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Menschliches Gehör Unterschiede zwischen Männern und Frauen

Menschliches Gehör: Frau mit Kopfhörern
© Maja Argakijeva / Shutterstock
Frauen hören anders: Es gibt nicht nur körperliche Unterschiede, wir verarbeiten Reize auch anders. Was Männer schlechter können und warum Hörübungen eine Art Ohr-Yoga sind.

Heute Morgen in der U-Bahn musste ich mir die Ohren zuhalten. Ich war so entspannt von meinem Morgen-Yoga und meinem ausgedehnten Frühstück und gerade auf dem Weg zu einem mit Sicherheit sehr ruhigen Feiertagsdienst, als diese junge Frau in Sporthosen mir gegenüber plötzlich in ihr Headset plappert. "Ich bin gerade unterwegs zum Sport, wir haben hier in Bayern ja heute Feiertag, und ich habe frei, aber könntest du eine E-Mail senden an den Stefan, den Steven…" 

Ich kann beim besten Willen nicht weiter zuhören, merke, wie sich in meiner Brust etwas zusammenzieht. Dieser Unterton in ihrer Stimme, der Arbeits-Erledigungston, dieses "Wichtig-wichtig, ich bin ja so toll und ­delegiere noch vor meinem Fitnessprogramm bedeutsame Dinge". Mir ist egal, was die Leute jetzt denken, ich halte mir die Ohren zu und schließe die Augen, bis ich endlich aussteigen kann.

Diverse Unterschiede zwischen Männern und Frauen

Heute Morgen konnte ich spüren, dass Hören meine Herzfrequenz verändert, und damit bin ich typisch Frau. Ich hätte es nur nicht so wissenschaftlich ausdrücken können, bevor ich mit Annette Limberger, Professorin im Studiengang Hör­akustik/Audiologie an der Hochschule Aalen gesprochen hatte. Sie befasst sich seit Langem mit dem Thema Hören und Geschlecht und weiß: Mittlerweile zeigen eine ganze Menge Studien, dass es diverse Unterschiede im Hören von Frauen und Männern gibt.

"In den vergangenen zehn Jahren hat diese Forschung Fahrt aufgenommen", sagt die Ärztin, "und sich in den letzten fünf Jahren ganz besonders gesteigert." Dass das Thema inzwischen erforscht wird, liege an der allgemeinen Diskussion um geschlechtliche Unterschiede in der Medizin, so die Professorin. Und daran, dass das Hören in einer alternden Gesellschaft für immer mehr Leute ein Thema ist.

Offenbar verarbeiten Frauen das Gehörte anders. Dass akustische Stimuli die Herzfrequenz bei Frauen leichter verändern können als bei Männern, haben Forscher 2009 herausgefunden. Eine weitere weibliche Besonderheit ist die Sensibilität für Untertöne in Stimmen, auch reagieren Frauen generell emotionaler auf Gehörtes. Während der Mann neben der jungen Sportlerin in der U-Bahn womöglich nur ihren nicht sonderlich lauten Tonfall wahrgenommen hat, habe ich vollkommen ungewollt vor allem die stressigen Zwischentöne vernommen.

Schon von klein auf zeigen sich Differenzen

Sogar bei Babys kann man diese unterschiedliche Empfänglichkeit für Schall feststellen, berichtet Annette Limberger: Eine Studie aus Texas zeigte, dass neugeborene Mädchen stärker auf Geräusche reagieren. Zudem reifen die sogenannten auditiven Strukturen – wie der Hörnerv und die Hörverarbeitung im Gehirn – bei Mädchen schneller als bei Jungen, es gibt also auch körperliche Unterschiede. "Bei Frauen ist die Hörschnecke im Durchschnitt kürzer und verarbeitet daher Schall schneller", so Limberger. Frauen haben es darum leichter, hohe und leise Töne wahrzunehmen. "Das ist ja klar, sie haben auch eine ­höhere Stimme“, erklärt Limberger. Das hänge entwicklungsgeschichtlich mit der Brutpflege zusammen. „Kinderstimmen sind höhere Stimmen, die Mütter hören müssen." 

Daneben hätten Frauen einen deutlichen Hör-Vorteil durch ihr Östrogen, so Prof. Limberger. Das sei unter anderem ein Grund dafür, dass die Altersschwerhörigkeit bei Frauen später einsetze als bei Männern, bei denen sich die Hörfähigkeit bereits ab dem 35. Lebensjahr langsam zu­rück­entwickle. Im Gegenzug müssten Frauen später in den Wechseljahren manchmal mit einer rapiden Verschlechterung zurechtkommen, wenn sich die Hormone verändern.

Der große Einfluss des Hörens

Mein Herz reagiert übrigens auch auf beruhigende Töne spürbar. Die Klangschalen auf meiner Meditations-CD machen mich tiefenentspannt. Und mein Herz, das vorher oft unruhig klopfte, ist nach dem Meditieren milde gestimmt und ganz still. Auch in meinen Yogastunden habe ich mich kürzlich gefragt, ob es vielleicht weniger die besonders langsamen und einfachen Yin-Übungen sind, die mich so beruhigen, als vielmehr die Stimme meiner Yogalehrerin, ihre Mantragesänge und ihr Gitarrenspiel. Aus diesen Yogastunden komme ich immer als anderer Mensch heraus, und nichts konnte sich bisher mit dieser Wirkung messen. Kein Mittagsschlaf, kein Dankbarkeits-Tagebuchschreiben, kein Tag ohne Termine. All diese Dinge sind auch schön, aber der beruhigende Effekt durch Hören ist bei mir nicht zu übertreffen. Ebenso wenig wie der aufpeitschende.

Und noch einen Unterschied gibt es: Frauen tun sich mit dem Richtungshören schwerer. Das hat ein wissenschaftliches Experiment bewiesen, für das sich Studentinnen und Studenten in eine abgedunkelte Schallkammer setzten, in der fünf Lautsprecher installiert waren. Aus diesen kamen unterschiedliche Geräusche aus verschiedenen Richtungen. Bei der Aufgabe, festzustellen, aus welchem Lautsprecher welches Geräusch kam, schnitten Frauen weit schlechter ab. Bestätigt hat diese weibliche Eigenart auch eine Studie aus Tübingen mit dem schönen Titel "Male advantage in sound locali­zation at cocktail parties" aus dem Jahr 2010. Die Fähigkeit des ­Gehirns, Hintergrundgeräusche als ­unwichtig aus dem Bewusstsein auszublenden, bezeichnet man als Cocktailparty-­Effekt. Und der ist der Studie zufolge bei Männern ausgeprägter als bei Frauen.

Spezielle Hörgeräte für Frauen?

Bedeuten all diese Unterschiede, dass Frauen eine andere Versorgung brauchen, etwa, wenn es um Hörgeräte geht? Kann man für Frauen spezielle Geräte entwickeln? "Das ist noch nicht ausreichend erforscht", sagt Annette Limberger, "da stehen wir erst ganz am Anfang." Schon heute werden Hörgeräte sehr individuell auf das persönliche Hörproblem zugeschnitten vom Akustiker ausgesucht und eingestellt – je nachdem, in welchen Situationen man sich die Verbesserung am meisten wünscht. "Für sprachliche Kommunikation braucht man etwas anderes als für ein Klavierkonzert", so die Expertin. "Und für ein Rockkonzert muss man es wiederum anders einstellen."

Dass so viele Frauen – genau wie Männer – mit ihren Hörgeräten trotzdem nicht gut zurechtkommen, liegt vielfach daran, dass man sich an das neue Hören schlicht erst gewöhnen muss. Denn gerade Altersschwerhörigkeit beginnt schleichend. Bis die Betroffenen merken, dass sie schlechter hören, können Jahre vergehen. Und mit dem neuen Hörgerät ist da dann plötzlich eine Flut an Geräuschen und Tönen, die sich nicht mehr richtig zuordnen lässt. Das muss man regelrecht trainieren, wie auch das Richtungshören und die Fähigkeit, störende Hintergrundgeräusche bewusst auszuschalten, sodass man Gesprächen wieder besser folgen kann. Mal abgesehen davon ist es ­natürlich wichtig zu lernen, das ­Gerät zu bedienen, was heutzutage auch per App möglich ist. Unterm Strich geht es darum, das verordnete Hörgerät bestmöglich nutzen und auch akzeptieren zu können.

Gezielte Trainings und Hörübungen

Aber genau solche Trainings sind Mangelware, so die Münchner Hörgeschädigtenpädagogin Ka­tha­rina Müller, die sich für ihre ­Doktorarbeit mit dem subjektiven Hörvermögen im Alter beschäftigt hat. Außerdem passiere viel zu wenig, um den Betroffenen beispielsweise zu zeigen, wo sie sich im Café am besten hinsetzen oder wie man es trotz großer Scheu fertigkriegt, auf die eigene Hörminderung hinzuweisen und in Gesprächen nachzufragen. So kommt es hierzulande zu einer Unterversorgung, obwohl die Verordnungszahlen hoch sind. "Die Folge von nicht begleiteter Verschreibung ist, dass viele Menschen ihre Hörgeräte einfach wieder weglegen", so Müller. Dabei ist es so wichtig, dranzubleiben und sich an die Hörgeräte-Akustiker*in oder auch an die HNO-Praxis zu wenden, etwa für ein Hörtraining. Und da gibt es im Übrigen auch schon die ersten speziell für Frauen: Der Hörakustiker Reinhard Sorg aus Schonach im Schwarzwald hat eine Hörübungsreihe mit dem Namen "Mona & Lisa" entwickelt, die die speziellen Erfordernisse von Frauen berücksichtigt und etwa das Richtungshören in besonderem Maße trainiert – dazu braucht man ein paar Kopfhörer, ein Tablet und das Hörtagebuch, in das man die Ergebnisse aus den bereits absolvierten Übungen einträgt.

Gedacht sind die Übungen für Hörgeräte-Trägerinnen. Aber grundsätzlich sind Hörübungen jeder Art für alle sinnvoll, insbesondere, wenn man den Eindruck hat, das Hören sei schlechter geworden. Denn einfach mal ganz genau auf die Geräusche der Umgebung zu lauschen erhöht die Sensibilität für das Hören und lässt es nicht mehr einfach nur selbstverständlich erscheinen. Hörübungen sind eine Art Ohren-Yoga, die genauso viel Ruhe und Geduld brauchen wie Asanas, die Yogahaltungen. Es geht nicht um Leistung oder Erfolg von heute auf morgen, sondern um einen spielerischen Umgang mit den eigenen Sinnen, der am Ende auch die Funktion ver­bessert.

Und zudem darum, dass das Hören einem nicht mehr einfach nur ­passiert und einen unkontrolliert überschwemmt. Hörübungen kann man wirklich immer und überall machen. Am Schreibtisch sitzen und die Stimmen der Kolleginnen in den Nachbarbüros wahrnehmen oder ihre Schritte, die sich in unterschiedliche Richtungen bewegen. In der U-Bahn die Augen schließen und dem Rollen der Räder lauschen. Oder dem Baby, das neben der nervigen Sporthosen-Frau zufrieden in seinem Kinderwagen brabbelt.

Hör' mal genau hin

Drei Übungen für alle (mit und ohne Hörgerät), empfohlen von Hörgeschädigtenpädagogin Katharina Müller.

1. Setze dich z.B. im Park auf eine Bank, schließe die Augen und nehme die Geräusche ganz bewusst wahr. Was hörst du? Schritte, Naturgeräusche, Stimmen? Welche Geräusche sind angenehm (z.B. Blätterrauschen), welche störend (z.B. die Fahrradklingel)?

2. Konzentriere dich auf ein Geräusch und versuche, alle anderen bewusst auszublenden. Folge z.B. den Schritten einer Person mit dem Gehör so lange wie möglich.

3. Versuche, Geräusche zu lokalisieren. Aus welcher Richtung kommt z.B. eine bestimmte Stimme? Mache die Augen auf und überprüfe deine Wahrnehmung.

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