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Gesund durchs Gehen: So hast du mehr vom Leben

Gesund durchs Gehen: Frau geht mit Hund spazieren
© Osadchaya Olga / Shutterstock
Wer gut zu Fuß ist, hat mehr vom Leben. Warum es sich lohnt, Schritt für Schritt wieder mobiler zu werden, erklärt die renommierte Gangexpertin Kirsten Götz-Neumann

BRIGITTE WIR: Die Menschheitsgeschichte beginnt mit dem aufrechten Gang. Warum ist Gehen für uns so wichtig?

KIRSTEN GÖTZ-NEUMANN: Gehen ist mehr als unsere Grundbewegungsform. Mit dem Gehen hat sich unser differenziertes Gehirn entwickelt. Der aufrechte menschliche Gang hat Anmut, Schönheit, etwas Königliches. Gehen ist ein Lebenselixier, eine elementare Möglichkeit für körperliches und seelisches Wohlbefinden. Und Gehen ist Mobilität, die Freiheit, aufzustehen, einfach loszugehen, dahin, wohin mich meine Füße tragen, unabhängig von jemand anderem. Wer nicht mehr gehen kann, ist seiner Mobilität beraubt, seiner Freiheit, sein Leben so zu führen, wie er möchte.

Dann gehen auch viele soziale Kontakte verloren und oft die Möglichkeit, elementare Dinge wie Einkäufe selbst erledigen zu können. Welche Bedeutung hat die Art und Weise, wie ich durch die Welt gehe, für meine eigene Lebensgestaltung?

Das eigene Lebensgefühl hängt ganz eng mit der Gehfähigkeit zusammen. Wenn es immer schwerer wird, Bewegungen schnell zu steuern und der Körper bei jedem Schritt hart aufprallt, statt sanft gedämpft zu werden, macht das Gehen irgendwann keinen Spaß mehr. Das merkt man den Menschen an. Niemand muss wie ein stolzer Spanier gehen. Aber aufrecht mit Würde und Freude wäre erstrebenswert. Ein beschwingter Gang hat etwas mit Glück zu tun.

Gehen ist Freiheit

Wir sind zu einer sitzenden Gesellschaft mutiert. Welche Folgen hat das für uns und den Fortschritt der Menschheit?

Für Kinder ist es in ihrer neuronalen Entwicklung für die Verkabelung des Gehirns ungeheuer wichtig, sich regelmüßig zu bewegen. Aber auch für uns Erwachsene gilt: Wer nur verkümmert auf dem Sofa oder vor einem Bildschirm sitzt, erfährt nicht, wie sich die Welt anfühlt. Er ist in seiner Entwicklung geschädigt und eines seiner wesentlichen Menschenrechte beraubt.

Uns wird vorgegaukelt, dass wir übers Internet bequem von zu Hause aus viele Dinge erledigen können. Doch diese Bequemlichkeit hat ihren Preis: Zivilisationskrankheiten und Gehirnabbau. Es ist wichtig für uns, unseren Körper zu bewegen, rauszugehen, in den Alltag, in die Natur. Ich wünsche mir für jeden Menschen, dass er das lange kann.

Gehen ist eine motorisch sehr anspruchsvolle Tätigkeit. Was sind die größten Fehler, die wir dabei machen?

Gehen lernt ein Kind von Fall zu Fall. Das heißt: Gehen ist nichts anderes als aufgefangenes Fallen. Ich bringe meinen Körperschwerpunkt aus dem Gleichgewicht heraus über meinen Vorfuß hinweg, hebe die Ferse ab, und das andere Bein schwingt nach vorn und fängt mich sanft wieder auf. Der freie Fall und das Auffangen, diese zwei machen das Gehen aus.

Leider geht die Fähigkeit vielen Menschen im Laufe ihres Lebens verloren - vor allem, weil ihre passiven Stoßdämpfer Bandscheiben, Meniskus, Gelenkknorpel und Knochenhaut Probleme bereiten. Fehlt die aktive Stoßdämpfung, sind Verschleiß und Schmerz die Folge, vor allem an den Füßen, Knien und Hüftgelenken.

Woran liegt das?

Ein Riesenproblem ist auch hier das Sitzen. Wenn ich meinen großen Gesäßmuskel, der mich aufrichtet, stabilisiert und eine wichtige Verbindung zwischen Rumpf und Beinen darstellt, ständig als Kissen missbrauche, wird er mit der Zeit platt. Entsprechend ist sein Gegenspieler, der Muskel, der das Hüftgelenk beugt, in einer angewinkelten statt gestreckten Position. Er zieht die Wirbelsäule nach vorn und macht sie krumm.

Der Mensch passt sich an seine Lebensverhältnisse an und ist dadurch über kurz oder lang komplett nach hinten ausgerichtet. Doch wer eine Treppe runtergehen will, darf sich nicht nach hinten lehnen. Das ist wie beim Skifahren oder Tangotanzen.

Die Muskulatur spielt also eine große Rolle. Wie wichtig ist regelmäßiges Krafttraining?

Das ist eine Gesundheitsgarantie. Aber Kraftaufbau allein bringt es nicht. Wichtig ist immer eine Kombination aus Kräftigen, Dehnen und Spaß an Bewegung.

Bewegung beginnt im Kopf

Wenn der Gleichgewichtssinn mit den Jahren leidet, verschlechtert sich der Gang, und das Sturzrisiko steigt ...

Das kommt alles zusammen. Wenn ich keine Muskeln habe, die mein Gleichgewicht sichern, kann ich keine Balance halten. Aber auch der beste Gleichgewichtssinn bringt mir nichts, wenn mein Gehirn nicht schnell reagiert oder meine Muskeln nicht kräftig genug sind. Daher kann Training, zum Beispiel die Zähne immer auf einem Bein stehend putzen, nicht schaden.

Sie haben das Programm "Gehen verstehen" entwickelt. Ihr Motto ist: "Bewegung beginnt im Kopf". Müssen wir alle einfach nur umdenken, um wieder mobiler zu werden?

Auf jeden Fall. Früher dachte man, Autos seien der Luxus. Und heute gilt es als etwas Tolles, nur nicht aufzustehen und selber irgendwo hingehen zu müssen. Da sollten wir grundsätzlich umdenken. Denn inzwischen ist klar: wir schaden massiv unserer Gesundheit. Gerade Menschen, die nicht mehr ganz so jung sind, sollten dringend in Bewegung bleiben.

Denn wenn der Körper aufgrund mangelnden Trainings irgendwann nicht mehr so reaktionsfähig ist, steigt das Risiko für Verletzungen. Dann beginnt der Teufelskreis. Und dieser lässt sich nur mit fachkundiger Hilfe durch erfahrene Therapeuten, die zum Beispiel in meinem Programm geschult sind, durchbrechen.

Was genau wird dann gemacht?

Wie gesagt: Gehen beginnt im Kopf. Nicht im Gelenk, nicht im Muskel, nicht im Nerv, sondern mit dem Wunsch, aufstehen und gehen zu wollen. Deshalb beginnt auch mein Programm im Kopf. Ich frage meine Patienten immer als Erstes: Was wünschst du dir? Ich frage nicht nach der Diagnose, danach, was sie krankmacht, das sehe ich ohnehin schnell genug.

Ich will wissen: Was möchtest du erreichen? Was ist dein Ziel? Natürlich mache ich Bewegungsdiagnostik, eine Ganganalyse und lasse die Patienten Punkte dorthin kleben, wo die stärksten Schmerzen sind. Aber dann arbeite ich gezielt und individuell mit ihnen nach bio-mechanischen Prinzipien daran, ihre Bewegungsabläufe zu verbessern und sie durch diese neu erlernten, korrekten Bewegungsabläufe von ihren Schmerzen zu befreien.

Das Gehen regt auch die Gedanken mit an

Wie lange dauert das?

Das ist ganz unterschiedlich. Aber der Ethik-Kodex des Programms verlangt, dass ein Mensch spätestens nach der dritten Therapie-Einheit wieder auf seine Füße kommt. Das heißt nicht, dass die Behandlung damit abgeschlossen ist. Aber er soll das Gefühl bekommen: Es geht voran. Dann beginnt der lange Weg der Konditionierung des Neuen.

Vor Kurzem habe ich eine ältere Frau behandelt, die alle paar Minuten auf die Toilette musste und kaum eine Treppe hinunterkam, weil sie schon nach zehn Stufen unerträgliche Schmerzen hatte. Als ich sie fragte, was sie sich wünsche, sagte sie: Ihre Blase besser kontrollieren und wieder tanzen zu können. Ich habe Musik angestellt und ihr geholfen, mit dem Bild des Tanzens im Kopf die Stufen zu meistern und ihren Körperschwerpunkt nicht nach hinten auszurichten - sondern nach vorn.

Nach anderthalb Stunden ging sie singend die Treppe rauf und runter - und war die ganze Zeit nicht auf der Toilette gewesen. Ziel von "Gehen verstehen" ist es, sich neu zu erleben und erfinden zu dürfen. Es gibt immer einen Weg aus dem Teufelskreis. Leider sind gut ausgebildete Gehen-verstehen-Practitioner bisher noch rar gesät, vor allem in Deutschland. Und die Behandlung wird auch noch nicht von den Krankenkassen bezahlt. Wer ernste Probleme hat, sollte sich aber nicht scheuen, auch weitere Wege auf sich zu nehmen.

Und damit es erst gar nicht so weit kommt, sollten wir alle wieder mobiler werden und mehr gehen. Sollte der klassische Spaziergang, das, was früher das Lustwandeln, Flanieren, Promenieren war, eine Renaissance erleben?

Das wäre wunderbar. Im Augenblick sind ja eher Gehmeditationen angesagt. Sicher schön für alle, die langsam wieder auf die Füße kommen wollen. Aber es muss zum Menschen passen. Das Lustwandeln neu zu beleben ist eine fantastische Idee. Wer mag, sollte so oft wie möglich einen Spaziergang genießen.

Wer sitzt, sitzt auch auf seinen Gedanken. Eine Konferenz im Sitzen ist absolut kontraproduktiv. Wer dagegen aufsteht und geht, kommt gedanklich weiter. So gewinnt man nicht nur Mobilität in den Beinen und einen größeren Bewegungsradius, sondern auch neue Möglichkeiten und Perspektiven im Leben.

Hier sind noch drei Übungen von der Expertin:

WADENMUSKULATUR STÄRKEN

Halten Sie sich an Ihrem Küchentresen oder einem Sideboard fest. Nun heben Sie abwechselnd die linke und die rechte Ferse hoch und stellen sich auf die Zehenspitzen, am besten zu Musik - 20 bis 25 Mal auf jedem Fuß. Anfangs klappt das vielleicht nur 15 Mal. Wer geübt ist, stellt sich nur auf ein Bein und trainiert mit diesem. Anschließend kommt das andere Bein dran. Wer diese "Fersenanhebungen" nur 5 bis 9 Mal schafft, sollte täglich dreimal üben und einen im Programm "Gehen verstehen" geschulten Therapeuten suchen.

Kirsten Götz-Neumann: "Bei 40 Prozent der Gangphasen sind wir - unbewusst - im Einbeinstand. Die Wade ist der goldene Muskel der Gehfähigkeit. Leider ist dies auch der erste Muskel, der beim Älterwerden an Kraft verliert. Schafft die Wade es nicht mehr, dass wir unseren Körperschwerpunkt über den Vorfuß hinausbringen, bricht der Gangzyklus vorzeitig ab. Das Gehen bereitet Probleme, und die Gehstrecke wird immer kürzer."

GROSSEN GESÄSSMUSKEL TRAINIEREN

Stellen Sie sich vor, zwischen Ihren Pobacken steckt eine goldene Münze. Spannen Sie dazu Ihren großen Gesäßmuskel 60 Sekunden lang kräftig an, dabei weiter atmen. Nach einer kurzen Pause die Übung wiederholen. Dreimal täglich bzw. so oft wie möglich üben, vor allem, wenn man lange sitzen muss.

Kirsten Götz-Neumann: "Unser Gehirn kann den großen Gesäßmuskel, den Gluteus maximus, nur schwer sensorisch und motorisch ansteuern. Wichtig ist deshalb, dass wir überhaupt ein Gefühl für ihn bekommen. Und dass wir weniger auf ihm sitzen und ihn stattdessen mehr aktivieren."

AUFSTEHEN ÜBEN

Setzen Sie sich auf einen Stuhl oder Hocker. Stellen Sie die Füße nebeneinander auf den Boden und stehen Sie dann auf, ohne die Hände dabei zu Hilfe zu nehmen. Am besten macht Ihr Partner, Ihre Partnerin oder ein Freund, eine Freundin, dabei ein Video in Seitenansicht von Ihnen. Wichtig ist, dass der Körperschwerpunkt nach vorn kommt. Schultern, Kopf, Bauchnabel, alles sollte beim Aufstehen deutlich nach vorn oben gehen. Arbeiten Sie daran, indem Sie immer wieder aufstehen und sich hinsetzen. Nicht vergessen: Spätestens nach zwei Stunden Sitzen immer aufstehen!

Kirsten Götz-Neumann: "Ist der Körperschwerpunkt nach hinten ausgerichtet, besteht keine Chance, alle fürs Gehen wichtigen Muskeln zu aktivieren. Die dafür nötige Biomechanik funktioniert nur, wenn wir unseren Körperschwerpunkt nach vorn bringen. Da uns unsere Haltung oft selbst gar nicht bewusst ist, ist es sinnvoll, dass anfangs ein geschulter Beobachter Rückmeldung gibt."

Brigitte WIR 06/2018

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