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Juckreiz Kratz mich mal!

Katze kratzt sich
© noppadon / Adobe Stock
Juckreiz kann einen in den Wahnsinn treiben. Unsere Autorin Christine Hohwieler machte sich auf die Suche nach der Ursache.

Meine beste Freundin hat einen hölzernen Rückenkratzer neben dem Schreibtisch liegen. "Ich benutze ihn ständig", sagt sie, "zusammengerechnet bin ich bestimmt eine halbe Stunde täglich mit Kratzen beschäftigt, total nervig." Bei einer Kollegin sind es juckende Schienbeine, die sie öfter mal in den Wahnsinn treiben, und ein Freund von mir hat sich durch das gesamte Jahr 2019 gekratzt, danach war sein Ganzkörperjucken von einem auf den anderen Tag verschwunden.

Das intime Wissen über die Hautirritationen meiner Mitmenschen kam dadurch zustande, dass es mich im Sommer selbst erwischte: Ich wachte davon auf, dass ich mir die Hände kratzte, erst im Halbschlaf, dann erschrocken. Meine Handflächen juckten, wie ich es noch nie erlebt hatte. Nicht auf der Haut und an einer bestimmten Stelle, sondern wie angezündet und von innen. Auch auf den Fußsohlen spürte ich es, was extrafies ist, weil Kratzen da bekanntlich kitzelt. Irgendwann schlief ich wieder ein, aber am nächsten Morgen ging es weiter – jetzt juckte es überall, vor allem an den Armen und Beinen, zu sehen war: nichts.

Wer "Jucken ohne Ausschlag“ googelt, kriegt erst mal einen Schrecken: Erkrankung von Leber, Galle oder Niere, Tumore, Parasiten, Diabetes und Entzündungen können dahinterstecken – alles Dinge, die man nicht haben möchte. Was mich ein bisschen beruhigte, war die Erkenntnis, wie weit verbreitet Hautjucken offenbar ist; das fand ich heraus, als ich anfing, vor anderen über meinen Zustand zu jammern.

Neben dem permanenten Juckreiz leiden viele unter dem damit verbundenen Schamgefühl

Tatsächlich leiden über 20 Prozent der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens mal an dauerhaftem Jucken, sprich: einem Juckreiz, der länger als sechs Wochen anhält, was medizinisch als chronischer Pruritus bezeichnet wird und grundsätzlich abklärungsbedürftig ist. Das erklärt mir Professor Dr. Sonja Ständer, Leiterin des "Kompetenzzentrums chronischer Pruritus“ (KCP) an der Universitätsklinik Münster. "Häufig wird dem aber nicht der Krankheitswert beigemessen, der notwendig wäre, denn in den Köpfen ist oft noch tradiert: Wenn es mich juckt, muss ich mich halt mal wieder waschen und intensiver pflegen." Anders als Schmerz, der sozial akzeptiert sei, weil jeder weiß, wie belastend er ist, löse unerklärlicher Juckreiz bei vielen Betroffenen ein Gefühl von Beschämung aus, so die Ärztin.

Scham war bei mir nicht das Problem, eher Aggression. Die Juckerei selbst machte mich wütend, aber auch die fürsorglichen Menschen, die meine Hand festhielten oder "nicht kratzen, du machst es nur schlimmer“ riefen, sobald ich anfing, mit den Nägeln über meine Haut zu schrubben. "Falsch, ganz falsch“, sagt Sonja Ständer, "das ist in etwa so sinnvoll, als würde man jemandem sagen: Hör auf, auszuatmen, sonst steigt die CO2-Belastung in der Luft. Zum einen ist Kratzen ein Reflex. Und zum anderen geht es darum, die Ursache zu bekämpfen und nicht das Symptom Kratzen."

Glücklicherweise steckt in vielen Fällen kein ernsthaftes gesundheitliches Problem dahinter, anders als Dr. Google es nahelegt. Bei alten Menschen etwa ist Hauttrockenheit die häufigste Ursache für permanentes Jucken, "das steht auch in der Leitlinie für Ärzte ganz oben in der Therapiekaskade: Erst mal auf die Haut gucken und bei trockener Haut cremen, cremen, cremen – das ist dann oft schon die Lösung."

Ich würde mich eher als mittelalt bezeichnen, und seit ich die 50 überschritten habe, schiebe ich alles, was sich in meinem Körper komisch anfühlt, zunächst auf die Hormone, also auf die Wechseljahre. Könnten die nicht auch für Hautjucken verantwortlich sein? "Dazu gibt es erstaunlicherweise sehr wenige Untersuchungen, aber ich bin überzeugt davon, dass das eine Rolle spielt“, sagt Ständer. "Die Veränderung des Hormonhaushalts hat Einfluss auf den ganzen Körper. Die Haut wird nicht nur trockener, sie reagiert auch anders, und das merken wir.“

Frühes Warnsystem: Juckreiz kann verschiedene Ursachen haben

In der dritten Woche meiner sommerlichen Juckepisode ging ich zur Hausärztin, um mir Blut abnehmen zu lassen. Ich hatte im Internet gelesen, dass Eisenmangel die Ursache für Juckreiz sein kann. Ein paar Tage später meldete sich die Hausärztin, gute Nachricht, alle Blutwerte tipptopp. Erstaunlicherweise kann auch in so einem Fall Eisenmangel im Kreise der Verdächtigen verbleiben. "Manchmal ist der Mangel im Körper selbst schon behoben, aber das Jucken bleibt einfach bestehen", erklärt mir Sonja Ständer.

"Jucken fängt als Symptom an, und das zentrale Nervensystem baut sich schnell um. Wenn ständig Juckbotenstoffe ausgeschüttet und die Rezeptoren aktiviert werden, dann verändert sich das ganze System. Es kommt nicht nur zu einer strukturellen Veränderung, die in der Haut durch das Kratzen noch befeuert wird. Sondern auch zu einer funktionellen: Die Nervenfasern sind dann viel empfindlicher, und es werden Nervenfasern hinzurekrutiert, die vorher vielleicht für Schmerz zuständig waren. Auf Grund solcher Sensibilisierungsvorgänge kann die Haut weiterjucken, auch wenn kein Eisenmangel mehr besteht." Der Juckreiz selbst könne mithilfe der "nicht Antihistaminika-basierten Therapieempfehlung“ aus den aktuellen Leitlinien erfolgreich behandelt werden, so Sonja Ständer.

In die Ambulanz in Münster kommen viele Juckreiz-Patienten erst nach langer Leidenszeit, "im Schnitt sechs Jahre“, sagt Sonja Ständer. "Die Belastung, die die Menschen mit chronischem Jucken durchmachen, ist enorm. Ich habe hier viele gestandene Männer und Frauen weinen sehen, die sagten: Ich kann nicht mehr, bitte helft mir!“ Doch der Juckreiz sei auch eine Chance, so Ständer, etwa als frühes Alarmsymptom auf einen Tumor. "Das sind hauptsächlich Tumore der Leber und des Blutes, die sind aber selten. Wir müssen 155 Patienten untersuchen, um einen Tumor zu finden."

Häufiger diagnostizieren die Ärztinnen und Ärzte im Kompetenzzentrum Leber- und Nierenerkrankungen oder Diabetes. Bei älteren Menschen mit diversen Krankheiten kann der Mix verschiedener Medikamente, die sie einnehmen, das Jucken verursachen. "Und wenn die Haut vor allem im Genitalbereich juckt, finden wir bei jedem Zweiten eine Sorbit-Intoleranz“, erklärt die Expertin. Über Genitaljucken sprächen die Menschen nicht so gern, aber wenn sie nach den entsprechenden Untersuchungen den Süßstoff wegließen, sei das Ganze plötzlich besser.

Stress kann den Juckreiz befeuern

Und was ist mit der Seele? Als mein Körper zu jucken anfing, fragte ich mich das natürlich: Ob ich mich nicht wohlfühle in meiner Haut oder aus selbiger fahren möchte – irgendwas ist ja immer, was einem gerade nicht passt. "Wenn wir uns schlecht fühlen, passiert was mit der Haut“, bestätigt Sonja Ständer. "Wir schütten Stresshormone aus, und dieses Corticotropin Releasing Hormon kann an der Haut binden. Und zwar an Allergiezellen, die dann Histamin ausschütten, und dann haben wir plötzlich eine Verstärkung von Juckreiz, oder Juckreiz entsteht überhaupt erst mal.“

Ich habe bis heute nicht herausgefunden, was meinen Körper in Aufruhr versetzt hat. Einige Zeit habe ich das Jucken mit einem Antihistamin-Gel behandelt und eine Bodylotion mit zehn Prozent Urea benutzt. Irgendwann ließ es nach, und ein paar Tage später fiel mir auf, dass ich mich nicht mehr kratzte. So richtig passte mir das anfangs nicht: keine Ahnung zu haben, welche Ursache hinter dem wochenlangen Juckreiz steckte. Aber auch damit war ich in guter Gesellschaft: "Wenn Patienten zu uns kommen, und wir finden nichts, sind die oft ein bisschen traurig“, berichtet Sonja Ständer.

"Ich sage dann immer: Stellen Sie sich das vor wie einen See, in den ein Stein geworfen wird. Der Stein liegt schon am Grund, er ist nicht mehr auffindbar. Aber die Wellen – das Jucken – sind noch vorhanden." Dieses Bild leuchtet mir ein, und am Ende zählt ja eh nur, dass alles wieder gut ist mit meiner Haut. Jeder weiß, wie beglückend es ist, wenn Schmerz nachlässt. Aber ein Körper, der gar nicht mehr juckt, macht mindestens genauso froh.

Brigitte

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