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Die neuen Grundsätze im Kampf gegen Schmerzen

Die neuen Grundsätze im Kampf gegen Schmerzen
© jayboo/photocase.com
Die fünf wichtigsten Regeln zum Thema Schmerzen - und warum sie noch immer zu wenig beachtet werden.

Wer Schmerzen aushält, lebt gefährlich

Ein Indianer kennt keinen Schmerz - und wer trotzdem klagt, ist wehleidig. Dachten wir lange. In Wirklichkeit ist es riskant, die Zähne zusammenzubeißen. Denn akute Schmerzreize haben die Funktion einer Feuerwehrsirene: "Alarm, hier muss ein Problem gelöst werden", lautet die Botschaft.

Passiert nichts, heult die Sirene immer lauter: Die Schmerzfühler schütten mehr Botenstoffe aus, Nervenzellen leiten ihre Reize verstärkt weiter, die Schmerzareale des Gehirns reagieren überaktiv, die körpereigene Schmerzhemmung ist überfordert - der Schmerz wird chronisch.

Irgendwann hat sich ein "Schmerzgedächtnis" ins Nervensystem eingebrannt. Es reagiert dann wie ein übereifriger Musterschüler und spult auch ohne Auslöser das ganze Programm ab. Deshalb müssen auch Alltagsbeschwerden wie ein brummender Schädel oder verspannter Nacken sofort behandelt werden - mit Medikamenten, Bewegung, Entspannung.

Bei stärkeren Schmerzen, etwa nach Operationen und Verletzungen, ist eine gute Schmerztherapie, die so früh wie möglich einsetzt, umso wichtiger. Denn der Kampf gegen die Entwicklung chronischer Schmerzen ist immer ein Wettlauf mit der Zeit.

Keine Angst vor Drogen

"So wenig wie nötig" - dieser Grundsatz ist im Umgang mit Schmerzmitteln zwar im Prinzip richtig. Doch leider wird, gerade bei starken Schmerzen, noch allzu oft ein "zu wenig" daraus. Das gilt insbesondere für den Umgang mit Opioiden oder Cannabis: Diese Substanzen haben ein schlechtes Image, weil sie auch als Rauschdrogen verwendet werden. "Viele Patienten haben Angst, süchtig zu werden und nur noch im Tran herumzulaufen", sagt Dr. Jan-Peter Jansen, Leiter des Schmerzzentrums Berlin. Eine unnötige Furcht, wenn die Mittel richtig eingesetzt werden.

Optimal wirken solche Schmerzmittel, wenn sie dem Schmerz nicht "hinterherlaufen". Die Dosis muss hoch genug und die Einnahme regelmäßig sein, bei starken Schmerzen am besten in Retardform, die den Wirkstoff langsam und gleichmäßig ins Blut abgibt.

Oft sind andere Therapien erst sinnvoll, wenn der Schmerz medikamentös unter Kontrolle ist. Krankengymnastik etwa kann vorher Beschwerden sogar verschlimmern. Aber die Medikamente sollen auch "Schmerzferien" bringen und damit all das ermöglichen, was im Schmerzalltag zu kurz kommt: Freunde treffen, schwimmen, Fahrrad fahren, Kultur genießen. "Das Motto lautet: zurück ins Leben", sagt Jan-Peter Jansen. Denn dann schöpft auch die Seele wieder Kraft im Kampf gegen den Schmerz.

Schmerz ist ein Wutschrei der Seele

Die Befunde mancher Schmerzpatienten füllen ganze Aktenordner - doch die Seele kommt darin oft zu kurz. "Viele Ärzte sehen den Schmerz zu einseitig als körperliches Symptom", kritisiert Dr. Dominik Irnich, Oberarzt der Schmerzambulanz der Münchner Universitätsklinik. Das kommt der Angst vieler Betroffener entgegen, dass ihre Schmerzen als "nur psychisch" abgetan werden könnten.

Unser Nervensystem aber kennt so eine Trennung von Körper und Seele nicht: Seelisches Leiden aktiviert dieselben Hirnareale wie körperlicher Schmerz. Das ist einer der Gründe dafür, dass Depressionen Schmerzen auslösen oder verstärken können. Noch häufiger ist es aber umgekehrt.

Diese Verbindung zwischen Schmerzen und Gefühlen ist bei Frauen besonders stark ausgeprägt, wie neue Studien zeigen. Weil Schmerzen von Männern eher technisch-analytisch wahrgenommen werden, sind sie auch schneller bereit, etwas dagegen zu unternehmen. Frauen hingegen reagieren verstärkt mit Ängsten und Sorgen auf die Schmerzsignale. Die Angst vor der Pein oder ihren Ursachen kann den Schmerz selbst dann wiederum empfindlich verstärken - ein fataler Teufelskreis.

Solche Wechselwirkungen zwischen Körper und Seele können unter anderem durch verhaltenstherapeutische Verfahren aufgegriffen und positiv beeinflusst werden. Auch Yoga, Meditation, autogenes Training und Achtsamkeitsübungen haben sich bewährt. Und jenseits der therapeutischen Methoden bremst alles den Schmerz aus, was unserer Seele guttut.

Über Schmerzen muss man reden

Schmerzen kann nur behandeln, wer von ihnen erfährt - doch in Praxen und Kliniken herrscht oft Sprachlosigkeit: Patientinnen leiden still, Ärzte fragen zu wenig nach. Doch nur wer sich gut informiert und aufgeklärt fühlt, ist gegen den Schmerz gerüstet. Schmerzpatientinnen und -patienten brauchen nicht zuletzt ganz konkretes Wissen: Wer vorgewarnt ist, erträgt Nebenwirkungen von Medikamenten besser, wem keine falschen Hoffnungen auf Schmerzfreiheit gemacht werden, der kann kleine Erfolge besser schätzen, und wer erfährt, wie er sich selber helfen kann, fühlt sich weniger ohnmächtig.

Das gilt auch für Partner, Kinder und Freunde der Betroffenen. "Sie müssen sehr geduldig sein und verstehen, was mit dem Patienten passiert", sagt Schmerztherapeut Dr. Jan-Peter Jansen. In seiner Sprechstunde sind Angehörige deshalb ebenso willkommen wie die Patienten selber - weil sie Stütze und Stärkung oft genauso nötig haben.

Das beste Rezept heißt Vielfalt

Chronische Schmerzen ergreifen den ganzen Menschen. Viele Ebenen des Körpers, aber auch das Denken, das Fühlen und soziale Beziehungen sind betroffen. Deshalb können Dauerschmerzen nur interdisziplinär behandelt werden: Fach- und Hausärzte, Schmerztherapeuten, Psychologen, Physiotherapeuten und Pflegekräfte müssen zusammenarbeiten - und ihre Patientinnen und Patienten dabei als Partner verstehen und behandeln.

Das klappt am besten in Schmerzzentren und schmerztherapeutischen Schwerpunktpraxen. Doch davon gibt es zu wenige: Die Deutsche Schmerzliga schätzt den Bedarf auf 3000, tatsächlich sind es 500, meist mit langen Wartezeiten.

Aber es gibt Lichtblicke: Immer häufiger treffen sich Ärzte verschiedener Fachrichtungen und Psychologen zu fachübergreifenden Schmerzkonferenzen, um Strategien für einzelne Patienten auszutüfteln, und immer mehr Kassen zahlen dafür. Und die Schmerzambulanz der Münchener Uniklinik arbeitet erfolgreich mit einem vierwöchigen naturheilkundlichen Programm, das schulmedizinische Schmerztherapie um Methoden wie Qi-Gong, Atem- und Kunsttherapie, Akupunktur und Selbstbehandlungen mit Akupressur oder Wickeln erweitert.

Text: Julia Baumgart Foto: jayboo/photocase.com Ein Artikel aus der BRIGITTE 11/09

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