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Burn on Wenn der Burnout nahe ist

Burn on: Nahaufnahme einer gestressten Frau mit Brille, die den Kopf in den Händen hält
© Alliance Images / Shutterstock
Burn-out kennen wir: ausbrennen, zusammenklappen. Aber es gibt auch das Gefühl, mit letzter Kraft immer irgendwie weiterzubrennen, und auch das hat einen Namen: Burn-on. Wie schafft man es, die Flamme zu dimmen?

Wo ist eigentlich der Ausgang? Kann ich bitte raus aus meinem Leben, und zwar sofort? Dieser Gedanke schoss in meinen Kopf, blieb stehen wie eine Schranke und blockierte jedes weitere Denken. Wie kann ich flüchten. Unsichtbar werden. Mich geistig an einen weit entfernten Ort begeben und hoffen, dass keiner mich findet.

Die Krise hatte sich über Monate aufgetürmt. Ein Todesfall in der Familie, Beerdigung, Haushaltsauflösung, Diskussionen. Mein Sohn im Grundschulalter. Ein Partner, der mehr abwesend als unterstützend war. Mein Job. Der Berg an unerledigten Aufgaben wuchs. Ich wurde reizbar, Small Talk stresste mich. Wutgefühle überrollten mich, Wut auf mich, Wut auf die anderen, die mir vermeintlich Zeit stehlen wollen.

Konzentrationsstörungen schlichen sich ein. Ich vergaß Termine, musste Post-its an Türen und Schränke kleben, "wie eine alte Irre", dachte ich. Und: "Hoffentlich ruft niemand an." Sogar vor dem Mail-Postfach hatte ich Angst. Da könnte schließlich etwas drin sein, das sofortiges Handeln erforderte – und ich wäre unfähig.

Einfach weiter funktionieren

Natürlich dachte ich an ein Burn-out, auch weil meine Freundin Svenja kurz vorher einen Zusammenbruch gehabt hatte. Doch ich stand noch. Und hätte ich für ein Burn-out nicht auch körperliche Symptome haben müssen? Herzrasen, Bluthochdruck, Tinnitus oder Rückenschmerzen zum Beispiel. Mein Körper aber blieb robust. Manchmal wünschte ich mir fast, er würde endlich für mich die Reißleine ziehen. Dann würden alle sehen, dass es nicht mehr ginge, und ich wäre wirklich gezwungen, etwas zu ändern – oder erst einmal: einfach nichts zu tun. Aber so machte ich weiter, funktionierte.

Dieses Gefühl, immer kurz vorm Anschlag zu stehen, hat seit Kurzem einen Namen: Burn-on, also weiterbrennen statt ausbrennen. Namensgeber sind der Psychiater Professor Bert te Wildt und der Psychologe Timo Schiele von der Psychosomatischen Klinik im Kloster Dießen am Ammersee. In ihrem Buch beschreiben sie das bekannte Burn-out als die akute Form der Erschöpfungsdepression, das Burn-on-Syndrom dagegen als die chronische Variante, die bislang individuell und kollektiv im Verborgenen blieb.

Knapp zehn Prozent der Erwachsenen in Deutschland erkranken im Laufe eines Jahres an einer Form der Depression. Für Burn-on fehlen konkrete Zahlen noch. Doch nicht wenige werden sich in dieser Beschreibung wiederfinden können: "Im Burn-on zu sein bedeutet, permanent unter Spannung zwischen zwei Polen zu stehen. Das ist ein Zustand, den man mit einem Spagat über einem Abgrund vergleichen kann – ein bedauerlicher, ziemlich schmerzhafter und beängstigender Zustand."

Burn-on und Burn-out – wo ist der Unterschied?

Beim Burn-out stürzt man ab. Beim Burn-on bleibt man oben, doch mit unglaublichem Kraftaufwand. Te Wildt und Schiele beschreiben diesen Balanceakt zwischen einerseits verbissenem Optimismus, weil man so viel schafft, funktioniert und dafür Anerkennung erntet. Und andererseits matter Freudlosigkeit, weil so viel Energie für diesen Akt verbraucht wird. Vergleichbar mit einer Kunstturnerin, die endlos in der gleichen Position verharrt, bis irgendwann die Muskeln brennen.

Wer dieses Gefühl ignoriert, kann im Abgrund landen. So wie meine Freundin Svenja: Bei ihr war beruflicher Dauerstress der Auslöser und ein Vorgesetzter, der sie mit Aufgaben überhäufte, die nicht zu ihrem Arbeitsgebiet gehörten – bei gleichzeitiger Angst vor Jobverlust: "Abends habe ich mich gefühlt wie nach einem Marathonlauf. Herzklopfen bis unter die Schädeldecke, Atemnot, Schweißausbrüche und eine Gedankenspirale, aus der man nicht rauskommt. Wie ein Strudel, der dich unaufhaltsam nach unten zieht." Und dann irgendwann der Totalabsturz: "Ich war auf dem Weg zur Pediküre. Ein Termin, auf den ich mich eigentlich freute. Mitten auf der Straße bekam ich plötzlich einen Heulanfall und konnte nicht mehr aufhören." Ihr Hausarzt sicherte am Telefon zu, er würde sie sofort krankschreiben. Einige Wochen später kündigte sie ihren Job, um gesund zu werden.

Vielleicht half mir auch ihr Beispiel, um rechtzeitig die Kurve zu kriegen. Und eine Freundin, die zu einer Mutter-Kind-Kur riet. Schon der Gedanke an diese Auszeit nur für mich und den Jungen leuchtete plötzlich hell wie ein "Exit"-Schild, endlich ein Ausgang, endlich wieder eine Ahnung von Lebendigkeit, Vorfreude. "Dann funktioniere ich halt mal nicht", dachte ich.

Entschleunigung lernen

In der Kur fing ich sachte an, meinen Körper wahrzunehmen. In den Monaten zuvor hatte ich ihn wie einen alten verbeulten Rucksack mit mir rumgeschleppt. Yoga, Meditation – natürlich waren mir diese Dinge nicht fremd. Schließlich gehören sie heute zu einem modernen Lifestyle dazu; nachhaltig geholfen haben sie mir nicht. Bert te Wildt und Timo Schiele stellen in ihrer klinischen Praxis Ähnliches fest: Burn-on-Betroffene planen auch ihre Freizeit minutiös durch und organisieren das Privatleben so stramm wie einen Job. Entspannungsmethoden nutzen sie zwar, aber nur um wieder Kraft für die Arbeit zu sammeln und weiter rotieren zu können – und nicht, um wirklich abzuschalten oder gar bei sich selbst zu landen.

Nun stand in der Klinik mehrmals am Tag Sport auf dem Programm: Pilates, Faszien-Training, Beach-Workout, Power-Gym. Wie wunderbar, da waren ja Muskeln! Sie geben mir Kraft und sie können mich tragen: Das war ein durchschlagender Aha-Moment. Auch Signale des Körpers nahm ich verfeinerter wahr: Wut im Bauch, zugeschnürte Kehle, geschwollene Augen, ohne weinen zu können – all dies hatte ich ignoriert, nun gab ich diesen Symptomen Bedeutung, um herauszufinden, was mich belastet.

Es folgte die Trennung vom Partner und Vater des Kindes. Abgrenzung wurde mein Thema. Wer tut gut, wer raubt Energie? Langsam fand ich zurück zu mir, shoppte neue Kleider, entrümpelte das Haus, trug seit Jahren wieder Nagellack: ganz simple Dinge zur Verschönerung, deren stimmungsaufhellende Wirkung ich komplett vergessen hatte.

Burn-on sei auch eine Krankheit unserer Zeit, schreiben Te Wildt und Schiele. Erfolg im Job, eine glückliche Familie, ein ausgefülltes Sozialleben mit Freund:innen und Hobbys plus eine gepflegte digitale Identität – wir wollen alles schaffen und entfremden uns dabei immer weiter von unseren persönlichen Werten und Zielen.

Wie geht es den anderen?

Inzwischen frage ich mich, ob nicht alle irgendwie im Burn-on stecken. Spontan fällt mir nämlich niemand im arbeitsfähigen Alter ein, der völlig entspannt durchs Leben geht – zumindest nicht in Deutschland. Leistungsdruck und der Wunsch nach Anerkennung auf allen Ebenen scheinen tief in unserer Gesellschaft verankert zu sein. Diese unerreichbaren Ideale können tatsächlich krank machen.

Mein eigenes Burn-on ist eben mehr als nur mein individuelles Problem; das zu begreifen ist entlastend und schmerzhaft zugleich. Die Autoren schreiben, dass sie sich ein "Innehalten" wünschen – also eine kollektive Anerkennung der Notwendigkeit von Pausen. Sofort zu erreichen ist das nicht, aber wenn immer mehr Menschen es deutlich sichtbar für sich selbst umsetzen, springt der Funke vielleicht über und es lässt sich auf einen Ansteckungseffekt hoffen.

Im Therapieansatz der Burn-on-Experten spielt auch Achtsamkeit eine Rolle. Stimmt das Handeln mit den eigenen Werten überein? Welche Lebensbereiche sind wichtig und wie viel Zeit und Bedeutung werden ihnen eingeräumt? "Wer seine persönlichen Werte kennt und daraus stimmige Ziele ableiten und in sein Leben integrieren kann, der wird zufriedener, resistenter und kann fast automatisch besser mit Krisen umgehen", so die Autoren. Dazu gehöre auch die Fähigkeit zur Reflexion, um sich nicht von fremden Erwartungen steuern zu lassen, sondern das eigene Ich an die erste Position zu rücken.

Klingt simpel, aber in der konsequenten Umsetzung stolpere ich immer wieder. Was im Weg herumsteht: das Streben nach Perfektion und der gefühlte Erwartungsdruck von außen. Insofern dauert mein Burn-on an, aber ich schaffe es immer öfter, die Flamme zu dimmen. Ich darf mir auch selbst mal freigeben. Aufgaben und Anforderungen verschwinden zwar nicht, aber ich kann eine Haltung dazu entwickeln: Ist das wirklich wichtig? Kann ich das Tempo selbst bestimmen? Ich übe das Neinsagen. Zu Dingen, Menschen, Ablenkungen. Es kostet Überwindung, doch dafür kommt mehr Ich in mein Leben. Ich will es gern hereinlassen.

Zum Weiterlesen:

Bert te Wildt und Timo Schiele, "Burn On. Immer kurz vorm Burn Out. Das unerkannte Leiden und was dagegen hilft" (Droemer, 295 S., 20 Euro)

Monika Dittombée freute sich sehr, dass sie nicht wie sonst einen festen Abgabetermin für diesen Text hatte – sondern nur den Auftrag, ihn ganz entspannt fertigzustellen.

Brigitte

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