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Was sind die Ursachen von Magersucht?

Wenn junge Mädchen bis auf die Knochen abmagern, liegt das eher an den Genen als an der Erziehung - diese Erkenntnis krempelt zur Zeit die Behandlung von Ess-Störungen um. Ein Gespräch über die Ursachen von Magersucht.
Was sind die Ursachen von Magersucht?
© 1100/photocase.com

BRIGITTE: Neuerdings ist viel von körperlichen Ursachen der Magersucht die Rede. Das heißt, eine Essstörung passiert einfach, wie ein Beinbruch?

Prof. Michael Schulte-Markwort: Nein, ganz so ist es nicht. Aber es gibt immer noch sehr viele Psychotherapeuten, die daran festhalten, dass Magersucht eine vorwiegend und ursprünglich psychisch bedingte Krankheit ist. Und das stimmt einfach nicht! Wir müssen akzeptieren, dass die Entstehung in einem komplexen Geflecht aus Veranlagung, den Folgen längerer Hungerphasen und psychischen Veränderungen zu suchen ist. Diese Erkenntnis verändert derzeit auch die Behandlung von Anorexie.

Die Mädchen können nicht anders.

BRIGITTE: Können Sie ein Beispiel nennen?

Prof. Michael Schulte-Markwort: Wir haben Patientinnen, die machen die ganze Nacht Gymnastik, manche turnen, bis sie bluten. Oder sie rennen die Treppe 200-mal rauf und runter. Das haben wir ihnen lange verboten, weil wir unterstellt haben, sie tun das nur, um Kalorien zu verbrauchen. Heute wissen wir jedoch: Das ist kein psychischer Impuls, weil sie dünn werden wollen, sondern diese Hyperaktivität hat mit den körperlichen Folgen des Hungerzustands im Gehirn zu tun. Die Mädchen können nicht anders. Studien haben gezeigt, dass der Bewegungsdrang durch das Hungern entsteht.

BRIGITTE: Dann dürfen die Mädchen sich jetzt die ganze Nacht bewegen?

Prof. Michael Schulte-Markwort: Nein. Aber wir gehen ganz anders mit ihnen um. Wir machen ihnen keine Vorwürfe mehr wie: Du bist schon wieder gelaufen, du hast schon wieder die Treppe benutzt. Stattdessen stellen wir uns an ihre Seite und sprechen mit ihnen: Du Arme, kannst nicht aufhören zu laufen, wie können wir da helfen?

BRIGITTE: Und wie sieht diese Hilfe konkret aus?

Prof. Michael Schulte-Markwort: Wir versuchen, die Patientinnen mit ins Boot zu holen. Wir sagen den Mädchen: Du kannst turnen ohne Ende, das kann und will ich nicht kontrollieren. Aber ich will dich erreichen und deinen Gesundheitswillen sehen. Im Einzelfall kann diese partnerschaftliche Herangehensweise auch dazu führen, dass wir Medikamente gegen den Bewegungsdrang geben, so genannte atypische Neuroleptika, die nicht benommen machen, aber die Hyperaktivität regulieren. Das besprechen wir dann ganz offen mit der Patientin und ihren Eltern.

Es macht es keinen Sinn zu sagen: Jetzt guck doch mal in den Spiegel!

BRIGITTE: Was läuft denn anders im Gehirn eines magersüchtigen Mädchens?

Prof. Michael Schulte-Markwort: Zum Beispiel ist das Sättigungszentrum der Mädchen gestört, das zeigen Aufnahmen aus dem Gehirn. Die Patientinnen sind viel früher satt als ein gesunder Mensch, sie lügen nicht, wenn sie das sagen. Auch dass die Magersüchtigen sich im Spiegel immer noch zu dick finden, geht vermutlich auf eine Veränderung im Gehirn zurück: Eine Studie der Universität Bochum hat kürzlich gezeigt, dass Patientinnen in genau der Region, die für die Verarbeitung von Körperbildern zuständig ist, viel weniger graue Zellen haben als gesunde junge Frauen. Aufgrund dieser veränderten Körperwahrnehmungen macht es gar keinen Sinn, der Patientin zu sagen: Jetzt guck doch mal in den Spiegel, du bist doch viel zu dünn. Weil sie etwas ganz anderes sehen. Und das müssen wir respektieren. Das ist meiner Meinung nach eine ganz wichtige, grundsätzliche Veränderung.

BRIGITTE: Wie reagieren die Patientinnen auf diesen neuen, partnerschaftlichen Umgang mit ihnen?

Prof. Michael Schulte-Markwort: Er ist für sie eine große Entlastung, sie müssen weniger verbergen, und sie müssen sich viel seltener verteidigen. Sie genießen die neue Fürsorglichkeit. Die größte Entlastung entsteht aber für die Mütter.

BRIGITTE: Warum für die Mütter?

Prof. Michael Schulte-Markwort: In vielen Köpfen hält sich bis heute: Schuld an einer Magersucht ist das komplizierte Verhältnis zur Mutter, weil diese zum Beispiel zu dominant ist. Von dieser Haltung haben wir uns komplett verabschiedet, schon in den letzten zehn Jahren, und die neuen Erkenntnisse bestärken uns weiter. Es ist für die Mütter unglaublich entlastend, nicht mehr verantwortlich gemacht zu werden. Sie müssen nicht mehr bei jedem Besuch in der Klinik damit rechnen, wieder zu hören, was sie alles falsch gemacht haben. Und sie dürfen Kontakt haben zu ihren Kindern, das haben viele Einrichtungen lange verboten. Heute nehmen wir die Mütter mit auf. Sie und auch die Väter sollen unsere Partnerinnen und Partner sein.

Wir setzen von Anfang an auf Psychotherapie.

BRIGITTE: Ist das überall so?

Prof. Michael Schulte-Markwort: Nein, leider nicht. Es gibt nach wie vor einzelne Kliniken, die noch Kontaktsperren verhängen. Und das finde ich ganz dramatisch.

BRIGITTE: Wenn die psychischen Probleme nicht die Ursache darstellen, bekommen Anorexie- Patientinnen heute weniger Psychotherapie als vor zehn Jahren?

Prof. Michael Schulte-Markwort: Das würde ich nicht so sagen. Wir setzen von Anfang an auf Psychotherapie. Die Mädchen sollen lernen, mit schwierigen Situationen umzugehen, ohne zu hungern. Aber das machen wir mit Verhaltenstherapie, das ist etwas ganz anderes als die Gesprächstherapie früher. An die speziellen Probleme der jungen Menschen gehen wir viel später ran, so etwa an die Frage, was sie vielleicht wirklich in ihrer Familie belastet und warum. Heute glaubt niemand mehr: Wenn sie dieses oder jenes Problem erst gelöst hat, wird sie schon essen. Allerdings gilt: Je schwerer die Anorexie, desto geringer der psychotherapeutische Ansatz. Manchmal geht es erst mal nur darum, einen Menschen vor dem Verhungern zu bewahren.

BRIGITTE: Welche Rolle spielt die Psyche nach dem heutigen Verständnis denn überhaupt noch bei der Entstehung von Magersucht?

Prof. Michael Schulte-Markwort: Seelische Krisen wie Konflikte mit den Eltern oder deren Trennung betrachten wir nur noch als potenzielle Auslöser. Damit sie ihre ungute Wirkung zeigen können, muss es eine erbliche Veranlagung für die beobachteten Veränderungen im Gehirn geben.

BRIGITTE: Und wie groß ist deren Einfluss?

Prof. Michael Schulte-Markwort: Das weiß man relativ genau, durch Studien an eineiigen Zwillingen, die getrennt voneinander aufwuchsen. Sie zeigen: Wenn ein Zwilling Magersucht bekommt, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass der andere zum selben Zeitpunkt ebenfalls erkrankt, bei etwa 70 Prozent. Bei zweieiigen sind es nur ungefähr 20. Diese 50 Prozent Differenz sind der genetische Anteil. Was diesen genau ausmacht, wo genau er festgeschrieben ist im Erbgut, wissen wir aber noch nicht.

Über lange Zeit zu wenig zu essen verändert das Gehirn.

BRIGITTE: Ebenso wenig weiß man bisher, was zuerst da war: das Hungern oder die Veränderung im Gehirn?

Prof. Michael Schulte-Markwort: Das stimmt, die Henne-oder-Ei-Frage ist bei all diesen Beobachtungen mit Hirn-Scans extrem schwierig zu klären. Das wird man noch lange nicht wissen.

BRIGITTE: Was halten Sie denn für wahrscheinlicher?

Prof. Michael Schulte-Markwort: Da wage ich keine Prognose... Nur in einem Punkt würde ich mich vielleicht vorwagen: bei den Veränderungen im Sättigungszentrum. Ich bin überzeugt davon, dass die Mädchen ein gesundes Sättigungszentrum haben, wenn sie anfangen zu hungern. Schon Zehnjährige essen gezügelt - weil sie glauben, man müsse schlank sein. In der 7. Klasse geht es meist richtig los. Über lange Zeit zu wenig zu essen verändert das Gehirn. Das ist ein schlimmer, folgenreicher Prozess. Ihn besser zu kennen, wird es in Zukunft leichter machen, gemeinsam mit den Patientinnen Wege aus der Magersucht zu finden.

Magersucht in Zahlen

Magersucht (Anorexie) trifft 0,5 bis 1 Prozent aller Menschen, in der Altersgruppe von 14 bis 18 Jahren kommt sie am häufigsten vor. Die Krankheit ist bei Mädchen und jungen Frauen eine der häufigsten Todesursachen, mindestens eine von zehn Betroffenen stirbt an ihrer Magersucht.

In den letzten Jahren hat sich die Altersgrenze immer weiter nach unten verschoben, nicht selten sind schon Mädchen im Grundschulalter betroffen, zunehmend auch Jungen. Für Angehörige ist die Krankheit schwer zu ertragen, weil es kaum etwas Bedrückenderes gibt, als einem jungen Menschen bei der Selbstzerstörung zusehen zu müssen.

Wie gehe ich mit jemandem um, der magersüchtig ist?

1. Konfrontieren Sie die Betroffene/den Betroffenen mit Ihren Beobachtungen ihres/ seines Essverhaltens. Beschreiben Sie das, was Sie sehen - versuchen Sie, es nicht zu bewerten.

2. Vermeiden Sie Gespräche über Essen und Körpergewicht.

3. Hören Sie auf, sich um das Essen bzw. Nicht-Essen zu streiten.

4. Essen Sie notfalls getrennt.

5. Betroffene dürfen nur für sich selbst kochen und backen. Andere mit Nahrung zu versorgen erhält die Krankheit aufrecht.

6. Hören Sie auf zu kontrollieren. Sie können es nicht.

7. Gehen Sie auf Extrawünsche wie "Für mich aber ohne Käse!" nicht ein.

8. Bestehen Sie auf einem Arztbesuch.

9. Machen Sie ganz klar, dass eine psychotherapeutische Behandlung notwendig ist.

10. Holen Sie sich selber Rat, zum Beispiel auf www.dick-und-duenn-berlin.de, www.lebenhat-gewicht.de, www.bzga-essstoerungen.de, www.hungrig-online.de. Vorsicht! Im Internet gibt es auch Foren, die Magersucht oder Essstörungen verherrlichen.

Interview: Diana Helfrich Foto: photocase Ein Artikel aus BRIGITTE 20/10

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