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Opium gegen Schmerzen? Wir fragen den Schmerztherapeuten

Opium gegen Schmerzen? Wir fragen den Schmerztherapeuten: Frau mit Tabletten
© fizkes / Shutterstock
In Deutschland werden immer mehr Opiate verordnet. Schmerztherapeut Dr. Johannes Lutz sieht das kritisch.

Sie vertreten eine ganzheitliche Schmerztherapie. Früher haben Sie dagegen selbst viele Opiate verordnet ...

Dr. Johannes Lutz: Lange Zeit dachte ich, Schmerztherapie ist vor allem eine Frage der Dosis. Vielleicht ist es ein Weg, den jeder und eben auch ein Arzt gehen muss: zu begreifen, dass Schmerztherapie nicht nur aus Medikamenten besteht.

Wie erleben Ihre Patientinnen und Patienten dieses Umdenken?

Der Wunsch "Heile mich" ist vermutlich so alt wie die Menschheit. Aber damit kommen wir eben beim Schmerz nicht weiter. Bei uns in der Klinik wurde gerade ein Film gedreht, der vier Seniorinnen während ihres Aufenthalts begleitet hat. Sie kamen alle mit dem Rollator, zwei haben hier zu Anfang von Opiaten entzogen. Aber dann haben sie gelernt, welchen Einfluss sie selbst haben – Eisabreibungen, Balance-Training, Atemtraining usw. –, und irgendwann sind sie hier buchstäblich durch die Gänge getänzelt. Hilflosigkeit loszuwerden ist schmerzlindernd.

Funktioniert das in jedem Alter?

Manchmal habe ich das Gefühl, bei unseren älteren Patient*innen klappt das sogar besser. Die jüngeren haben oft ganz andere Zielkonflikte. Viele wollen von mir hören, dass sie nicht mehr arbeitsfähig sind, weil sie eine Rente beantragt haben.

Von 2000 bis 2018 haben sich die Opiat-Verschreibungen verdoppelt. Steht uns eine Entwicklung wie in den USA bevor, wo der Missbrauch der Schmerzmittel zu einer Drogenkrise geführt hat?

Ich denke nicht. Vor etwa 30 Jahren hat man gemerkt, dass vor allem Tumorpatienten nicht die Schmerztherapie bekommen, die sie bräuchten. Und ihnen helfen Opiate tatsächlich oft relativ gut. Die niedergelassenen Ärzt*innen wurden für die Unterversorgung kritisiert und haben ihr Verhalten geändert. Mittlerweile werden allerdings sehr viele Opiate verschrieben, und die Mehrzahl an Menschen, die gar keinen Tumor haben. Aber für eine solch katastrophale Entwicklung wie in den USA – und wie sie sich gerade in China zu wiederholen scheint – gibt es bei uns nicht die Voraussetzungen.

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Weil Opiate bei uns unter das Betäubungsmittelgesetz fallen?

Das ist ein Grund. Sie müssen auf registrierten Rezepten verordnet werden, es gibt eine Nachverfolgung. Aber auch weil es ein Werbeverbot für Opiate gibt. Bei uns darf nur in Fachjournalen geworben werden. Ich finde übrigens selbst das zu viel. In den USA dagegen wurde überall für das Mittel Oxycontin geworben. Allerdings sitzt auch hier der Rezeptblock ziemlich locker. Ich stelle zwar fest, dass in den Fachgesellschaften mittlerweile ein Umdenken stattfindet. Doch Opiate liegen eben auch am Zeitgeist: Sie bieten scheinbar schnelle Lösungen für schwerwiegende, langjährige Probleme.

Müssen immer mehr Ihrer Patient*innen erst einmal einen Opiat-Entzug machen?

Die Auswahl, die wir an unserer Klinik haben, ist sicher nicht repräsentativ. Viele kommen her, weil sie wissen, dass wir entziehen. Ganz viele wollen nämlich von den Mitteln loskommen, aber trauen sich nicht, auszubrechen aus der Schiene, auf die sie die Medizin bisher gesetzt hat.

Es mangelt also an Unterstützung?

Klar. Die niedergelassenen Kolleg*innen haben Angst. Sie sehen eine Patientin fünf Minuten in der Sprechstunde. Da ist es viel einfacher, aus 40 Milligramm am Tag 60 zu machen, als den umgedrehten Weg zu gehen. Ein Entzug kann heftig sein und sollte stationär erfolgen.

Wann halten Sie Opiate außerhalb der Krebsmedizin für sinnvoll?

Für Operationen oder in der Intensivmedizin sind sie unerlässlich. Aber wenn diese akuten Phasen vorbei sind, muss man sich wieder von ihnen verabschieden. Und darum muss sich jemand kümmern. Das ist in den USA völlig gescheitert. Die Menschen haben die Mittel bekommen und wurden sich selbst überlassen. Wir brauchen eine engmaschige Wiedervorstellung. Es muss immer wieder gefragt werden: Haben wir unser Ziel erreicht? Und das heißt nicht, sind die Schmerzen weniger, sondern vor allem: Kann jemand wieder arbeiten und am alltäglichen Leben teilhaben.

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