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Ritalin für Erwachsene - ein Selbstversuch

Ritalin bekommen Kinder mit Aufmerksamkeitsstörung, um sich besser konzentrieren zu können. Hilft es auch einer gestressten, alleinerziehenden Mutter?
Ritalin für Erwachsene - ein Selbstversuch
© Yvonne Kuschel

Mein Alltag? Nennen wir ihn einfach "stressig"; als Selbständige lebt es sich mehr wechselhaft als frei. Meist habe ich morgens schon eine Stunde am Schreibtisch gesessen, ehe meine 18-jährige Tochter Charlie aufsteht. Mein Büro ist Teil unserer Wohnung, zwei Türklinken dienen als Funktionsschalter zwischen Beruf und Privatleben.

Gerade arbeite ich an einem größeren Auftrag: 100 Manuskriptseiten, zehn Tage Zeit - vor mir türmt sich eine knackige 70-Stunden-Woche. Ohne ein Sortiment legaler Wachmacher funktioniert das nicht: morgens Milchkaffee, nachmittags grüner Tee, abends "Red Bull" und dunkle Schokolade. Wenn gar nichts mehr geht, reibe ich mir das Gesicht mit einem Eiswürfel ab, das schindet noch eine letzte halbe Stunde aus der Nacht heraus. Anderntags kommt verlässlich die Quittung. Spätestens nachmittags zerfasert alle Konzentration wie die Fransen eines alten Teppichs. Doch einen Auftrag mal sausen lassen, zumindest einen realistischen Abgabetermin verhandeln - daran wage ich gar nicht zu denken. Immerhin muss ich allein für meine Tochter und mich sorgen. Da spare ich lieber an meiner Freizeit. Die ist in solchen Phasen natürlich reine Utopie - mit Ausnahme des Power-Yoga-Kurses am Dienstag, der bleibt unantastbar. Nahezu entspannt schlendere ich anschließend nach Hause, wo Charlie mit einer "Gossip Girl"-DVD auf mich wartet. Zusammengekuschelt sitzen wir dann auf dem Sofa und essen Pizza. Meist schlafe ich nach einer halben Stunde ein.

Das ist natürlich alles Wahnsinn. Sowohl der extreme Druck als auch mein Kniefall vor den immer zu knappen Fristen meiner Auftraggeber. Trotzdem: In zehn Tagen muss ich liefern. Da käme diese Leistungspille, von der alle Welt spricht, gerade recht. Ritalin. Das Medikament verhilft Kindern mit AD(H)S (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts- Syndrom) zu mehr Struktur und Ruhe. Gesunde macht es angeblich für lange Zeit total konzentriert.

"Hirndoping" oder "Neuro-Enhancement", wie man die Verbesserung der eigenen Leistungsfähigkeit durch verschreibungspflichtige Medikamente nennt, begann vor Jahren an amerikanischen Unis (um nächtelang lernen zu können) und ist inzwischen auch bei uns angekommen. Studenten und Professoren, Börsianer und Business-Leute putschen sich mit stimulierenden Mitteln - insgesamt fünf Prozent aller deutschen Arbeitnehmer, wie der DAK-Gesundheitsreport 2009 ergab. Inzwischen dürften es mehr sein. Es gibt Eltern, die ihren Söhnen vor dem Abitur ein wenig Ritalin verabreichen, zwecks Optimierung der Noten. Wo ist der Unterschied zu mir, die ich als berufstätige alleinerziehende Mutter unter ähnlichem Leistungsdruck stehe?

Ritalin besteht aus Methylphenidat, einer Amphetamin-ähnlichen Substanz, die chemisch nicht besonders weit von Speed und Ecstasy entfernt ist. Das Medikament unterliegt dem Betäubungsmittelgesetz, ohne Weiteres bekommt man es also nicht in die Finger. Andererseits reicht ein Klick bei einer internationalen Internet-Apotheke. Nein, besser nicht. Wer weiß, ob die rezeptfrei gelieferten Tabletten nicht in einem asiatischen Hinterhof-Labor produziert werden. Nach kurzer Suche finde ich einen Allgemeinmediziner, der willens ist, mir für den Selbstversuch eine Packung Ritalin zu verschreiben. Die Bedingung: Blutabnahme, regelmäßige Blutdruckkontrolle und ein EKG. Die möglichen Nebenwirkungen seien nicht ohne, sagt er.

Und dann liegt sie vor mir, die Konzentrationspille. Wie erwartet erweist sich der Beipackzettel als ungeeignet für schwache Nerven. Dunkelgrau unterlegt werden die gefährlichsten Nebenwirkungen aufgelistet; es gibt Risiken und Einschränkungen in Hülle und Fülle. Mir ist jetzt doch flau, "Psychose" gehört nicht gerade zu meinen Lieblingswörtern. Im letzten Moment halbiere ich die Tablette. Dann spüle ich fünf Milligramm Methylphenidat mit viel Wasser herunter.

15 Minuten später: Irgendetwas flutet den Bereich hinter meinen Augen, breitet sich immer weiter in meinem Kopf aus. Schwitzend sitze ich vor dem PC und wundere mich über das veritable kleine High, das da plötzlich in meinem Gehirn herumschwurbelt. Blutdruck und Puls sind deutlich erhöht. Weitere zehn Minuten später scheint die Außenwelt in einer Nebelbank zu verschwinden. Mit Hochgefühl texte ich vor mich hin und finde mich total lässig. Dass ich Satzteile immer wieder unschlüssig hin- und herschiebe, merke ich zwar, aber es ist mir egal. Ich bin cool! Die Zeit verfliegt wie nichts. Abends beim Power-Yoga absolviere ich Sonnengrüße im Dutzend und eile schnurstracks wieder nach Hause. Während die Spaghetti-Soße vor sich hinköchelt, wische ich schnell noch die ganze Wohnung. Eigenartig.

Anderntags stelle ich bei der ersten Tasse Milchkaffee irritiert fest, dass alles, was ich gestern geschrieben habe, langatmig und voller Tippfehler ist. Wie kann das sein? Wahrscheinlich waren fünf Milligramm Ritalin eine zu geringe Dosis, um den Turbo zu zünden. Damals im Jahr 1944, als die Geschichte ihren Anfang nahm, funktionierte das ja fast wie von selbst: Nachdem der Chemiker Leandro Panizzon jenes Methylphenidat hergestellt hatte, ging er zu seiner Frau Marguerite, die alle nur Rita nannten, und sagte ungefähr Folgendes: "Schatz, ich habe gerade etwas entdeckt, das dich vielleicht munterer macht. Probier doch mal aus!" So man der Legende glauben darf, fegte Rita anschließend beim Tennis alle Gegnerinnen vom Platz, und Leandro benannte stolz die neuartige Substanz nach ihr: Das Ritalin war geboren. Gegen leichte Depressionen und Ermüdbarkeit kam es 1954 in Deutschland auf den Markt. Noch in den Sechzigern gab es den Muntermacher ganz ohne Rezept. Zu diesem Zeitpunkt hatte eine US-Studie bereits ergeben, dass verhaltensauffällige und hibbelige Kinder durch Ritalin ruhiger wurden und besser mit der Welt zurande kamen. Und die Welt auch mit ihnen. Nach und nach entstand das Krankheitsbild AD(H)S: der Beginn des bis heute kontrovers diskutierten Siegeszugs von Ritalin.

Für den Pharmakonzern Novartis ist Ritalin eine Gelddruckmaschine: Allein aus dem weltweiten Verkauf von Methylphenidat flossen im vorletzten Jahr 550 Millionen Dollar in die Kasse. Zwar geht der Löwenanteil in die USA, doch auch in Deutschland optimiert die Pharma- Industrie mit Methylphenidat-Produkten ihre Gewinnzahlen: Zwischen 1993 und 2011 stieg der Absatz um mehr als das 50-fache. Heute nehmen bei uns rund 300 000 Kinder die Substanz ein, die Zahl der verordneten Tagesdosierungen wächst weiter. Seit April 2011 ist Methylphenidat auch für die Behandlung erwachsener AD(H)S-Patienten zugelassen. Gedealt wird mit dem Mittel sowieso schon überall. Es gibt Jugendliche und Partygänger, die zerstoßenes Ritalin wie Kokain durch die Nase ziehen, andere jagen sich den aufgelösten Wirkstoff in die Vene. Über Spätfolgen weiß man bis heute nur wenig.

Trotzdem starte ich mutig den zweiten Versuch. Am Mittag drücke ich eine ganze Tablette aus der Verpackung. Komm schon, Rita. Und sie kommt. Heute treibt sie meinen Puls zügig hoch auf 98. Kein angenehmes Gefühl, umso mehr, als diese widersinnige Euphorie erneut in mir aufsteigt. Mit rauschendem Blutdruck sitze ich am Schreibtisch und warte, dass mein Gehirn endlich Vollgas gibt. Was ist denn nun mit dem maximalen Leistungshoch?

Nichts. Auf absurde Weise fühle ich mich betrogen. Versprochen wurde mir Rita im Business-Anzug, straff und effizient - bekommen habe ich stattdessen einen nervösen Neo-Hippie. Liebes Gehirn, was soll der Quatsch?

Neurochemisch gesehen passiert nach der Einnahme Folgendes: Im Gehirn gibt es den wichtigen Botenstoff Dopamin, auch als "Glücks- und Belohnungshormon" bekannt. Ist zu wenig davon da, funktioniert die Reizverarbeitung an den Nervenzellen nicht optimal. Methylphenidat sorgt dafür, dass die Dopamin- Konzentration steigt. Infolgedessen können sich Antrieb, Aufmerksamkeit und Leistung verbessern. Eigentlich.

Mit dem Gefühl, neben mir zu stehen, arbeite ich bis abends, erneut ohne Herausragendes zu leisten. Ich schlafe noch später ein als sonst und träume, mein Ex-Mann heirate die Ex-Freundin meines Ex-Freundes. Himmel, hilf!

Sonntag. Heute pfusche ich nicht an meinem Hirn rum. Mein nicht optimiertes Normal-Ich hängt durch, als hätte es einen Kater. Ich müsste mich um Überweisungen und Steuererklärung kümmern, aber eigentlich will ich nur, dass mir jemand etwas Warmes kocht und den Arm um mich legt. Weder gegen das eine noch für das andere gibt es Pillen.

Montags treffe ich Professor Klaus Lieb. Er leitet die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Mainz und forscht zum Thema Hirndoping. Die neueste Studie mit über 2800 Studierenden belegt, dass 20 Prozent bereits Erfahrung mit Mitteln zur geistigen Optimierung gemacht hatten. "Der ständige Druck, alles umzusetzen, was sich an Möglichkeiten bietet, wird durch Hirndoping noch angetrieben", so Lieb. "Also nicht Nein sagen zu können, sondern immer das Letzte aus sich rauszuholen und dann ständig gehetzt zu sein. Wie optimiere ich mich - das fängt bei der Schönheitschirurgie an, und mit dem Gehirn macht man's dann auch. Es sind sehr ähnliche Mechanismen. Und die sind gefährlich."

Ich hake nach. Sind Psychostimulanzien während extremer Arbeitsphasen denn nicht auch nützlich? "Solche Stoßzeiten haben ja viele", erklärt Lieb. "Über eine kurze Phase wird man es hinbekommen, sich mit Kaffee und Stimulanzien wach zu halten. Aber man häuft natürlich ein Schlafdefizit an. Und irgendwann muss man eine Pause machen, sonst gerät man in eine Spirale aus dauernder Anspannung, Aufputschen und Nicht-schlafen-Können. So ein anhaltender Stresszustand endet chronisch in einem Burnout. Der Griff zur Pille ist extrem riskant, weil man damit erst recht das ganze System anheizt."

Und wie sieht es mit Gefahren jenseits von Campus und Management aus? "Solche belastenden Situationen erleben zum Beispiel alleinerziehende Mütter ebenfalls, wenn sie halbtags jobben und vielleicht mit einem kleinen Kind auf dem Arm die halbe Nacht wach sind", sagt Professor Lieb. "Sobald man an dem Punkt ist, Stimmungsaufheller oder eine leistungssteigernde Substanz in Erwägung zu ziehen, sollten die Alarmglocken läuten. Und dann sollte man auch wirklich etwas verändern: sich gesunde Alternativen überlegen, die eigenen Leistungsansprüche herunterschrauben, Grenzen setzen. Ganz wichtig ist ausreichend Schlaf, auch in Stressphasen."

Ich bekenne nun den Selbstversuch. Weshalb verlieh Rita mir keine Flügel? "Zum einen bestimmen wahrscheinlich genetische Faktoren darüber, ob man auf Ritalin eher anspricht oder nicht", erläutert Lieb. "Ebenso ist es genetisch mitbedingt, ob man mit einem höheren oder niedrigeren Dopaminspiegel durchs Leben geht. Ein großer Teil der Wirkung von Methylphenidat ist auch auf Erwartungen und Placebo-Effekte zurückzuführen - bei Gesunden, die Ritalin nehmen, wahrscheinlich noch mehr. Zudem spielt auch noch der Ausgangspunkt eine wichtige Rolle: Fit und ausgeschlafen haben Sie ohnehin einen eher höheren Dopaminspiegel. Wenn Sie nun noch Ritalin schlucken, nimmt der Dopaminspiegel weiter zu und die Leistungsfähigkeit ab einem bestimmten Punkt ab, wie wenn man einen Motor überdreht. Sie merken dann nur die Nebenwirkungen, also Unruhe, Nervosität, Schlafstörungen."

Das Gehirn macht also einfach nicht mit, wenn man ihm per pharmazeutischer Keule befehlen will, noch wacher als wach zu sein. "Nach Schlafentzug funktioniert Ritalin besser als ohne", fügt Professor Lieb noch hinzu, "aber, und das ist das Fazit: Das Nutzen-Risiko-Verhältnis dieser Substanzen rechtfertigt nicht den Einsatz bei Gesunden. Erstens haben sie ernstzunehmende Risiken. Zweitens ist der Konsum nicht legal. Drittens: Kaffee hat genauso gute Effekte. Deswegen sage ich immer: Trinkt ausreichend Kaffee!"

Dienstag. Meine letzte Verabredung mit Rita. Um sechs Uhr zwinge ich mich also aus dem Bett und arbeite so lange bei Kaffee und grünem Tee, bis ich über der Tastatur einnicke. Erst dann schlucke ich 15 Milligramm Ritalin, mehr als jemals zuvor. Und an diesem Abend zieht Rita sich tatsächlich den Business- Anzug an. Kein Geschwurbel im Hirn, kein nervöses Herzklopfen. Bis Mitternacht klebe ich wach und konzentriert vor dem Monitor. Zwischendurch kommt Charlie aufgewühlt nach Hause, ein Streit mit ihrer Freundin macht ihr zu schaffen. Reichlich kurz angebunden fertige ich sie ab und sitze zwei Minuten später schon wieder am Schreibtisch.

Tatsächlich könnte ich mir nun einreden, das Ritalin sei der Motor, der mich heute so vorantreibt. Doch in Wahrheit bin ich allenfalls einen Hauch leistungsfähiger als sonst zu später Stunde, wenn ich mich mit starkem Kaffee, "Red Bull" und dunkler Schokolade aufputsche. Das aber ohne Gesundheitsrisiken. Und netter zu Charlie bin ich ohne Ritalin auch. Mittwoch. Die letzten Seiten des Manuskripts. Es könnte alles so schön sein mit den Psycho-Pillen, denke ich auf dem Weg zur Post: der Müdigkeit ein Schnippchen schlagen, jederzeit das verlangte Mehr an Leistung bringen - und dabei ignorieren, dass die Messlatte so automatisch wieder ein paar Zentimeter höher liegt. Höchste Zeit, im Umgang mit meinen Auftraggebern das Wort "Nein" zu lernen. Danke, Professor Lieb. Durch die klare Winterluft trödle ich zurück, während mein Gehirn endlich wieder Zwischen- und Grautöne auffängt. Duft aus der Bäckerei, Saxophonklänge - unter Ritalin habe ich alles übersehen, überhört, übergangen. Und Charlie hatte gestern so traurige Augen. Ich schicke ihr eine SMS: "Bin gleich da. Pizza und 'Gossip Girl'?"

Hirn-Doping aus der Apotheke

Mehr Risiken als Nutzen: Wie andere Mittel wirkenModafiniL (VIGIL): Das Psychostimulans wird bei extremer Tagesmüdigkeit verordnet, also etwa gegen Narkolepsie (Schlafkrankheit) oder bei Störungen im Schlaf-Wach-Rhythmus. Schichtarbeiter, Lkw-Fahrer, Chirurgen, Polizisten nehmen es und todmüde Manager ebenfalls. Die Einnahme kann zu schweren psychiatrischen Reaktionen und Herzrhythmusstörungen führen.

Alzheimer-Medikamente: Bei Patientinnen und Patienten mit Altersdemenz hemmen diese Medikamente den geistigen Abbau. Hirn-Doper nutzen sie in der Hoffnung auf ein besseres Gedächtnis und eine gesteigerte Lernfähigkeit. Ein sinnloses Unterfangen: Keines der Mittel macht klüger oder verbessert bei gesunden Menschen die Gedächtnisleistung.

Antidepressiva: Die Psychopharmaka werden hauptsächlich bei Depressionen eingesetzt, aber z. B. auch, um Angststörungen zu behandeln. Bei Gesunden verbessern sie das psychische Wohlbefinden eindeutig nicht. Ihr Effekt beschränkt sich auf das Nachlassen von Aufmerksamkeit und Wachheit. Nebenwirkungen können Kopfschmerzen, Ruhelosigkeit und Übelkeit sein.

Text: Ariane Lahoda Illustration: Yvonne Kuschel BRIGITTE 2/2013

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