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Demenz im Alter Der Umgang mit Betroffenen

Demenz im Alter: Blumen in den Händen eines älteren Menschen
© Ocskay Mark / Shutterstock
Es ist für viele eine große Angst: im Alter nicht mehr klar im Kopf zu sein. Eine Demenzforscherin und Altersmedizinerin über ihre eigenen Strategien zur Vorbeugung und die neue Art, mit Alzheimer-Betroffenen umzugehen.

BRIGITTE WOMAN:Frau Professor von Arnim, können wir selbst bestimmen, wie wir altern?

Christine von Arnim: Ich beginne mit der schlechten Nachricht: Wir wissen nicht, was eine Alzheimer-Demenz auslöst, eins der größten Schreckgespenster im Alter. Die Krankheit ist unheilbar, und trotz aller Forschung gibt es noch keinen Wirkstoff.

Einem Feind, den ich nicht kenne, kann ich nicht ausweichen.

Jein. Wir gehen in der Medizin davon aus, dass es zu zwei Dritteln Schicksal ist, ob man Demenz bekommt.

Was meint Schicksal?

Zuvorderst die Gene, es gibt Schutzgene und Risikogene, aber auch alles, was wir eben schlicht noch nicht wissen oder verstehen.

Und das letzte Drittel?

Das sind Risikofaktoren, die Demenzforscherinnen und -forscher weltweit in den vergangenen Jahren identifiziert haben. Und das ist jetzt die gute Nachricht: Risikofaktoren kann man angehen.

Konkret: Wir können in Teilen mitbestimmen, wie wir altern?

Wieder ein Jein. Vermeide ich das, was wir als Risiko identifiziert haben, bedeutet das nicht, dass ich eine fixe Zahl an gesunden Lebensjahren gewinne oder gar nie erkranke. Es ist wie beim Überqueren einer Straße: Ich kann auch dann von einem Auto überfahren werden, wenn ich genau nach links und rechts geschaut habe. In meinem klinischen Alltag erlebe ich viel Fassungslosigkeit. Meine Patientinnen und Patienten sagen beispielsweise: Ich habe mein Leben lang Sport gemacht, mich weitergebildet, und jetzt diagnostizieren Sie bei mir Alzheimer!

Was antworten Sie dann?

Dass Demenz eine Krankheit ist, deren Ursache noch unbekannt ist, und selbst wenn ich, Christine, alle bekannten und von mir beeinflussbaren Stellschrauben drehe, kann ich mein Gedächtnis verlieren. Das Vermeiden der Risikofaktoren schützt nicht individuell, aber kollektiv.

Das müssen Sie erklären.

Internationale Studien, etwa aus den USA, Schweden und den Niederlanden, machen Hoffnung. Sie zeigen, dass Demenz-Neuerkrankungen weniger werden, wenn eine Gesellschaft "gehirngesünder" lebt. Trotzdem kann eine Frau, die super gehirngesund lebt, erkranken, und eine andere, die darauf pfeift, nicht. Aber gerade weil wir vieles noch nicht verstehen, ist das der Angelpunkt, auf den man eben nicht pfeifen sollte. Anerkannte Altersexpertinnen und -experten schätzen, dass die Zahl an Demenzerkrankten weltweit um eine Million sinken könnte, wenn man die Risikofaktoren um zehn Prozent minimiert. Verlockend, oder?

Welche Stellschrauben müssten dafür gedreht werden?

Gift fürs Gehirn ist alles, was auch Herz-Kreislauf-Krankheiten auslöst, also Rauchen, Diabetes, Übergewicht, Bluthochdruck und körperliche Inaktivität. Das Genannte verursacht Gefäßschäden und beeinträchtigt die Signalwege des sogenannten Insulinrezeptors. Dieser Rezeptor ist mit dem Stoffwechsel und den Synapsen im Gehirn gekoppelt. Beim metabolischen Syndrom, also der Kombination aus Übergewicht, Bluthochdruck und erhöhten Blutzuckerwerten, kommt es zu Störungen der Mitochondrien, das sind die Kraftwerke der Zellen. Auch hier gehen wir von einer direkten Verbindung zu Nervenzellschäden aus, wobei vieles auch noch ungeklärt ist. Die Verbindung von Herz und Hirn ist aber gesichert und etwas, woran mein Team und ich intensiv forschen.

Werden Sie wütend, wenn jemand raucht?

Nein, nie. Wer bin ich, mir da ein Urteil anzumaßen? Rauchen ist eine Sucht, und Übergewicht kann sehr viele Gründe haben. Missionarisch bin ich aber schon, wenn auch nicht gegenüber der Raucherin auf dem Supermarktparkplatz. Meinen Patientinnen und Patienten aber empfehle ich sehr eindringlich einen aktiven Lebensstil. Der kann nämlich auch den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen.

Gibt es weitere Stellschrauben?

Soziale Isolation, Depressionen und Hörverluste erhöhen ebenfalls das Risiko, dement zu werden. Aktuelle Untersuchungen legen sogar einen Zusammenhang mit Entzündungen im Körper nahe, etwa bei Paradontitis. Es ist also keine gute Idee, sich bei psychischen Erkrankungen keine Hilfe zu suchen. Und wer feiert und Freunde trifft, tut was fürs Gehirn! Traumata und Seh- und Schlafstörungen haben wohl auch einen Negativeffekt – wobei da die Datenlage nicht so eindeutig ist wie bei anderen Risikofaktoren.

Was tun Sie selbst, um gesund zu altern?

Ich habe vier Kinder und einen fordernden Job, bin also glücklicherweise alles andere als sozial isoliert. Dann rauche ich nicht, habe ich nie, und ich gehe laufen.

Nehmen Sie Vitamin D?

Nein. Verschiedene Studien deuten zwar an, dass Vitamin D das Demenzrisiko senken könnte, doch als mein Team und ich das untersuchten, war der Effekt minimal. Geht es um gesundes Altern, ist Ernährung aber tatsächlich ein Faktor. Wir wissen aus vielen Studien, dass mediterrane Kost – viel Gemüse, Fisch, gute Fette und wenig rotes Fleisch – das Demenzrisiko senkt. Daraus wurde eine Ernährungstherapie im Fläschchen entwickelt, die ich wissenschaftlich begleitet habe. Bei den Probandinnen und Probanden mit leichter Demenz zeigten sich zwar tatsächlich Effekte, diese waren aber gering. Ausgehend von den genannten Ernährungsstudien hatten wir uns da deutlich mehr erhofft.

Wie erklären Sie sich das?

Vielleicht geht es um viel mehr. Das gemeinsame Am-Tisch-Sitzen, Miteinander-Sprechen und Genießen war ja nicht mit im Fläschchen. Vielleicht spielt das auch eine Rolle beim gesunden Altern. Aber da sind wir jetzt in einem absolut spekulativen Bereich. Was ich sicher sagen kann: Der menschliche Körper ist einfach irre komplex.

Haben Sie heute einen anderen Blick auf das Alter und Altern als in Ihren Berufsanfangsjahren?

Ich denke heute: Ein Top-Gedächtnis im Alter ist natürlich ein extrem hoher Wert, das steht außer Frage, es ist aber nicht allein ausschlaggebend für das, was man vielleicht Zufriedenheit nennen kann. Es ist eine Binse, aber ich erlebe es bei meinen Patienten: Es kommt auch auf das Miteinander an, wer ist um mich, um wen bin ich, und wie gehen wir miteinander um? Zu meiner Arbeit gehört es auch, Angehörige zu schulen, und beim Umgang mit Demenzerkrankten hat sich in den vergangenen Jahren wirklich viel getan. So halten wir Angehörige beispielsweise an, die Demenzkranke nicht zu verbessern, wenn sie etwas sagt, das offensichtlich nicht stimmt – bei schönstem Badewetter etwa: "Heute ist Winter." Man fragt besser: "Ist dir kalt?" Denn manchmal verbirgt sich hinter dem offensichtlich Falschen eine Botschaft. Vielleicht denkt sie auch an einen Wintertag aus ihrer Kindheit, sie sollte dann davon erzählen dürfen. Das Nichtverbessern bricht Scham-, Wut- und Genervtheitsgedanken auf, und zwar auf beiden Seiten. Außerdem glaube ich inzwischen nicht mehr an den roten Knopf.

Den roten Knopf?

Es gibt meiner Meinung nach nicht einzelne oder gar den einen Knopf, den man drücken muss, um bis ins hohe Alter gesund zu bleiben. Ich arbeite seit 20 Jahren als Demenz- und Altersforscherin, wir haben in dieser Zeit zwar manches erreicht …

... beispielsweise identifizierten Sie gemeinsam mit Forscherkolleg*innen Alzheimer-Biomarker, die verraten, wer eine Alzheimer-Demenz bekommen wird, Jahre bevor sich typische Symptome zeigen.

Wir wissen, dass sich Demenzerkrankungen über Jahrzehnte entwickeln, bei offensichtlichen Symptomen sind viele Nervenzellen bereits abgestorben. Konkret: Schon bevor sich typische Symptome zeigen, lagern sich zwei Eiweiße ab, Amyloid und Tau. Später verschwinden Synapsen, und Nervenzellen gehen unter. Doch obwohl wir wissen, dass eine Alzheimer-Demenz phasenweise voranschreitet und wir den Ablauf kennen, ist immer noch unklar, was Demenz auslöst. Ich vermute, dass es nicht eine Ursache gibt, sondern wir es wohl mit verschiedenen Ursachen zu tun haben. Vielleicht muss es auch mehrere Hits geben, damit ein Mensch erkrankt.

Was sind diese Hits?

Unterschiedliche Faktoren, die aufeinandertreffen. Gesundes Altern ist nicht unbedingt ein Altern frei von Gedächtnisstörungen, auch wenn Alzheimer für viele das Horrorszenario schlechthin ist – denn die Krankheit zerstört, was uns als Mensch definiert: unser Gedächtnis. Es meint ein möglichst geist- und körpergesundes Altern. Und das finde ich jetzt sehr spannend: Die Empfehlungen ähneln sich extrem. Was dem Gehirn guttut, senkt beispielsweise auch das Risiko für Schlaganfälle.

Sie nannten als Risikofaktor schlechten Schlaf. Ich habe zwei Kinder, vier und acht, und habe – wie wohl viele Mütter – über Jahre wenig geschlafen. Muss ich mir Sorgen machen?

Es wird momentan extrem viel zum Schlaf geforscht. Eine Hypothese ist, dass im Schlaf das Gehirn gereinigt wird; das Amyloid, das sich bei einer Alzheimer-Erkrankung ablagert, wird abtransportiert. Eine weitere Spur deutet ebenfalls darauf hin, dass man den Schlaf hoch achten sollte: Schon im Gehirn Jugendlicher fanden Forscher einzelne Tau-Ablagerungen, und zwar in dem Hirnbereich, der für Wachhaltung und Aufmerksamkeit zuständig ist.

Ablagerungen können sich bereits bei Jugendlichen bilden?

Ja, es ist aber unklar, wann und wie daraus Alzheimer wird – wenn es überhaupt passiert. Was ich aber schon denke: Wie wir als Baby, Kind, Jugendliche und junge Erwachsene leben, was wir erleben, beeinflusst, wie es uns später im Leben ergeht. Es sind keine Knopfdruck-Momente im Sinne von: Machst du x, kommt y raus. Studien zeigen aber, dass schon zwei aktive Lebensphasen das Demenzrisiko senken. Ob das auch für den Schlaf gilt, ob ein Schlafmangel in gewissen Lebensphasen – Feiern, Kinder, Schichtarbeit – zu einer anderen Zeit ausgeglichen werden kann, wissen wir noch nicht. Übrigens kann auch ein Zuviel an Schlaf das Demenzrisiko erhöhen.

Eine weitere Muss-ich-mir-Sorgen-machen-Frage: Ich bin mit 40 Jahren mitten in der sogenannten Rushhour des Lebens. Im Alltagswahnsinn aus einem fast vollen Job, den Kindern und gefühlt hundert Terminen täglich vergesse ich manches, mitunter spreche ich meinen Sohn mit dem Namen meiner Tochter an und umgekehrt.

Nach einem harten Nachtdienst weiß ich nicht mal mehr die Namen meiner Kinder! (lacht) Tatsächlich beeinflussen Stress und Schlafmangel das Gedächtnis akut, das deutet aber weder auf eine Demenz hin, noch ist es eine Vorstufe der Krankheit. Hellhörig sollten Sie werden, wenn Sie von anderen auf das Vergessen angesprochen werden und normale Alltagsroutinen nicht mehr rundlaufen, Sie im Hier-kaufe-ich-immer-Supermarkt den Müsli-Standort nicht mehr erinnern.

Mein Gedächtnis wird wieder besser, sobald ich nicht mehr für drei denken muss?

Was Sie beschreiben, ist ein Overload. Das Gehirn kann man sich wie ein Netzwerk vorstellen, mehr geht dann schlicht nicht. Also ja, sobald der Stress nachlässt, funktioniert das Gedächtnis im Normalfall besser.

Sie zögern.

Ja. Bestätigt ist dieser Effekt für kurze Phasen. Ich kann Ihnen aber nicht sagen, ob das, was wir die Rushhour des Lebens nennen, langfristige Auswirkungen hat. Frauen, zumal Mütter, haben vermutlich einen höheren Mental Load, schon heute erkranken mehr Frauen als Männer an Demenz. Auch dann, wenn man herausrechnet, dass Frauen älter werden. Vermutet wird, dass die Hormone einen Einfluss haben. Man muss auch untersuchen, welche Rolle ein typisch weiblicher Lebensstil spielt.

Die Forschung steckt aber in einer Sackgasse. Die beiden vielversprechendsten Studien mit einem Amyloid-Antikörper scheiterten. Vereinfacht ausgedrückt: Forscher*innen entfernten Alzheimer-Plaques, unauflösliche Ablagerungen zwischen den Nervenzellen, was teilweise gelang – die Krankheit aber weder aufhielt noch verlangsamte. Sind Sie entmutigt?

Klar wäre ich überglücklich, wären die Studien erfolgreich gewesen. Das wäre ein Durchbruch gewesen. Amyloid stand in den vergangenen Jahren schon sehr im Fokus.

Zu sehr?

Schwer zu sagen. Das Protein ist das Alzheimer-Erkennungsmerkmal schlechthin. Es zu ignorieren wäre ebenfalls falsch gewesen, und wir haben viel gelernt. Ich glaube nicht an die eine Ursache, es wird daher wohl mehr als einen Wirkstoff brauchen, und jetzt müssen wir eben auch andere Wege gehen, etwa den Schlaf genauer anschauen. Ich bin trotzdem zuversichtlich, dass Wirkstoffe gefunden werden. Eines Tages wird Demenz heilbar sein.

Haben Sie Angst vor dem Alter?

Nein. Ich tue das, was ich tun kann, mehr liegt nicht in meiner Hand.

Die Ärztin Prof. Christine von Arnim, 48, ist eine renommierte Demenz- und Altersforscherin und Inhaberin des neu geschaffenen Lehrstuhls für Geriatrie der Universitätsmedizin Göttingen.

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BRIGITTE WOMAN 05/2020

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