Ein Kribbeln in den Fingern, Schmerzen in den Gelenken. Eine seltsame Müdigkeit. Ein paar rote Flecken auf der Haut. Die Symptome beginnen oft schleichend. Wer damit zum Arzt geht, wird möglicherweise nicht ernst genommen, mit irgendeinem Rezept weggeschickt, als Hypochonder abgetan. Bis plötzlich ein erster Schub auftritt, so brutal, dass für jedermann klar wird: Es ist eine schwere Krankheit. Und sie hat begonnen, den Körper von innen zu zerstören.
Es sind keine Viren oder Bakterien, die krank machen, weder Krebszellen noch gutartige Wucherungen. Bei einer Autoimmunerkrankung greift der Körper sich selbst an. Und das ist keine seltene Laune der Natur mehr, sondern eine echte Zivilisationskrankheit: In den Industrieländern steigt die Zahl der Betroffenen dramatisch. Es sind in der Mehrheit Frauen, oft im Alter zwischen 20 und 40, aber auch immer mehr Kinder.
Etwa vier Millionen Kranke gibt es in Deutschland, die meisten leiden an Schuppenflechte, der Schilddrüsenerkrankung Hashimoto-Thyroiditis, rheumatischen Erkrankungen oder chronischen Darmentzündungen wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa. Rund 60 Autoimmunerkrankungen kennt man, weitere Leiden stehen im Verdacht, autoimmune Ursachen zu haben, wie Schizophrenie, Autismus oder Essstörungen.
Kaum etwas stellt die Medizin vor größere Rätsel: Wie entstehen diese Krankheiten? Welchen Verlauf werden sie im Einzelfall nehmen? Und wie lassen sie sich vielleicht einmal heilen? Der Umgang mit einer Autoimmunerkrankung bedeutet vor allem den Umgang mit vielen Fragen.
An den weit verbreiteten Schilddrüsenkrankheiten etwa leiden Frauen bis zu fünfmal häufiger, an rheumatoider Arthritis dreimal und an dem Sjögren-Syndrom, das Speichel- und Tränendrüsen betrifft, sogar neunmal häufiger als Männer.
Offenbar spielen weibliche Geschlechtshormone dabei eine wichtige Rolle: Oft bricht die Krankheit nach hormonellen Großereignissen aus, wie Geburt oder Menopause. Aber Östrogene können auch Linderung bringen: Vielen Rheumapatientinnen geht es in der Schwangerschaft deutlich besser. Das Abwehrsystem der werdenden Mutter verändert sich, um den Fremdkörper Kind zu tolerieren, und vielleicht schwächt das die Selbstangriffe.
Fest steht: Es gibt eine erbliche Veranlagung. Dabei sind es immer ganze Gruppen von Genen, die Gesunde von Kranken unterscheiden, und viele spielen gleich bei mehreren Autoimmunkrankheiten, z. B. Morbus Crohn und Psoriasis, eine Rolle. "Diese Gene bedeuten jedoch niemals Schwarz oder Weiß, sondern bilden eine Art Risikonetz", erklärt Prof. Stefan Schreiber, Sprecher des Forschungsverbundes "Exzellenzcluster Entzündungsforschung".
Wie hätte auch sonst die Zahl der Autoimmunerkrankungen in den letzten Jahren so deutlich steigen können? Die Bedeutung von äußeren Faktoren muss enorm sein. Zum Beispiel Gifte: Rauchen verdoppelt die Wahrscheinlichkeit für Gelenkrheuma.
Wer die entsprechenden Krankheitsgene in sich trägt, dessen Risiko steigt sogar um das 16-fache. Für den Lupus erythematodes werden unter anderem Weichmacher in Kosmetika verantwortlich gemacht. Und der Kontakt zu Mineralöl und Silikonstaub am Arbeitsplatz erhöht nachweislich die Gefahr für Gelenkrheuma.
Daneben könnten auch unsere veränderten Ernährungsgewohnheiten unser Immunsystem beeinflussen. Gerade entzündliche Darmerkrankungen nehmen zu, und für Zöliakie wird die frühe Gabe von getreidehaltiger Babykost verantwortlich gemacht. Und Stress? Viele Patientinnen und Patienten berichten davon, dass psychische Belastung einen Krankheitsschub auslösen kann. Dennoch ist sie, so Stefan Schreiber, nicht die Krankheitsursache: "Stress moduliert die Symptome, nicht die Entzündung selbst." Ganzheitlich orientierte Mediziner messen der Psyche einen höheren Stellenwert bei.
Eine weitere These: Statt Stress steckt Langeweile hinter dem Burnout der Abwehr. Hygiene, Medikamente und Impfungen haben Infektionen und Parasiten zurückgedrängt, so dass das Immunsystem kaum noch externe Feinde kennt und sich nun neue, körpereigene Ziele sucht. Auch für diese Hypothese gibt es Belege: Fadenwürmer, die im Darm siedeln, schwächen den Krankheitsverlauf einer multiplen Sklerose deutlich ab. Denn die Untermieter beeinflussen das Immunsystem: Entzündungsstoffe, die auch an der MS beteiligt sind, werden teilweise unschädlich gemacht.
Eigentlich bekämpfen die Patrouillen unserer Abwehr alles Fremde. Sobald sie Zellen mit unbekanntem Identitätsausweis aufspüren, schlagen sie Alarm, rufen weitere Truppen hinzu und beginnen mit der Maßanfertigung von Antikörpern. Im Thymus, einer Drüse unterhalb des Brustbeins, werden die so genannten T-Zellen regelrecht darauf geschult, die eigenen Zelltypen in all ihrer Vielfalt zu erkennen und zu verschonen. Im Falle der Autoimmunkrankheiten jedoch werden Zellen entlassen, die auf eigenes Gewebe wie einen Fremdkörper reagieren. So entstehen Entzündungen, die nicht mehr abklingen, das Gewebe kann seine Funktionen nicht mehr erfüllen und geht am Ende zugrunde.
Viele Betroffene fühlen sich von ihren Ärzten unverstanden und verzweifeln, bis endlich die Krankheit erkannt ist. Das liegt auch daran, dass viele autoimmune Erkrankungen anfangs sehr diffuse Probleme bereiten, darunter Juckreiz, depressive Verstimmung oder Verlust der Libido.
Und selbst die richtige Diagnose bedeutet noch lange nicht, dass die Beschwerden auch ernst genommen werden. "Ein bisschen Darm, sagen manche Kollegen", berichtet Gastroenterologe Schreiber von den Erfahrungen seiner Patientinnen und Patienten mit Morbus Crohn. Erst einmal abzuwarten, wie manchmal geraten wird, kann gefährlich werden. Gelenkrheuma lässt sich, wenn es rechtzeitig behandelt wird, sogar noch ganz zum Stillstand bringen. "Im ersten halben Jahr werden die Karten gelegt", so Prof. Angela Zink vom Deutschen Rheuma-Forschungszentrum in Berlin.
Autoimmunkrankheiten verlaufen meist in Schüben. Sie flammen schlagartig auf und flauen dann allmählich wieder ab. Doch niemand kann vorhersehen, wann der nächste Ausbruch kommt. Multiple Sklerose etwa geht in den meisten Fällen 10 bis 15 Jahre nach dem ersten Schub in eine dauerhafte, konstant fortschreitende Behinderung über. Bei 10 bis 20 Prozent der Betroffenen nimmt die Krankheit dagegen schon rasch einen ungünstigen Verlauf.
Bis heute existiert keine Therapie, die ein fehlgeleitetes Abwehrsystem wieder auf die richtige Bahn bringt. Die stärkste Waffe im Krankheitsschub ist weiterhin Kortison, weil es das Immunsystem lähmt. Gezielter als Kortison greift eine neuere, teilweise noch in der Entwicklung befindliche Therapieform mit so genannten monoklonalen Antikörpern in das Abwehrgeschehen ein: Sie blockieren zum Beispiel selektiv einen Signalstoff, der im Zentrum des Entzündungsgeschehens steht.
Eine Menge: Bei Rheuma und MS wirken Sport und Bewegungstherapien der verminderten Beweglichkeit entgegen. Die Umstellung der Ernährung kann hilfreich sein, denn manche Lebensmittel hemmen oder fördern offensichtlich die Produktion von Entzündungsstoffen. So zeigt das Vermeiden von Arachidonsäure aus Fleisch und Eiern oft günstige Wirkung.
Fast immer positiv wirkt es, Stress abzubauen oder Entspannungstechniken zu erlernen. Außerdem beeinflusst die psychische Stärkung der Betroffenen wiederum deren Immunsystem. Wichtig kann auch der Austausch mit anderen Betroffenen sein: Es gibt viele sehr aktive Selbsthilfegruppen.
Die Stammzelltherapie versucht, das Immunsystem nicht zu bändigen, sondern gleichsam dessen Reset-Taste zu drücken: Patienten werden dazu Stammzellen aus dem Knochenmark entnommen, dann tötet man ihr Abwehrsystem ab und startet es mit den entnommenen Zellen neu. Diese Behandlung war schon häufiger erfolgreich, hat aber auch Patienten das Leben gekostet: Die Sterblichkeit liegt bei zwei bis fünf Prozent. "Das Verfahren ist so eingreifend, dass man es in einem frühen Krankheitsstadium gar nicht einsetzen kann", urteilt der Entzündungsspezialist Prof. Stefan Schreiber.
Erst diesen Sommer hat die Forschungsgruppe um den Würzburger Neurologen Prof. Heinz Wiendl einen neuen Ansatzpunkt für Behandlungen entdeckt: Erstmals wurde bewiesen, dass im Gehirn von Multiple-Sklerose-Patienten nicht nur zerstörerische Prozesse ablaufen. Bestimmte Zellen stemmen sich dem Entzündungswerk sozusagen tapfer entgegen. Und eine therapeutische Vision ist es nun, Krankheiten zukünftig nicht mehr durch eine Schwächung des Angriffs, sondern eine Stärkung der Verteidigung zu behandeln. "Bis dies Patienten zugute kommt, wird es aber wohl noch einige Jahre dauern", schätzt MS-Experte Wiendl.
Viele Patientinnen und Patienten suchen unterdessen eigene Wege, mit ihrer Autoimmunerkrankung zu leben. Nicht selten entdecken sie dabei, dass ihnen guttut, was ihnen die Mediziner lange verbieten wollten: Sport treiben. Kinder kriegen. Ihr Leben genießen. Und damit dem Feind in ihrem Körper ihren ganz persönlichen Kampf ansagen.