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Orthorexie: Wenn gesund essen krank macht

Orthorexie: Wenn gesund essen krank macht
© iStock/thinkstock
Essen ist eine schöne Sache. Nicht aber, wenn man krampfhaft versucht, alles richtig zu machen, was Nährstoffe und gesunde Lebensmittel angeht. Solche Menschen leiden an Orthorexie, einer Krankheit, die zu den Essstörungen zählt.

Kate Finn hatte versucht, alles hundertprozentig richtig zu machen. Die amerikanische Yoga-Lehrerin verschrieb sich der Rohkost-Bewegung, um ihren Körper nachhaltig zu entgiften und ihre Verdauung in den Griff zu bekommen. Sie aß nur Früchte und rohes Gemüse, zwischendurch fastete sie. Der unerwünschte Nebeneffekt: Sie nahm dramatisch ab. Alle glaubten, sie litte an Magersucht, ihre Familie schickte sie gegen ihren Willen in Behandlung. "Meine Eltern dachten, ich hätte Angst dick zu werden, dabei war mein Ziel immer nur die Gesundheit." Eines Tages starb sie an Mangelernährung.

Kates Schicksal ist selten. Aber Fakt ist, dass immer mehr Menschen an "Orthorexia nervosa" leiden. Diese Essstörung rückt gerade wieder in den Fokus, seit Ernährungstrends wie "Clean Eating", "Raw Food" und "Detoxing" angesagt sind. Den Begriff Orthorexie (griech. orthos = richtig, orexis = Appetit) prägte der amerikanische Arzt Steven Bratman in seinem Buch "Health Food Junkie". Schon 1997 beschrieb er eine Form von Essstörung, die aus der Besessenheit resultiert, nur die gesündesten Lebensmittel zu verzehren.

Der Wunsch nach Kontrolle

Die Obsession mit Spurenelementen und Vitaminen beginnt oft ganz harmlos - mit dem durchaus positiven Wunsch, sich gesünder zu ernähren. Doch fast unmerklich kann die Beschäftigung mit dem ausgeklügelten Speiseplan "ein Ventil werden, gerade für Menschen, die wenige Inhalte haben," weiß Andreas Schnebel, therapeutischer Leiter bei der Beratungsstelle ANAD e.V.. Der Übergang zu einer Essstörung ist fließend und wird von den Betroffenen oft gar nicht wahr genommen: Sie tun sich ja etwas Gutes. Für Sigrid Borse, Geschäftsführerin des Frankfurter Zentrums für Essstörungen, liegen die Ursachen in dem Bemühen, sich zumindest in Bezug auf den eigenen Körper Handlungsfähigkeit zu bewahren: Die Betroffenen versuchten, sich gegen die unkontrollierbaren Gefahren der Welt abzusichern, indem sie ihnen ein eigenes Kontrollsystem entgegensetzten. Wer wenigstens überprüfen kann was er isst, fühlt sich weniger ausgeliefert.

Was ist gesund, was schädlich?

Die Verwirrung ist groß, denn es wird immer schwieriger, sich einen unverkrampften Umgang mit Lebensmitteln zu bewahren. Ob Omega-3-Fettsäuren, glutenfreies Getreide oder "Superfood" wie Algen und Chia-Samen: Immer wieder kommt die Lebensmittelindustrie mit neuen angeblich supergesunden Lebensmitteln und Zutaten um die Ecke. Für Orthorektiker absolute No-Gos sind etwa Zucker, Weißmehl und Lebensmittel mit Zusatzstoffen. Zusätzlich nähren Skandale, das immer unübersichtlicher werdende Angebot an Produkten, die Flut an Güte- und Prüfsiegeln sowie zweifelhafte Werbeaussagen das Misstrauen der Menschen. Und erschweren die Lebensmittelwahl zusätzlich.

Orthorektiker entwickeln eine so große Angst vor vermeintlich schädlichen Nahrungsmitteln, dass sie sich äußerst strengen Ernährungsregeln unterwerfen. Sie verbringen sehr viel Zeit damit, ihre Mahlzeiten penibel zu planen. Jeglicher Lebensinhalt wird auf das Essen übertragen - ebenso wie bei Magersüchtigen oder Bulimikern. Die Motivationen unterscheiden sich allerdings: Während Anorektiker abnehmen wollen, wollen sich Orthorektiker rein, gesund und natürlich ernähren. Entsprechend überlegen fühlen sie sich gegenüber Menschen, die ihre Lebensmittel eher nach Geschmack und Genuss auswählen.

Der Weg in die Isolation

"Orthorektiker engen ihr Leben dramatisch ein, können beispielsweise nie mit Kollegen oder Freunden eine Pizza essen gehen. Sie essen nur, was sie selbst gekauft und zubereitet haben," berichtet Andreas Schnebel von ANAD. Das "richtige" Essen wird wichtiger als alles andere - Liebe, Freunde und andere Interessen treten in den Hintergrund, die Betroffenen isolieren sich, Essen verliert seine soziale Funktion. Steven Bratman, der in seinem Buch aus eigener Erfahrung spricht, beschreibt den Höhepunkt seiner Essstörung so: "Ich aß kein Gemüse, das vor mehr als 15 Minuten geerntet wurde. Ich aß immer alleine an einem ruhigen Ort, kaute jeden Bissen 50 Mal und hörte auf zu essen, sobald mein Magen halb voll war. Der Zwang, Lebensmittel aufzutreiben, die weder Fleisch, Fett noch künstliche Inhaltsstoffe enthielten, machten alle sozialen Formen des Essens unmöglich." Später wurde ihm klar: "Ich war einsam und besessen."

Falls Sie das Gefühl haben, an einer Orthorexie zu leiden, dann checken Sie am besten Ihre Situation mit dem folgenden Test, entwickelt von Steven Bratman.

sar

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