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Autorin erzählt: "Wer Diabetes hat, braucht eiserne Disziplin"

Diabetes
© Shutterstock/ Syda Productions
Ein paar Bluttests, und plötzlich ist die Diagnose da: Diabetes Typ 2. Und jetzt? BRIGITTE WOMAN-Autorin Sylvia Heinlein über Angst, Aufbruchstimmung und einen ganz neuen Umgang mit sich und ihrem Körper.

Natürlich mag ich es sinnlich! Grundsätzlich. Liebe, Freundschaft, jede Art von Abenteuer – und Essen; das alles sind Din­ge, die mir wichtig sind. Mein Motto: Hingabe und Überschwang. Das Leben sei ein fideles Fest der lecke­ren Häppchen, der Lümmelei in weichen Sofa­kissen, und ein Löffelchen voll Zucker versüßt grundsätzlich jede bittere Medizin. Es ist so ein­fach. Eigentlich. Doch irgendwann merke ich: Etwas hat sich ganz langsam verändert. Selbst Pralinen helfen nicht mehr, ich kann mich nicht mehr im Genuss verlieren, denn es geht mir nicht gut. Ich hadere mehr denn je mit meinem Über­gewicht, verfluche meine Trägheit, meine Abende vor dem Fernseher, meine Unfähigkeit, diszipli­niert zu arbeiten. Ich bin unzufrieden mit mir, habe aber keine Energie, etwas zu verändern.

"Und plötzlich bin ich im Club"

Es wird schlimmer. Ich fühle mich traurig, ener­gielos, krank, ohne zu wissen, warum. Nach dem Frühstück falle ich todmüde wieder ins Bett, länger als eine halbe Stunde am Stück kann ich mich nicht konzentrieren. Als ich es gar nicht mehr an den Schreibtisch schaffe, schleppe ich mich zur Hausärztin. "Die Wechseljahre", meint sie, "und etwas depressiv sind Sie, nicht wahr?" Mir scheint das logisch, die Trauer um meinen verstorbenen Mann beschäftigt mich immer noch. Es gibt trotzdem einen großen Bluttest, und danach bin ich im Club. In einem der größten überhaupt. Wie über sechs Millionen anderer Deutscher bin ich "zuckerkrank". Ich habe Diabetes Typ 2, eine komplexe Stoffwechselkrankheit. Umgangs­ sprachlich: "Alterszucker". Er trifft vorrangig Menschen über 50, die Zahl der Betroffenen steigt stetig. Diabetes Typ 1 dagegen ist eine Autoimmunkrankheit, sie tritt oft schon in sehr jungen Jahren auf.

Was beide Typen eint: Das Blut der Patienten ist gefährlich überzuckert. Normalerweise ist Zucker im Blut nichts Falsches. Wenn er es denn bis in die Körperzellen schafft. Dort wird er verbrannt und in Energie umgewan­delt. Damit das klappt, braucht der Zucker Insulin. Das wird in der Bauchspeicheldrüse produziert und schließt die Tür zur Zelle auf. Bei Diabetes­-Typ­-2-­Patienten kommen meist zwei Probleme zusammen: Es wird zu wenig Insulin produziert, und die Körperzellen sprechen schlechter auf das Hormon an. Der Zucker bleibt also im Blut, und das ist schlecht, sehr schlecht. Denn er kann sich überall im Körper ablagern. Wird Diabetes nicht behandelt, sind die Folgen dramatisch: Durchblutungsstörungen, geschädigte Nerven und Gefäße, verengte Arterien, das Risiko für Schlaganfall, Herzinfarkt, Nierenleiden, Nervenstörungen und Erblindung steigt immens.

"Ich hatte es mir bequem gemacht"

Die Zahl der Diabetes-Patienten wächst rasant, in Deutschland und weltweit. Die Dunkelziffer jener, die gefährdet sind oder bereits krank, ohne es zu wissen, ist enorm. Diabetes Typ 2 entsteht schleichend, und die Symptome sind unspektakulär: Müdigkeit, Konzentrationsprobleme, im akuten Fall meist verbunden mit starkem Durst, häufigem Wasserlassen, juckender Haut. Oft schlummert Diabetes jahrelang und wird dann plötzlich ausgelöst durch Stress. Die Gründe der Krankheit sind simpel: erbliche Veranlagung, Übergewicht, mangelnde Bewegung.

"Na ja", meint meine Hausärztin leicht tadelnd. "ist schon auch hausgemacht bei Ihnen. So ein bisschen undiszipliniert sind Sie ja..." Ich fühle mich auf der Stelle schuldig. Die Pommes meines Lebens türmen sich unter Mayonnaisebergen vor mir auf, der abendliche Wein, die Pasta in Käse- Sahne-Soße, die ich mit Weißbrot auftunkte. Die Sandwiches mit Remoulade, die süßen Teilchen vom Bäcker, der Milchkaffee mit viel, viel Zucker. Und natürlich: all die Jahre, in denen ich keinen Sport getrieben habe, einfach weil ich keinen Spaß dran hatte. Ich hatte es mir bequem gemacht und in einem gesellschaftlich akzeptierten Rahmen gegessen, genossen, gelebt.

"Dick, doof, Diabetes. Eine gängige Formel."

"Um den Kampf zwischen Körper und Geist wissen wir seit 3000 Jahren", sagt Dr. Alexander Risse vom Diabeteszentrum am Klinikum Dortmund. Er ist einer der führenden Experten, die nichts von Vorwürfen halten. "Wir können die Menschen nicht zwingen, ihre Triebe zu unterdrücken und den Körper zu disziplinieren. Das Angebot an Essen wird größer, wir werden alle immer älter und bewegen uns weniger." Die Auslöser von Diabetes seien nun mal da und es falle ihm auf den Wecker, dass wir so tun, als ob das zu ändern wäre. "Dick, doof, Diabetes. Das ist so eine gängige Formel. Dabei haben wir uns auf einen bestimmten Lebensstil geeinigt. Diabetes Typ 2 ist eine Volkskrankheit und zudem genetisch bedingt – das hat mit moralischem Versagen des Einzelnen nichts zu tun."

Mich erleichtert das zumindest etwas, das Grauen sitzt trotzdem neben mir auf dem Sofa und raunt mir hässliche Informationen ins Ohr: 75 Prozent aller Diabetes-Patienten sterben verfrüht an Schlaganfall oder Herzinfarkt. Alterszucker ist der stärkste Risikofaktor für einen Schlaganfall überhaupt. Erhöhter Blutdruck (jawohl, den habe ich auch) steigert die Gefährdung noch erheblich. "So schnell sterben Sie nicht", sagt der Facharzt, an den ich gerate. "Nehmen Sie Ihre Tabletten und ändern Sie Ihren Lebensstil. Bauen Sie Muskeln auf, bewegen Sie sich. Dann nehmen die Körperzellen das Insulin besser auf. Und reduzieren Sie Ihr Gewicht. Körperfett mindert die Insulinwirkung deutlich. Also: kein Fett mehr essen. Keine Kohlenhydrate. Kein Zucker, sechs Teelöffel täglich, das ist die Grenze."

Ich atme kurz auf. Sechs Teelöffel! Das ist viel. "Sechs ist wenig", erklärt der Arzt. "Zucker steckt überall drin. Informieren Sie sich." Ich informiere mich und stoppe quasi die Nahrungsaufnahme. Zugesetzter Zucker verbirgt sich in Müsli, Feinkostsalaten und Fertiggerichten aller Art. Dann noch der Zucker, der von Natur aus in den Lebensmitteln ist, einschließlich Milchzucker in Milch und Joghurt sowie Fruchtzucker in Obst und in Gemüse. Und das ist noch nicht das ganze Problem: Weißbrot, Pasta, Reis – alles voller Kohlenhydrate, die bestehen aus Stärke, und Stärke ist Zucker, selbst wenn man ihn nicht schmeckt. Und sogar Vollkornprodukte sind voll davon, auch wenn der Zucker hieraus durch die vielen Ballaststoffe nur langsam freigesetzt wird.

"Ich beginne, panisch alles richtig zu machen"

Ich nehme die Postkarte "Fette Torte makes you very happy" vom Kühlschrank. Ich walke täglich stramm eine halbe Stunde um den Block. Ich mache jeden Morgen hundert Sit-ups, denn das Fett, das unter der Muskelschicht im Bauch liegt, ist besonders gefährlich. Es produziert jede Menge gesundheitsschädlicher Hormone und schleust Fette in die Leber, die dann ihre Aufgaben für den Stoffwechsel nicht mehr erledigen kann. Ich ernähre mich von malzfreiem Schwarzbrot, Nüssen, Bohnen, Erbsen, Linsen, denn diese Lebensmittel sind reich an Ballaststoffen. Ich irre durch den Supermarkt und lese die Nährwertangaben auf jeder Packung. An der Kasse bezahle ich: eine Dose Oliven. Einen Salat. Fettarme Milch, mageren Schinken. 

Es ist alles sehr unlustig, und ich suche im Internet nach Blogs von Diabetes-Typ-2-Patienten, die bewusst und dennoch entspannt mit ihrer Krankheit umgehen. Es gibt keine. Stattdessen finde ich grundseriöse Ratgeberseiten, auf denen pummelige Senioren fröhlich Leibesübungen machen und begeistert in Äpfel beißen. "Irgendwann", lese ich in einem der Diabetes-Bücher, die sich bei mir stapeln, "haben Sie die alten Gewohnheiten vergessen, lieben Obst und Gemüse und können ohne den abendlichen Spaziergang kaum noch einschlafen." – "Lüge!", rufe ich beim Walken in den Regen.

"Ich nehme binnen weniger Monate sieben Kilo ab"

Ich lerne Disziplin und kämpfe jeden Tag. "Sie machen das gut", sagt die Hamburger Diabetes-Beraterin Michaela Schlobohm. Regelmäßige Ernährungsberatung gehört zum Standardangebot für Zuckerkranke. Schlobohm ist eine Art Diabetes-Motivationscoach und versucht täglich, ihre Klienten zu überzeugen. "Aber wenn ich Ihnen sage, dass es gut wäre, wenn sie gesünder essen und sich mehr bewegen würden, hören viele: 'Sie essen falsch und sind faul.'

Und dahinter spüren sie die eigentliche Frage: 'Warum esse ich so viel? Was befriedigt mich daran?' Das ist der Punkt, an dem man sich intensiv mit sich selbst auseinandersetzen müsste – da reagieren etliche ablehnend. Sie möchten Diabetes als eine Krankheit nehmen, die nur mit Tabletten zu behandeln ist." Wie viele Experten wünscht Schlobohm sich den Diabetes Typ 2 präsenter in den Medien und Vorbilder, die offen darüber spre­chen. Sie kennt mehrere zuckerkranke Promi­nente, aber die Krankheit hat ein uncooles Image, und niemand outet sich.

Mein Körper ist schockiert ob meiner neuen Le­bensweise. Ich nehme binnen weniger Monate sieben Kilo ab. Meine Zuckerwerte kommen lang­sam ins Lot. Ich fühle mich gesund, leistungsfähig, energiegeladen. Es hat auch mit den Tabletten zu tun. Ich hasse Tabletten, darauf angewiesen zu sein, habe ich immer als Zeichen von Schwäche empfunden. Aber auch das habe ich nun verstanden: Selbst wenn ich ein noch so gesundes Leben führe, ohne Medika­mente schafft mein Körper es nicht mehr. Es gibt viele Tabletten zur Wahl für den Einstiegspatien­ten. Erst wenn sie – meist nach Jahren – nicht mehr wirken, wird die Insulinspritze eingesetzt. Und immer gilt: Je mehr Körpergewicht und je weniger Sport, desto mehr Medikamente sind nötig.

"Wer Diabetes hat, braucht Disziplin"

Nach einigen Monaten entspanne ich mich. Ein wenig. Ich esse Ku­chen, einmal in der Woche, auch wenn ich danach müde werde, weil mein Blutzu­cker schnell ansteigt. Ich knabbere Nüsse (gesunde Fette) statt Chips, gestatte mir Bier (und verlänge­re es mit zuckerfreier Limonade), esse Ziegenkäse (wenige und „gute“ Fettsäuren) statt Gouda.
An der Tankstelle stehe ich in der Schlange, neben der Kühltruhe. Da liegt es, mein kleines, süßes, sahniges Lieblingseis, und lacht und will zu mir. Es ist Sonntag. Sonntags darf ich schlimme Dinge tun, sonst halte ich das mit der Disziplin nicht durch. Ich sehe auf das Eis. Will ich, will ich, will ich es haben? Ich will nicht. Zum ersten Mal in meinem Leben unterliegt es: das Willenlose, Überschwängliche, Gedankenlose, all das, was Essen für mich immer ausgemacht hat.

Ich hätte gern einen anderen Text geschrieben. Einen da­ rüber, wie man trotz Diabetes trickreich weiter­ machen kann mit seinem alten Leben. Aber das kann man nicht. Wer Diabetes hat, braucht Dis­ziplin – und wer weiß, dass er erblich belastet ist und gesund alt werden will, auch. Jetzt ist es kurz vor Mitternacht. Ich habe mich nicht bewegt heute. Also werde ich gleich noch eine halbe Stun­de stramm durch die nasse Nacht marschieren. "Langweilig!", werde ich hin und wieder mur­meln. "Boah, ist das langweilig!"

Täglich auf meine Gesundheit zu achten ist defi­nitiv nicht der größte Spaß, den ich in meinem Leben hatte. Aber die Folgen sind wunderbar. Ich habe abgenommen, spüre meine Muskeln und sehe mich wieder gern im Spiegel an. Und das Allerbeste: Ich habe eine Chance auf ein süßes langes Leben.

Wie gefährdet bin ich?

Diabetes Typ 2 ist vererbbar. Gerade wenn eure Eltern an Diabetes leiden oder litten, solltet ihr bei diesen Anzeichen sehr aufmerksam werden, außerdem bei Übergewicht. Aber auch für Unvorbelastete ist jedes einzelne Anzeichen ein Grund, einen Blutzuckertest beim Arzt zu machen.

  • Durstgefühl und häufiges Wasserlassen: Wer einen unbehandelten Diabetes hat, muss auffällig oft auf die Toilette und hat bedeutend mehr Durst als gewöhnlich. Denn der Körper versucht, den überschüssigen Zucker im Blut über den Urin auszuscheiden.
  • Müdigkeit und Konzentrationsschwäche: Wenn der Blutzucker nicht mehr in die Zellen gelangt, kann er nicht in die Energie umgewandelt werden, die der Körper braucht. Vor allem das Gehirn leidet unter dem Mangel.
    Trockene oder juckende Haut: Ungewohnt spröde Haut und Juckreiz – gerade im Intimbereich – wird oft den Wechseljahren zugerechnet. Beides kann aber auch entstehen, wenn der Körper verstärkt Zucker über den Urin ausscheidet und dabei Flüssigkeit verliert.
  • Sehschwäche: Zucker im Blut schädigt vor allem die feinsten Arterien. Wenn die Netzhaut des Auges nicht mehr gut durchblutet ist, kann das zu verschwommenem Sehen führen, welches häufig mit Alterssehschwäche verwechselt wird.
  • Geringe Abwehrkräfte: Diabetes Typ 2 kann das Immunsystem schwächen. Häufige Anzeichen: wiederholte Harnwegs- und Hautinfektionen, schlecht heilende Wunden.
  • Sylvia Heinleins Buchtipp: "Diabetes Typ 2 – Wie Sie gezielt gegensteuern" von Dr. Ellen Jahn. Dieses Buch ist zwar schon über zwei Jahre alt, aber ein informativer Mutmacher für Einsteiger: übersichtlich, sehr angenehm zu lesen, klare Antworten auf alle Fragen, Experteninterviews und motivierende Tipps für einen besseren Lebensstil (19,90 Euro, Stiftung Warentest).
BRIGITTE Woman 05/17

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