen Liebesdrama lebendig fühlen? Oder wenn ich richtig Stress habe?
Im Liebesdrama vielleicht, das kommt darauf an. Im Stress aus meiner Sicht nicht. Solche Zustände sind nie Ausdruck von Lebendigkeit. Das ist kein sinnliches Leben, sondern Sie werden permanent irgendwohin gezwungen. Die vorher beschriebenen Frauen, die getrieben von einem Perfektionswahn an sich vorbeileben, mit absolut mangelnder Selbstliebe, erleben sich wie lebendig tot. Mit sinnlichem Leben meine ich, dass Sie die Bedürfnisse in Ihrer Umgebung, aber auch Ihre eigenen sehr gut wahrnehmen.

Aber wo ist die Grenze zwischen sensibler Wahrnehmung und übertriebenem Mit­gefühl? Das kann ja auch kippen. Gerade Frauen neigen ja zur Über­-Empathie. 
Aber Sie kennen es sicher: Wenn man zu empathisch ist, kommt das nicht nur von Herzen, sondern man hat stets unbewusst im Hinterkopf ein strategisches Interesse. Man will zum Beispiel mit Empathie verloren gegangene Nähe erzeugen. Man will nicht selten etwas erzwingen, was es nicht mehr gibt. 

Und dann arbeite ich wieder gegen mich...
Richtig. Ich brauche vor allem immer auch Empathie für mich selbst. Und die fehlt dann häufig. Wenn ich die Menschen um mich herum unbedingt von etwas überzeugen will, kann ich das nur, indem ich mich selbst vergesse. Und das ist ein typischer Frauen-Mechanismus. 

Das alles klingt, als sei es harte Arbeit, sich selbst zu lieben.
Ich glaube, dass ein Leben in Selbstliebe ein sehr diszipliniertes Leben ist. Ich handle praktisch aus einer innigen Selbstbetrachtung heraus, und es ist nicht so leicht, sich immer dabei zuzuschauen, was man tut und was man nicht tut. Aber das hat nichts mit Kontrolle zu tun, sondern ist eher vergleichbar mit einer Achtsamkeitsübung. Ich schaue mir zu und nehme wahr, ohne einzugreifen. Ein Leben in Selbstliebe ist ein achtsames Leben. Der Weg dahin ist ein lebenslanger Prozess, aber Sie werden sehen, dass Sie immer seltener gegen sich handeln und sich Fehler in Liebe verzeihen.

Michael Lehofer ist Psychiater, Psychologe und Psychotherapeut. Er leitet eine neuropsychiatrische Klinik in Graz. Sein neues Buch heißt "Mit mir sein". (168 S., 19 Euro, Braumüller)

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