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"Ich habe eine neue Form der Sexualität gefunden"

"Ich habe eine neue Form der Sexualität gefunden"
© Esther Haase
Eine Krebsdiagnose stellt das Leben auf den Kopf - und verändert auch die Sexualität. Uta Melle hat sich beide Brüste und Eierstöcke entfernen lassen und teilt ihre Erfahrungen mit Frauen, die sie um Rat fragen. Auch mit uns. Ein Protokoll.

Je stärker die Nebenwirkungen, desto besser schlägt die Chemotherapie an, heißt es. Das stimmt. Aber das bedeutet auch, dass einem währenddessen alles weh tut. Eine Chemo besteht aus sechs Infusionen. Viele denken: "Wenn ich drei hinter mir habe, ist Bergfest und danach ist es nicht mehr so schlimm." Doch erst mit der letzten Infusion ist Bergfest. Dann hat der Körper den höchsten Giftstand erreicht. Danach dauert es noch einmal so lange, bis alles draußen ist.

In diesen sechs Monaten haben mein Mann und ich uns in Sachen Sexualität ein ganzes Stück voneinander entfernt, obwohl wir zuvor ein aktives Sexleben hatten. Da kamen mehrere Faktoren zusammen: Die durch die Brust-OP entstandenen Schmerzen, die von der Chemotherapie ausgetrockneten Schleimhäute - da legt man sich nicht zueinander ins Bett und hat lustvollen Sex.

Meine Mutter bekam im gleichen Alter wie ich die gleiche Diagnose: Krebs in der linken Brust. Sieben Jahre später war ihre rechte Brust dran. Drei Tage nach meiner Krebsdiagnose ist sie gestorben. Ich habe zwei kleine Kinder. Deswegen hab ich mir nicht nur vorsorglich beide Brüste abnehmen, sondern auch die Eierstöcke entfernen lassen. Stoppt man die Hormonproduktion, sinkt das Risiko einer Neuerkrankung mit hormonell induziertem Krebs nachweislich.

Das Vertrauen in den eigenen Körper ist erschüttert

Das leitet allerdings auch die Wechseljahre ein - und führt zu typischen Beschwerden während dieser Zeit: Hitzewallungen, Stimmungsschwankungen, Erschöpfung. Hinzu kommt, dass das Sexleben in einer Partnerschaft nach 15 Jahren nicht mehr die primäre Rolle spielt. Die Beziehung an sich rückt mehr in den Vordergrund - und die Kinder. So war das auch bei uns.

Durch die Krebsdiagnose, die Konfrontation mit dem Tod, muss man ohnehin vieles verarbeiten. Das Vertrauen in den eigenen Körper ist erschüttert, weil er einen im Stich gelassen hat. Es ist doch ganz logisch, dass das den Sex beeinträchtigt und einschränkt. Trotzdem spukt einem im Hinterkopf herum, dass man seinen Partner eigentlich befriedigen möchte - das aber nicht kann, weil der Körper wehtut. Da kann man schlecht loslassen, und das gehört zum Sex nun mal dazu.

Leider trauen sich nur wenige Frauen, das zuzugeben. Sie setzen sich unheimlich unter Druck, weil sie "vollwertige Frauen" bleiben wollen. Und das sind sie ihrer Meinung nach, wenn sie gut im Bett sind. In solchen Zeiten hilft es, sich mit seinem Partner zusammenzusetzen und zu sagen: "Du, wir müssen vielleicht eine neue Form der Sexualität finden." Heißt: seltener und wenn, dann gut vorbereitet. Mit viel Zeit, noch mehr Gleitmittel und ohne Kinder im Hintergrund.

Natürlich vermisse ich meine Brüste manchmal, etwa wenn mein Mann mir über die Narben streicht. Aber es gibt so viele andere Möglichkeiten. Statt sich auf eine Schwäche zu konzentrieren, sollte man lieber auf seine Stärken schauen. Ich habe zum Beispiel das Glück, dass mein Mann Füße mag. Und die sind ja noch dran.

Nicht nur bei Frauen mit Brustkrebs leidet das Sexleben

"Ich habe eine neue Form der Sexualität gefunden"
© Esther Haase

Nicht nur bei Frauen mit Brustkrebs leidet das Sexleben - bei ihnen ist es bloß am offensichtlichsten. Alle Krebsarten bereiten Probleme. Meine Mutter, die zusätzlich noch Darmkrebs bekam, hatte zum Beispiel ein Jahr lang einen verbrannten Schritt von der Strahlentherapie. Da geht gar nichts mehr.

Durch mein Fotoprojekt "Amazonen" und mein "Oben Ohne"-Blog nehmen inzwischen viele krebskranke Frauen Kontakt zu mir auf. Sie rufen mich an und fragen die unterschiedlichsten Dinge: "Mein Brustimplantat schmerzt, wie ist es denn ohne? Ich habe gerade die Diagnose erhalten, was mache ich jetzt?" Meist kommt es zu einem langen Gespräch, in dem wir alle Seiten beleuchten. Irgendwann melden sie sich dann wieder und erzählen, wie es ihnen ergangen ist.

Sich mit anderen Betroffenen auszutauschen, kann sehr heilsam sein

Letztens hat sich eine Frau mit einer bezaubernden Nachricht bei mir gemeldet: "Ich soll Ihnen Danke sagen von meinem Mann, der jetzt endlich seine sexy Frau wiederhat." Sie hatte sich ihre Brustimplantate entfernen lassen, weil sie damit Dauerschmerzen hatte und dementsprechend wenig Lust auf Zweisamkeit. Nach der Amputation hatten sie wieder tollen Sex.

Sich mit anderen Betroffenen auszutauschen, kann sehr heilsam sein. Das habe ich beim "Amazonen"-Fotoshooting gemerkt. Obwohl sich die 19 Frauen überhaupt nicht kannten und sich eigentlich nur bedingt zeigen wollten, waren alle nach 30 Minuten nackt und ohne Perücke und haben ihre Narben verglichen. In dem Moment, wo man offen ist und seine Hemmungen über Bord wirft, ist alles nur noch halb so schlimm.

Ich habe das Gefühl, das Thema Sexualberatung für Krebspatientinnen kommt erst jetzt langsam voran. Ich habe damals vergeblich nach Beratungsstellen gesucht und mich letztlich auf mein Gefühl verlassen. Mein Mann und ich haben inzwischen auch ein Buch über unsere Erfahrungen geschrieben (der Verlag und das Veröffentlichungsdatum stehen noch nicht fest, Anm. d. Red.). Jeder aus seiner Sicht, das war mir wichtig, denn die Männer haben auch zu leiden und werden oft gar nicht gefragt.

Natürlich gehen auch viele Beziehungen nach einer Krebsdiagnose in die Brüche

Oft waren sie aber schon vorher nicht stabil. Mit solch einer Diagnose kann man nicht einfach mit dem gewohnten Alltag weitermachen. Irgendwann muss man aufwachen und akzeptieren, dass man sich als Paar neu definieren muss. Wir haben jetzt zum Beispiel getrennte Schlafzimmer, damit wir beide entspannt sein können. Ich schnarche wie eine Haubitze, mein Mann braucht seine Ruhe. Wir verabreden uns so auch viel besser. Manchmal muss man erst eine Distanz schaffen, um neu zueinanderzufinden.

aufgezeichnet von Nicole Wehr

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